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Die Tragödie der Extreme

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In einem kleinen Gasthaus in der Nähe von Prag wurde im Jahre 1878 der erste sozialistische Verein tschechischer Arbeiter gegründet. Aus dem kleinen Verein entwickelte sich bald eine mächtige Partei, der im Verlauf der Jahrzehnte Hunderttausende und Millionen von Tschechen ihre Stimme gaben, in der Hoffnung, daß ihre Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit dadurch verwirklicht würden. Am 24. Juni 1948, fast genau sieben Jahrzehnte nach der Gründung des ersten Arbeitervereines, ist dieses machtvolle Instrument der Politik durch einen Entschluß der eigenen Parteileitung ausgeschaltet worden, indem sie den bereits im April geäußerten Plan der Fusion mit der Kommunistischen Partei an diesem Tag verwirklichte.

Wohl gleicht dieser Vorgang in vielem dem Sterben der sozialistischen Parteien in all den Ländern, die sich in einer politischen Lage befinden, ähnlich der der Tschechoslowakei. Nach den Februarereignissen, die die unbestrittene Herrschaft im Staat den Kommunisten sicherten, war dieser Vorgang scheinbar nicht mehr aufzuhalten. Dieser Tod ist aber nur das konsequente Ende einer Tragödie, die das Leben einer scheinbar mächtigen Partei von Anfang an erschütterte und sie von Katastrophe zu Katastrophe trieb.

Die ausgezeichnete Propaganda der tschechischen Sozialdemokraten verstand es, nicht nur die Massen der Arbeiter zu gewinnen, sondern auch viele schlecht bezahlte Angestellte und Beamte, die berechtigte Forderungen an die Gesellschaft hatten. Mit ihnen kam ein Element in die tschechische Sozialdemokratie, das für deren weitere Entwicklung ausschlaggebende Bedeutung erlangen sollte. Sosehr die Angehörigen dieser Berufe von wirtschaftlichen Sorgen erfüllt waren, so viele Forderungen ihnen das Leben schuldig geblieben war, in einem unterschieden sie sich radikal von vielen Arbeitern, mit denen sie in der Partei zusammensaßen: ihr Denken hatte ein starkes Gefühl für die Schicksalsgemeinschaft der Nation bewahrt, das sie immer wieder trieb, gegen die Enge der Klassenkampftheorie sich aufzulehnen.

Schon beim ersten Parteitag im Jahre 1890 kam es zu Meinungsverschiedenheiten, da ein starker Flügel die Erklärung ablehnte, daß die Menschheit nur aus Ausbeutern und Unterdrückten bestehe und den Fragen der Nation desha’b weniger Bedeutung zukomme. Der Bruch wurde dadurch vermieden, daß die Debatte auf den im nächsten Jahre stattfindenden Gesamtparteitag der österreichischen Sozialdemokratie verschoben wurde.

Auf diesem Gesamtparteitag kam es zur ersten großen Krise. Einige tschechische Sozialisten verlangten die Abänderung des im Jahre 1888 beschlossenen Hainfelder Programms in der Weise, daß der Internationalismus fortan nur auf wirtschaftlichem Gebiet gelten solle, während die nationalen Wünsche der einzelnen Volksstämme weitestgehend berücksichtigt werden müßten. Wörtlich sagte der Tscheche Vivra: „Jeder Sozialdemokrat muß als Glied einer Nation auch die Pflichten seiner Nation gegenüber erfüllen.” Als dieser Antrag abgelehnt wurde, verließen vier tschechische Sozialisten die Versammlung. Wohl führte dieses Ereignis noch nicht zur Spaltung, aber die Glut der nationalen Opposition schwelte weiter. 1897 kam es zum endgültigen Bruch. In diesem Jahre waren dank der Einführung der fünften allgemeinen Kurie vierzehn sozialdemokratische Abgeordnete, darunter auch Tschechen, in den Reichsrat gelangt. Als in der ersten Sitzung des neuen Parlaments die Jungtschechen die sogenannte staatsrechtliche Deklaration abgaben — die Erklärung, durch den Eintritt in den Reichsrat nicht auf die Verwirklichung des eigenen böhmischen Staates zu verzichten —, wandten die tschechischen Sozialdemokraten ein, daß sie, getreu ihrer Doktrin, ein eigenes Staatsrecht ablehnen. Im Reichsrat selbst antworteten laute Protestrufe der nationalen Tschechen. Als die antistaatsrechtliche Demonstration in den böhmischen Ländern bekannt wurde, gab es dort einen Orkan der Entrüstung. Die nationalistische Hetze führte sogar zu Insulten auf der Straße und zieh die Sozialdemokraten des Hochverrats. Schließlich kam es so weit, daß eine große Anzahl von Mitgliedern aus der sozialdemokratischen Partei demonstrativ austrat und eine neue Partei gründete, die „Nationalen Sozialisten”. Deren Programm übernahm zwar viele Punkte des Marxismus, anerkannte jedoch das historische Staatsrecht und stellte sich auf den Boden eines Eigentumsbegriffes, der vom Marxismus weit ablag.

Die Krise dieser Abspaltung schien zunächst den Vorteil zu bringen, daß die tschechische Sozialdemokratie sich nur mehl’ aus reinen Marxisten zusammensetzte und gegen das Gift des Nationalismus gefeit wäre. Die Wirklichkeit sollte nur zu bald zeigen, daß dies nicht der Fall war, sondern der Nationalismus immer mehr Raum gewann und, wie Viktor Adler sagte, schließlich zur schwersten Krise der österreichischen Sozialdemokratie wurde. Vergeblich versuchte die oberste Parteileitung, sich dieser Entwicklung zu widersetzen. Auf dem Parteitag von Brünn im Jahre 1899 verkündete sie ein durchaus maßvolles und gerechtes Nationali- tätenprogramm für die Monarchie, um die Vorstöße des Nationalismus aufzufangen. Verwerfung einer Staatssprache und Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat gleichberechtigter nationaler Selbstverwaltungskörper waren die Kernpunkte dieses Programms, das beste österreichische Tradition in sich barg. Hatte doch der Entwurf P a 1 a c k y s am Kremsierer Reichstag die gleichen Gedanken geäußert, zu denen einige Jahre später sich auch der österreichische Rumäne Aurel Popovici, der dem Kreis Franz Ferdinand a nahestand, in seinem Werk „Die vereinigten Staaten von Groß-Österreich” bekannte und auf denen noch das Manifest des letzten Kaisers Karl vom 18. Oktober 1918 basierte. Der Spottname „k. k. Sozialdemokratie”, den die Gegner dieses Programms erfanden, war sohin eigentlich ein Ehrenname, beweist er doch, wie sehr die oberste Leitung der damaligen österreichischen Sozialdemokratie von der Erkenntnis durchdrungen war, daß die Erhaltung der alten Monarchie ein Lebens- interesse der Massen der Arbeiterschaft war.

Die Hoffnung, durch dieses Programm den Nationalismus in den eigenen Reihen zu paralysieren und diese gegen die nationalistische Propaganda immun zu machen, schlug leider fehl, mochte sich der tschechische Sozialistenführer S merai auch noch so energisch dafür einsetzen. Bei den Wahlen des Jahres 1901 verlor die Partei weitere Mitglieder, und 1909 war es soweit, daß der Nationalismus der tschechischen Genossen schon die Gesamtpartei gefährdete. Hatten einst aus nationalen Motiven die tschechischen Sozialisten sich gespalten, so führte nun der Nationalismus die Spaltung der österreichischen Sozialdemokratie herbei: sie wurde in sozialdemokratische Parteien der einzelnen Völker aufgegliedert, deren Selbständigkeit nur mehr eine Dachorganisation im Gesamtparteitag und im gemeinsamen Abgeordnetenklub ertrug. Selbst diese lose Organisation wurde schließlich durch den Nationalismus der Tschechen gesprengt. Hatte 1897 die, Gruppe der „nationalen Sozialisten” die Sozialdemokratie verlassen, so trat im JahreT9l7, kurz vor Wiedereröffnung des Reichsrates, che gesamte tschechische Sozialdemokratie, mit Ausnahme weniger Mitglieder aus dem gemeinsamen Klub aus und schloß sich dem kurz vorher gegründeten Cesky Svaz, dem Nationalverband der tschechischen Parteien, an. Die Idee des Nationalismus hatte die Internationale besiegt.

Belastet mit dem nationalistischen Komplex, begann die tschechische Sozialdemokratie in der ersten tschechischen Republik ihre Tätigkeit. Eine große Aufgabe harrte der noch immer großen Partei. Keine andere hatte wie sie in diesen Jahren die Möglichkeit, ein erträgliches Verhältnis zwischen den einzelnen Nationen der Republik herbeizuführen und sie mit dem neuen Staate auszusöhnen. Bei den ersten Parlamentswahlen im Jahre 1920 gewannen die getrennt kandidierenden Sozialdemokraten der die Republik bewohnenden Nationen zusammen 136 Mandate, denen nur 145 bürgerliche gegenüberstanden. Eine Koalition dieser sozialistischen Parteien hätte den stärksten Machtfaktor des Landes gebildet — die Weißglut des tschechischen Nationalismus aber verbrannte diese einmalige Chance: die Sozialisten zerfielen in einander bekämpfende Richtungen!

Als während des zweiten Weltkrieges tschechische und sudetendeutsche Sozialisten im Exil leben mußten bildete sich wohl LaKontakt zwischen Ihnen, nach der Wiedererrichtung der Republik aber ließen die Tschechen es zu, daß ihre deutschen Genossen, die im Kampf gegen Hitler so schwer gelitten hatten, rechtlos erklärt, um ihr Hab und Gut beraubt und aus der uralten Heimat vertrieben wurden.

War es schon in der Jugend der tschechischen Sozialdemokratie zur großen Spaltung von 1897 gekommen, so trat zu Beginn der ersten Republik wieder eine Spaltung ein. Sozialisten, die den Marxismus über den Nationalismus stellten und in dieser Überzeugung durch die Oktoberrevolution in Rußland bestärkt wurden, versuchten 1919 — sie gruppierten sich insbesondere um den Abgeordneten Šmerai —, der tschechischen Sozialdemokratie einen äußersten Linkskurs aufzuoktroyieren. Da diese Linke immer mehr an Boden gewann, wäre ihr dieses Vorhaben geglückt, hätte nicht der Parteivorsitzende T u s a r — er war der erste Gesandte der Tschechoslowakei in Wien gewesen — durch einen kühnen Griff das Steuer herumgerissen: vierzehn Tage vor dem Parteitag, welcher am 25. September 1920 tagen sollte, schloß er durch einfachen Beschluß der Parteileitung die äußerste Linke aus! Die letzte und gründlichste Spaltung war vollzogen. Die Ausgeschlossenen konstituierten sich als Kommunistische Partei, die 1925 bereits 41 Mandate errang, während die tschechische Sozialdemokratie von 52 auf 29 und die sudetendeutschen Sozialdemokraten von 30 auf 17 herabsanken.

Von nun blieb die Kommunistische Partei der starke Faktor der tschechischen Politik, bis sie 1946 zur relativ stärksten Partei der Republik wurde; zwei Jahre darauf zwang sie die Sozialdemokratie zur Selbstvernichtung: zur Fusion. Die Tragödie war zu Ende. Und ein ganzes Volk trug die Folgen.

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