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Die überraschende Feststellung

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Die große Überraschung bei dem Versuch der Kalasantiner (siehe „Furche“, Nummer 24), mit dem der Kirche fernstehenden überwiegend sozialistischen Teil der Arbeiterschaft in Fühlung zu kommen, war die Feststellung, daß diese Arbeiter die Erörterung sozialer Themen und die Stellungnahme des Klerus zur Arbeiterfrage gar nicht wünschten. Nicht ein einziger von sämtlichen abgegebenen Predigtvorschlägen verlangte die Behandlung dieser Probleme von einem Geistlichen, da die Lösung derartiger Angelegenheiten entschieden als Aufgabe der Gewerkschaft oder der politischen Partei betrachtet wird.

Wenn sozialistische Arbeiter also überhaupt mit Kirche und Klerus in Fühlung treten wollen, so geschieht es nicht von einem sozialen oder politischen Gesichtspunkt aus, sondern von dem der Kirche ureigenen, dem seelsorglichen. Angesichts dieser im tiefsten richtigen Einstellung erhebt sich nun die auf den ersten Blick bestürzende Frage, ob die bisher in Ausführung des christlichen Missionsauftrages benützten Mittel deshalb von vornherein zur Wirkungslosigkeit verurteilt waren? Und Rerum novarum? Quadragesimo anno? Alle diese Äußerungen der höchsten autoritativen Stelle hätten keine Reachtung in den Kreisen gefunden, zu deren unmittelbarem Nutzen sie erschienen?

Unbefangene Beobachter haben diese Feststellung, die durch die Maiandachten des Wiener Arbeiterordens zum ersten Male statistisch erfaßt werden kann, bereits früher getroffen. Gewiß wird niemand bestreiten, daß Rerum novarum eine ungeheure Bedeutung gehabt hat. Der mächtige Erfolg der Enzyklika beruhte darin, daß zum erstenmal die höchste wirkliche Autorität der Welt, der Papst, sich ganz unzweideutig gegen den liberalen Kapitalismus in seiner damaligen Gestalt aussprach, für die Rechte der Arbeiter eintrat, Staaten und Völkern ihre sozialen Pflichten vorhielt. Dem Wirtschaftsliberalismus wurde dadurch die Deckung genommen, als die er, bis dahin oft genug geschickt manöverie-rend, das Christentum vorgeschoben hatte. Die Beziehungen zwischen Unternehmer, Staat, Gesellschaft und Arbeiterschaft wurden in das klare Licht des göttlichen Sittengesetzes gestellt.

Selbstverständlich entstanden dadurch in vielen Ländern, besonders in Österreich, große Auswirkungen auf die Lage der Arbeiter, aber — die Arbeiter, das heißt ihre sozialistische Mehrheit, nahm davon keine Kenntnis, sie führte ihren Kampf für sich und schrieb sich allein alle Erfolge zu. „Die Arbeiterbewegung geht ihren Weg und kümmert sich wenig um die Eindrücke, welche sie bei kirchlichen Gewalten hervorruft. Und sie befindet sich wohl dabei“, schrieb die Wiener „Arbeiter-Zeitung“ am 25. September 1891 nach dem Erscheinen des Rundschreibens Leos XIII.

Die Bedeutung der päpstlichen Proklamationen und der sozialen Maßnahmen der Kirche den Arbeitern nahe zu bringen, wurde und wird bis heute von katholi^her Seite mit vielen Veröffentlichungen immer wieder versucht. In letzter Zeit erschienen zum Beispiel Schriften von Kardinal Doktor I n n i t z e r, „Die Stimme der Kirche zur sozialen Frage“, Bischof Dr. Paul Rusch, „Katholische Sozialreform“, Pfarrer Ignaz Singer, „Arbeiter, wie stehst du zur Religion?“. Alle behandeln soziologische und sozialtechnische Maßnahmen im Rahmen von Besprechungen der päpstlichen Enzykliken und Botschaften — in den Kreisen der sozialistischen Arbeiter aber haben diese Hefte ebensowenig Eingang gefunden wie P. Joh. Klein-happls S. J. Darlegung „Das Ethos des Arbeiters“, bei welcher schon der Titel die nun einmal zu fest im marxistischen Geiste stehende Arbeiterschaft abschrecken dürfte.

Entweder berufen sich also derartige Versuche auf Autoritäten, die für die Arbeiter keine sind — denn seit Marx und Engels leben sie mehr und mehr so, als ob es weder Christus noch Papst gäbe —, oder sie argumentieren in einer Sprache, die den Sozialisten unverständlich anmutet, denn was soll er mit Ausdrücken anfangen, wie „christliches Ethos“, „Verähnlichung mit Gott“, „Seinsgrund der Würde“ usw. Immerhin stellt die Schrift P. Joh. Klein-happls einen Versuch dar, sich einmal von einer anderen Seite her dem Arbeiter zu nähern. Es liegt schließlich der tief 'e Widerspruch darin, die materialistische Weltanschauung des Sozialismus — diese ist für die Kirche der Kernpunkt aller Schwierigkeiten in der Behandlung der sozialen Frage — durch materielle Prozeduren (Eigentumsbildung, Vergenossenschaftung, Familien-lohn usw.) bekämpfen zu wollen, in der Annahme etwa, daß mit einer Besserung der wirtschaftlichen Lage des Arbeiters dieser dann auch wieder zu einer religiösen Einstellung gelangen werde. Das wäre doch wohl sehr rationalistisch, wenn nicht — materialistisch gedacht. Heinrich Mann spottet in seinem Büchlein „Diktatur der Vernunft“ über derartiges so; „Ihr meint, erblüht erst einmal die wirtschaftliche Ordnung wieder recht, dann liefere sie durch Verwertung der Abfälle nebenbei wohl auch noch seelisch geistige Erneuerung? Und das könnten wir schon erwarten? Ihr könnt lange warten.“

Wir erleben praktische Beispiele: Der Staat hat eine lösung der sozialen Probleme eben durch wirtschaftliche Maßnahmen versucht. Da dekretiert man mit Fachwissen vom grünen Tisch oder vom Standpunkt experimentell erwiesener Nützlichkeit aus und schafft Reformen (Bodenreform, Verstaatlichung), den lebendigen Mensrhen aber überkommt dann ein Grauen, wenn er diese Formen sich überstülpen lassen soll. Die Arbeiter selbst betrachten ihre Situation durchaus nicht nur materiell, zum Beispiel vom Standpunkt der Lohnfrage, wie aus Unterhaltungen mit ihnen immer wieder hervorgeht. Den Lohn erkämpfen die Gewerkschaften und regeln staatliche Behörden — das Menschentum, die Menschenwürde vermögen diese ihnen freilich nicht zu geben, und so ist das, was den Arbeiter eigentlich mehr als Lohn und Essen interessiert, eine Seelenfrage. Darauf hat vor 20 Jahren schon P. Anton Stonner S. J. hingewiesen („Kirche und soziale Frage“). Also ist es nichts Neues und wer sich nicht der materialistischen Betrachtungsweise von Marxisten bedient, kann dies auch zu allen Zeiten erneut feststellen. Überraschend ist nur, daß man diese Feststellung immer wieder trifft, daß aber bis heute man sich nicht entschließen konnte, die entsprechenden seelsorglichen Folgerungen daraus zu ziehen.

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