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Die Toten von St. Martin

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Die Schüsse von St. Martin im Gsiesertal haben Südtirol jäh aus seiner sommerlichen Ruhe geschreckt. Opfer dieses heimtückischen Feuerüberfalls sind zwei junge italienische Finanzsoldaten, Salvatore Cabitta und Giuseppe d’Ignoti.

78 Schüsse aus zwei Maschinenpistolen angeblich deutscher Herkunft haben die Bevölkerung schmerzlich daran erinnert, daß man aus dem Teufelskreis des Terrorismus, in den das Land zwischen Etsch und Eisack seit einigen Jahren verstrickt ist, noch nicht herausgekommen ist.

Der Südtirolterrorismus sucht sich seine Opfer auf eine sehr tragische Weise aus: Salvatore Cabitta zum Beispiel entstammte einer armen sardischen Bauernfamilie. Als

„Staatsbeamter“, der in den von den freilich schon zurückgehenden Wellen des italienischen Wirtschaftswunders noch nicht bespülten Gegenden Sardiniens noch immer ein hohes Ansehen genießt, mußte der junge Finanzer mit seinen Eltern die Last seiner elfköpflgen Familie tragen. Vor etwa einem halben Jahr ließ er sich freiwillig von Bozen nach St. Martin im Gsiesertal versetzen. Der Grund: in dem kleinen abgelegenen Bergdorf in einem Seitental des Pustertales hoffte er weit weniger Geld auszugeben als in Eozen.

Die Mörder sind wieder ins Dunkel untergetaucht, aus dem sie gekommen waren.

Daß die österreichische'Polizei beziehungsweise der Grenzschutz unmittelbar nach dem Eintreffen der

Hiobsbotschaft nicht zögerte, sofort alle Maßnahmen zu ergreifen, um eine Verfolgung und Aufspürung der Attentäter auch auf Tiroler Boden zu ermöglichen, wurde anfangs von einem großen Teil der italienischen Presse gewürdigt. Kurze Zeit später überwogen jedoch wieder die kritischen Kommentare.

Besser als Österreich und Deutschland kommen diesmal die Südtiroler weg. Die einmütige Verurteilung dieses kaltblütig vorbereiteten Mordes durch die Südtiroler Landesregierung, durch die SVP und durch die gesamte Öffentlichkeit haben ihre Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Allgemein wurde hervorgehoben, daß die Landesregierung erstmals die Bevölkerung zur aktiven Mitarbeit bei der Aufklärung des Mordes aufgefordert hat. Die Haltung der Einwohner von St. Martin im Gsiesertal hat darüber hinaus bewiesen, daß echt« Menschlichkeit über alle sprachlichen und volkstumsmäßigen Verschiedenheiten triumphiert.

Warum haben die Attentäter wieder jäh zugeschlagen? Der Anlaf lag auf der Hand: Die Südtirolfrage ist in den letzten Wochen in eine entscheidende Phase getreten. Naci einem ersten Kontaktgespräch zwischen dem italienischen Außenminister Fanfani und seinem neuer österreichischen Kollegen Toncic anfangs Mai in Straßburg fanden Ende Mai in London, anfangs Juli in Montreux bei Genf und Ende Juli wiederum in London italienischösterreichische Expertengespräche über Südtirol statt. Auf österreichischer Seite verhandelten der Kabinettchef des Ministers. Gesandter Kirchschläger, und der Tiroler Landesamtsdirektor Ka- threin, auf italienischer Seite Botschafter Toscanound Gesandter Gajavon der Farnesina. Die Verhandlungsserie soll laut Informationen aus zuverlässigen Kreisen in der ersten Augustwoche vorderhand abgeschlossen werden. Anfangs September soll dann ein Treffen der beiden Außenminister auf neutralem Boden — man spricht von Genf — die Conclusio bringen, zu der dann die Südtiroler bindend Stellung nehmen müssen.

Das neue „Paket“, das heißt die Summe der italienischen Zugeständnisse, enthält den bisherigen Informationen zufolge zweifellos einige gewichtige Verbesserungen sowohl gegenüber den Ergebnissen der sogenannten „Neunzehner-Kommission“, die auf innerstaatlicher Ebene operierte, als auch gegenüber den Konzessionen, die der heutige Staatspräsident Italiens, Saragat, seinem damaligen österreichischen Außenministerkollegen Kreisky zuzugestehen bereit war. Vor allem auf dem Gebiete der Industrie und in etwas verminderter Form auch auf dem Sektor des Kreditwesens werden nun bedeutende Zugeständ-

nisse angeboten. Die Übertragung der Zuständigkeit hinsichtlich der Arbeitsvermittlung und der öffentlichen Ordnung an die Provinz wird hingegen von Italien nach wie vor abgelehnt. In einigen Fragen geringerer Bedeutung hat man im Vergleich zu früher gewisse Fortschritte erzielen können, die durch Rückschritte bei anderen offenen Fragen ungefähr ausgeglichen werden.

Wenn die Südtiroler Volkspartei zögert, dem Ergebnis der bisherigen Verhandlungen trotz der erwähnten Fortschritte ihre Zustimmung zu geben, so deshalb, weil in einem entscheidenden Punkt ein Rückschritt zu verzeichnen ist. Italien ist nicht mehr bereit, die Regelung des Konfliktes international zu verankern. Weiter will man sich nicht mehr auf einen Termin bezüglich der Durchführung der Ergebnisse der Besprechungen festlegen lassen.

Rom hat also gegenüber dem Pariser Paket zwischen Kreisky und Saragat in zwei wesentlichen Punkten deutlich zurückgesteckt. Stati der internationalen Verankerung bietet Italien nun eine Art Schiedskommission aus vier Agenten (zwei Italiener und zwei Österreicher) und falls diese bei einer alljährlich stattzuflndenden Sitzung sich über die offenen Fragen und Meinungsverschiedenheiten nicht einigen können, die Befassung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag an.

Die Meinungen innerhalb der Südtiroler Volkspartei über den gegenwärtigen Stand der bilateralen Expertengespräche gehen auseinander. Zum Teil plädiert man im Falle, daß beim geplanten Außenministertreffen im September noch einige Verbesserungen erzielt werden, für eine „vorsichtige“ Annahme des Verhandlungspaketes, zum Teil für eine ebenso vorsichtige Ablehnung, bei der vermieden werden müsse, daß Italien Österreich und vor allem den Südtirolern den „Schwarzen Peter“ zuschieben kann. Mit dem mageren Ersatz für die internationale Verankerung, die eigentlich nicht einmal ein Ersatz genannt werden kann, sind jedoch fast alle- führenden Politiker der SVP tief unzufrieden. Nach den schlechten Erfahrungen, die man durch jetzt genau 20 Jahre mit dem im September 1946 in Paris abgeschlossenen Vertrag zwischen Degasperi-Gruber gemacht hat, ist schwerlich anzunehmen, daß Südtirol auf den Rettungsanker einer internationalen Schiedskommission verzichten wird.

Die endgültige Entscheidung darüber, ob die SVP zu dem österreichisch-italienischen , Verhandlungsergebnis über Südtirol ja oder nein sagt, wird erst nach dem geplanten Außenministertreffen fallen. Man will sich nicht vorzeitig und voreilig binden. Die „Stunde der Wahrheit“ wird so oder so schwer genug werden.

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