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Die ungelöschte Hypothek

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Die modernen Bauten in St. Pölten, Krems und Wiener Neustadt, der luxuriöse Trubel in den mondänen Fremdenverkehrsorten, wie in Baden, am Semmering, in der Wachau und jüngst im Stauseengebiet von Ottenstein-Krumau (Waldviertel), machen für den Urlauber nicht den Eindruck, daß er sich in Niederösterreich in einem „Entwicklungsland“ befindet. Und doch verging in der letzten Session des Landtags unter der Enns kaum eine Sitzung, in der nicht auf die Benachteiligung Niederösterreichs durch den Bund, auf das Wohlstandsgefälle von West nach Ost, auf die Entwicklungsbedürftigkeit dieses Bundeslandes hingewiesen wurde. Alles mit dem Akzent, bei der nächsten Verteilung des Staatskuchens zwischen Bund und Ländern

— sprich Finanzausgleich — ein größeres Stück als bisher zu erhalten.

Mit Recht fragen sich nun die anderen Bundesländer: Ist Niederösterreich wirklich ein kranker Mann, dessen Wunden aus den letzten Tagen des Krieges und aus den Jahren der Besatzungszeit noch immer nicht vernarbt sind? Oder ist die „Krankheit“ auch ein bißchen Einbildung?

Man muß d Opfer Niederösterreichs in den letzten Kriegstagen nochmals in Erinnerung rufen, um die heutige Situation ganz zu verstehen: Wochenlang tobten in den Aprilwochen des Jahres 1945 im Lande unter der Enns erbitterte Kämpfe zwischen der Roten Armee und einigen SS-Divisionen unter Sepp Dietrich. Die Bilanz der Verwüstung:

• 71 Prozent aller Kriegsschäden an

österreichischen Industrieanlagen wurden in Ndederösterreiob. verzeichnet:

• 678 Brücken wurden, hauptsächlich von den SS-Leuten, auf dem Rückzug zerstört;

• 11.680 Bauernhöfe wiesen zum Teil schwere Beschädigungen auf, in allen anderen Bundesländern zusammen wurden nur rund 1000 Bauernhöfe beschädigt:

• Wiener Neustadt rangiert in der „laste der am meisten z^rstörren Städte der Welt an siebenter (!) Stelle.

Das war nicht die einzige Hypothek, die Niederösterreich schwer zu schaffen machte. Es kam nun die Zeit der russischen Besatzung. Nicht nur, daß nun viele wertvolle Maschinen, sogenanntes deutsches Eigentum, nach Osten verfrachtet wurden, ebenso litt Niederösterreich durch die wirtschaftliche Isolierung. Verständlicherweise lehnten auch die Amerikaner die Vergabe von ERP-Krediten in die russische Besatzungszone ab. Dies hatte zur Folge, daß Niederösterreich bis 1955 von der Marshallplan-Hilfe weit gehend ausgeschaltet war. Sicherlich wurde das Land unter der Enns dann bei der Vergabe von ERP-Krediten begünstigt, aber der Zinssatz war währenddessen bereits auf fünf Prozent erhöht worden. Die westlichen Bundesländer waren hingegen noch zum größten Teil in den Genuß des Zinssatzes von 3,5 Prozent gekommen. Die niederösterreichische Handelskammer hat übrigens errechnet, daß bis zum Herbst 1961 pro Kopf eines Industriebeschäftigten in den westlichen Bundesländern im Durchschnitt 13.960 Schilling an ERP-Krediten verzeichnet werden konnten, in Niederösterreich aber nur 9947 Schilling.

Es ist also begreiflich, daß in Niederösterreich auch hier ein echter Nachholbedarf besteht. Dabei muß man berücksichtigen, daß die Beseitigung der Kriegsschäden nicht nur dem Land, sondern auch vielen Betrieben Schulden eintrug.

Es ist bekannt, daß Niederösterreich laut Volkszählung von 1961 in den letzten zehn Jahren 27.500 Einwohner verlor, während Vorarlberg im gleichen Zeitraum 32.000 Menschen gewann. Der große Substanzverlust Niederösterreichs ist auf die Abwanderung

— vor allem junger Kräfte — nach Wien und in die westlichen Bundesländer zurückzuführen. Das Land unter der Enns hat noch eine interne Abwanderungswelle zu verzeichnen, die auch staatspolitische Folgen haben kann. Sie ist mit dem Satz: „Weg von der toten Grenze“ bezeichnend charakterisiert. Eine Grenze, die auf die Wirtschaft befruchtend wirkt, wie in Vorarlberg und in weiten Teilen Salzburgs und Oberösterreichs, gibt es in Niederösterreich nicht. Der Eiserne Vorhang hat im Wald- und Weinviertel einen Jahrhunderte währenden wirtschaftlichen Austausch und menschlichen Kontakt zerstört. Die Franz-Josefs-Bahn, einst eine bedeutende Verbindungsstraße im mitteleuropäischen Raum, wurde zur Lokalbahn; die früher stark frequentierten Verkehrswege ins Böhmerland wurden Sackstraßen, die an den Stacheldrahtverhauen enden.

Symptomatisch für diese Entwicklung ist, daß die Gerichtsbezirke an der tschechischen Grenze die höchsten Abwanderungsquoten zu verzeichnen haben: Der Bezirk Haugsdorf hält mit einer Bevölkerungsabnahme von 19 Prozent im Laufe der letzten zehn Jahre die Spitze. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet hier, die kleinste Stadt Österreichs, Hardegg an der Thaya. Die Verbindung zum Nachbarland, eine Straßenbrücke, ist seit 1945 unterbrochen und auf tschechischer Seite sogar abgetragen worden. Die Stadt zählte in den zwanziger Jahren 50 Schulkinder, heute sind es nur noch elf (!). Die Bevölkerung sank von 311 Einwohnern im Jahre 1951 auf 201 Personen.

Finanzminister Dr. K1 a u s und Landeshauptmann F i g 1 überzeugten sich kürzlich auf einer Fahrt ins nördliche Grenzgebiet von der oft fast trostlosen Situation: Manche Straßen erinnern noch an die Zeit der Ochsenkarren; Lehrermangel droht einen Kulturnotstand herbeizuführen; im Braunkohlenbergwerk von Langau zittern die Arbeiter vor dem Tag, da der Abbau unrentabel werden könnte.

Eine Verstärkung der Hilfe für das von der Entvölkerung bedrohte Grenzgebiet liegt wohl im Interesse aller verantwortungsbewußten Österreicher. Es ist das: Gewährung billiger Kredite, die Ansiedlung neuer Betriebe, der Ausbau des Straßewnerzw,' wodurch auch der Fremdenstrom in die landschaftlich sehr schönen Gegenden ge-“ leitet werden könnte.

Die Förderung von Industriegründungen, der Ausbau von Betrieben, damit die wirtschaftliche Stärkung zurückgebliebener Gebiete, ist eines der lebenswichtigen Probleme Niederösterreichs. Auf Initiative Figls wurde zu diesem Zweck vom Land ein Investitionsfonds geschaffen.

Niederösterreich war schon zur Zeit der Monarchie eines der industrieintensivsten Länder Österreichs. Der Anteil an der Industrie hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten bedeutend verringert. 1937 zählte das Land unter der Enns rund 73.000 Industriebeschäftigte, und 1961 waren 119.300 Personen in der Industrie tätig. Dies zeigt eine Steigerung von 63 Prozent. In ganz Österreich zählte man 1937 rund 300.500 Industriebeschäftigte, 1961 waren es 651.900. Dies bedeutet eine Steigerung von 117 Prozent. Die industrielle Expansion in den westlichen Bundesländern und in Wien war wesentlich größer als in Niederösterreich. Das Land unter der Enns steht daher heute auch weitgehend in einem zweifachen Sog: Wien im östlichen Zentrum und Steyr-Enns-Linz im Westen.

Das Institut für Raumplanung schlägt daher, vor allem als Gegenpol zu Wien, die Schaffung von Industriezentren vor. Bedeutendes Echo hat der Plan für ein Städtezentrum St. Pölten-Krems gefunden. Durch den Bau einer Schnellstraße nach bundesdeutschem

Vorbild sollen die beiden Städte einander nähergerückt werden. Die wirtschaftliche und kulturelle Ausstrahlung dieses Zentrums, das rund 100.000 Einwohner umfassen würde, wäre — so meint man — auch im Traisental und im Waldviertel deutlich spürbar.

Die schwere Belastung des Landesbudgets durch die steigenden Defizite der Krankenhäuser ist nun keineswegs eine ' typisch niederösterreichische Erscheinung. Das Gesamtdefizit aller Krankenanstalten Niederösterreichs wird für 1962 rund 80 Millionen Schilling betragen. Zur Deckung dieses Abgangs wird der Bund nur 18,75 Prozent bezahlen, das Land dagegen 29, der Krankenanstaltensprengel (Einzugsgemeinden ohne Krankenhaus) 21 und die spitalserhaltende Gemeinde 31,25 Prozent. Vor 1938 war das Verhältnis insofern günstiger, als der Bund für 37,5 Prozent der Krankenhausdefizite aufkam. Damals wurde die Finanzkraft der Gemeinden viel weniger in Anspruch genommen; dies wirkte sich indirekt auch auf die Finanzen des Landes aus.

Steueraufkommen und Spartätigkeit sind ohne Zweifel für den Wohlstand eines Bundeslandes symptomatisch. Nach einer von der niederösterreichischen Handelskammer erstellten Statistik ist die Situation in Niederösterreich im Vergleich zu den anderen Bundesländern — gerade was das Steueraufkommen betrifft — sehr ungünstig. Das Land unter der Enns wird nur vom Burgenland unterboten. Auf Grund dieser Aufstellung machte beispielsweise die veranlagte Einkommensteuer (i960) in Niederösterreich 304,8 Millionen Schilling aus, in den vergleichbaren Bundesländern Oberösterreich und Steiermark 368,5 beziehungsweise 352,5 Millionen Schilling, in den ungleich kleineren Bundesländer^,-Tirol ^Sitfzbujg und VorajJ-. berg 252,6, 158,3 und 123,1 Millionen Sbhilling, in Kärnten 134 Millionen Schilling.

Der Anteil Niederösterreichs, der bevölkerungsmäßig 19,4 Prozent beträgt, macht bei der veranlagten Einkommensteuer demnach nur 10,5 Prozent aus, bei der Umsatzsteuer 10,4 Prozent, bei der Gewerbesteuer 12,7 Prozent und bei der Lohnsteuer sogar nur 6,1 Prozent.

Die „Finanznachrichten“ (9. März 1962) geben an Hand der Rechnungsabschlüsse der verschiedenen Kassen und Banken eine bundesländerweite Übersicht über alle Spareinlagen.

Daraus ist zu ersehen, daß die Kopfquote der Spareinlagen — auf ganz Österreich berechnet — 3626 Schilling beträgt. An der Spitze der Bundesländer steht (Wien ist in dieser Statistik nicht berücksichtigt) Salzburg mit 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt, gefolgt von Vorarlberg (26 Prozent! über dem Durchschnitt), Tirol (24 Prozent über dem Durchschnitt), Oberösterreich (13 Prozent über dem Durchschnitt), während Niederösterreich um fünf Prozent unter dem Durchschnitt liegt. Unterboten wird es nur vom Burgenland, in dem die Kopfquote der Spareinlagen um 52 Prozent (!) unter dem Bundesdurchschnitt anzusetzen ist.

Bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Situation Niederösterreichs, der nachhinkenden Prosperität, muß man zugeben, daß die Bewohner dieses Bundeslandes viele Opfer brachten, die für ganz Österreich Zinsen trugen. Als der heutige Landeshauptmann Figl im Jahre 1945 — damals war er provisorischer Landeshauptmann des Landes unter der Enns — mit seinem damaligen Stellvertreter Helmer und den russischen Kommandanten von Bezirk zu Bezirk fuhr, um die lokalen Verwaltungsbehörden wiederaufzubauen, in dieser Stunde zweifelten Im „Westen“ so manche daran, daß Niederösterreich auch weiterhin das Kernland eines neuen Österreichs bleiben werde. Die Zeiten sind vergessen. Die zerstörten Häuser und Schulen, die Bauernhöfe und Kirchen längst wieder aufgebaut. Aber das Land und auch der private Unternehmer spüren es wieder und wieder: Die Hypothek der schweren Fahre ist noch immer nicht gelöscht!

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