6724733-1965_27_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Tschechen in Wien

Werbung
Werbung
Werbung

Die Tschechen sind im heutigen Bundesgebiet seit jeher nur eine sogenannte Zuwanderungsminderheit gewesen. Sie waren also nie eine gesellschaftlich voll ausgegliederte Gruppe mit vertikaler Berufsgliederung und Grundbesitz im Sinne von angestammtem Heimatboden (pays des ancetres). Während man in Wien im Jahre 1880 nur 25.186 Angehörige der tschechischen und slowakischen Sprachgemeinschaft zählte (die Slowaken wurden mit den Tschechen in einer Ziffer ausgeworfen wie etwa die Ladiner Tirols und des Küstenlandes mit den Italienern, was zu erheblichen Fehlergebnissen führte), stieg ihre Zahl auf 103.546 im Jahre 1900, obwohl die Gesamtbevölkerung in derselben Zeit nur von 632.100 auf 1,547.216 anstieg. Diese relativ bedeutend stärkere Zunahme der Tschechen in Wien ist also nur auf die starke Zuwanderung aus Böhmen und Mähren zurückzuführen gewesen, weil in Wien günstige Berufsaussichten

winkten. Die Zuwanderer waren im wesentlichen Handwerker, Hausbesorger, Lehrlinge usw. Es fehlte also an dem, was die modernen Politologen wie Peter Schneider den „gesellschaftlichen Verband“ oder den „Heimatverband“ nennen4 und was zum Begriff „Volksgruppe“ unerläßlich gehört. Die Wiener Tschechen wurden aber, soweit sie hier verwurzelten, doch zu einer echten sprachlichen Minderheit, auch wenn ihnen das k. k. Reichsgericht den Charakter einer anerkannten und geschützten „Nationalität“ absprach5.

Daß die Wiener Tschechen nur eine Wanderungsminderheit waren und Ihnen also der Charakter einer selbsterhaltungswilligen Volksgruppe abging, zeigt sich in dem sehr deutlichen Rückgang derjenigen, die sich in der Republik Österreich als Angehörige dieser Sprachminderheit bekannten. Die Ziffern auf der folgenden Tabelle beweisen es.

Statistiken, vor allem Sprachstatistiken, haben in ethnischen Uberschneidungsräumen immer den Charakter des Problematischen an sich. Volkszählungsergebnisse werden von der Minderheit daher so gut wie nie anerkannt. Wenn die altösterreichischen Volkszählungsergebnisse anerkannt wurden, so beweist dies die absolut objektive, der wirklichen Lage weitgehend nahekommende Zählmethode.

Wohin verschwunden?

Die Zählung der Wiener Tschechen bietet zu ernsten Bedenken Anlaß, was die Verhältnisse seit den zwan-

ziger Jahren anlangt. Sicher sind von den rund 33.000 Ausländern, die 1923 gezählt wurden, sehr viele nicht in Wien geblieben, sondern haben für die Tschechoslowakei optiert (Verträge von Lana und Brünn) und sind in die ÖSSR übersiedelt. Aber dennoch scheint schon die Zählung 1934 reichlich Unklarheiten über die

tatsächliche Entwicklung zu bieten, denn damals gab es noch ein blühendes tschechisches Privatschulwesen in Wien, das im übrigen durch den Brünner Vertrag völkerrechtlichen Schutz hatte. Aber auch dann, wenn man das Kulturgefälle, das geminderte Sozialprestige und andere Erscheinungen berücksichtigt, besonders auch die Einschmelzung im Sinne der amerikanischen melting-pöt-Theorie7, von der eine unechte Zuwanderungsminderheit in einer Großstadt besonders betroffen wird, so zeigt das Ergebnis der Sprachzählung 1939 doch, daß Dunkelziffern vorlagen.

Die Volkszählungsziffern 1939, die hiermit erstmals auf Grund eigener Einschau des Verfassers in die Originalunterlagen8, von denen durch einen Zufall ein einziges Exemplar (das dritte) 1945 gerettet wurde, veröffentlicht werden, gliedern sich in zwei Gruppen: a) die Zählung nach der Volkszugehörigkeit. Darnach haben sich 1939 nur 13.496 Wiener deutscher Reichsangehörigkeit als Tschechen dem Volkstum nach bekannt. Und b) die Zählung nach der Mutterspräche, diese wieder aufgegliedert in Personen mit tschechischer Muttersprache (29.132) und solche mit „Tschechisch und Deutsch“ als Muttersprache (23.143).

Die Fragestellung nach der Muttersprache ist so minderheitenfreundlich wie nur möglich bei im allgemeinen abbröckelnder Minderheit; die Zählung nach der Umgangssprache, wie sie sonst in Österreich stets üblich war und heute wieder ist, kann deshalb nicht durchaus minderheitenfreundlich sein, weil die Befragten unter Umgangssprache manchmal nicht die Haussprache, sondern jene Sprache verstehen, deren sie sich im öffentlichen Verkehr bedienen. Das ist aber naturgemäß die Staatssprache. Anderseits ist die

Einführung des Zählkriteriums der Doppelsprachigkeit („deutsch-tschechisch“, in den damaligen Reichsgauen Niederdonau und Steiermark für das frühere Burgenland aber „deutsch-kroatisch“ und „deutschmagyarisch“ und ähnlich in Kärnten) wiederum nicht minderheitenfreundlich, weil auf solche Weise ja offensichtlich versucht wird, die Volkszugehörigkeit von der Sprachzugehörigkeit loszulösen und die Zahl der eigensprachigen Kulturdeutschen (die es gewiß gab und gibt) künstlich hinaufzusetzen. Gerade im Dritten Reich wird sich wohl kaum ein Wiener Tscheche zur Mischform des bilinguisme' bekannt haben, wenn er nicht zugleich auch Volkstscheche war. Sonst hätte er ja gleich als Muttersprache „Deutsch“ angegeben.

So ergibt sich das Phänomen, daß 1939 in Wien doppelt so viele Tschechen gezählt wurden als 1934. Man wird ohne weiteres dieser Zahl mehr Vertrauen entgegenbringen können.

Das „Zahlenrätsel“

Wohin sind aber bis 1951 — 1961 erfolgte für Wien keine Zählung nach der Umgangssprache mehr, was zu bedauern ist — diese über 50.000 Sprachtschechen gekommen? Man

steht hier vor einem ähnlichen Zahlenrätsel wie bei den Slowenen in Kärnten10. Gewiß erfolgte 1945 eine Massenumsiedlung auf freiwilliger Basis, wobei vom ÖsUV (Tschechoslowakischer Nationalausschuß, Wien) 21.000 Auswanderungsausweise ausgestellt wurden. Selbst wenn alle diese Ausweisinhaber tatsächlich in die ÖSSR übersiedelten, ergibt sich das erwähnte „Zahlen-rätsel“.

Die Entwicklung nach 1945

Es mag sein, daß die politische Spaltung der Wiener Tschechen in eine kommunistische und eine nichtkommunistische Gruppe die Bekenntnisfreudigkeit zum Volkstum beeinträchtigt hat. Der Sog der deutschen Staatssprache wird von Jahr zu Jahr stärker und hängt wohl auch mit der Verfestigung des Österreich-Gedankens zusammen. Vermutlich aber war die Art der Befragung 1951 nicht glücklich. Wie immer das Volkstumsbekenntnis der Wiener Tschechen heute wäre, wenn man darnach fragte, muß angenommen werden, daß jedenfalls nach der Muttersprache in Wien auch heute noch die Zahl der Tschechen be-

trächtlich ist im Sinne der „quan-tite considerable“ des internationalen Minderheitenrechtes11.

Die Organisationen der Wiener Tschechen bieten auch heute noch ein nicht unbeachtliches Volkstums-element. Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden die tschechischen Minderheitenorganisationen, die im Dritten Reich selbstredend aufgelöst worden waren, in neuer Form wieder, und zwar einerseits die (weitaus stärkere) Dachorganisation antikommunistischer Verbände „Mensi-nova Rada“ mit heute noch 18 Organisationen, darunter der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei Österreichs und der Tschechoslowakischen Katholischen Volksvereinigung (Presseorgan „Videnske Svo-bodn6 Listy“) und anderseits die kommunistische Organisation „Sdru-zeni Öechu a Sloväku v Rakousku“ (Vereinigung der Tschechen und Slowaken in Österreich) mit dem Wochenblatt „Videnske mensinove listy“ (Wiener Minderheitenblätter). Fallweise erscheinen noch kleine Perio-dica (so der katholische „Vestnik“).

Es fällt auf, daß die kommunistische Organisation zwischen Tschechen und Slowaken unterscheidet, wie dies in der CSSR auch geschieht, während die antikommunistischen Verbände teilweise immer noch an der unhaltbaren Fiktion der Existenz eines „tschechoslowakischen Volkes“ festhalten, die von Th. G. Masaryk und E. Benes seinerzeit aufgestellt wurde, um überhaupt eine Mehrheitsnation in der neuen ÖSSR von 1918/19 als existent hinzustellen12.

Keine Klage über Wien

Die Wiener Tschechen, einst durchaus treue Parteigänger Karl Luegers, schlössen sich nach 1918 vorwiegend der Sozialdemokratischen Partei an. Auch heute ist eine Tendenz zur SPÖ unverkennbar, was

ebenso wie früher mit der Sozialstruktur der Minderheit zu erklären ist, aber auch damit, daß die Tschechen gerade bei dieser Partei ihre Interessen sehr gut gewahrt wußten. So war Antonin Machot als tschechischer Landtagisahgeordneter vor 1934 auf sozialdemokratischer Liste gewählt worden und fand hierdurch viel Verständnis für die Kulturbedürfnisse der Minderheit. Sein Einfluß war freilich auch durch sein

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung