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Die Ursachen der Verbredienswelle

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Es ist aber immerhin lehrreich, den Ursachen dieser Verbrechenswelle nachzuforschen.

Man ist vor allem in den USA zu nachsichtig gegen Gewalt und Aufhetzung zur Gewalt. Dafür waren die Arbeitskonflikte ein zu fruchtbarer Boden. Es gab und gibt zu viele Streiks mit Gewalttaten, Körperverletzungen mit und ohne Waffen, Attentaten, Bombenanschlägen. Zu oft sind Opponenten in Gewerkschaftsversammlungen von gedungenen Schergen niedergeschlagen worden. Erst vor kurzem wurde eine bestreikte Bahn fortlaufend von Bombenanschlägen heimgesucht, die in Österreich nach § 86/2 StG bestraft würden. Nichte dergleichen ist geschehen. Arbeitskonflikte heiligen Verbrechen — warum also nicht Rassenkonflikte?

Die Amerikaner sind zu nachsichtig gegen keimende Verbrechen, die sich mit einer Ideologie verbrämen. Den amerikanischen Juristen fehlt die Phantasie. Sie sehen nur, was ist, nicht, was sich daraus entwickeln kann. Sie verstehen nicht vorzubeugen. Wenn aber der Brand gewachsen ist, ist die Unterdrückung schwerer und schmerzhafter.

Das eigentümliche Sullivan Law

Das zeigt sich im Staate New York besonders durch ein eigentümliches Gesetz, das sogenannte Sullivan Law. Es bedroht das bloße Tragen jeder Waffe, vom Messer bis zum Revolver, ohne polizeiliche Erlaubnis mit schwerer Strafe. Die Phantasie des Gesetzgebers reichte nicht aus, sich vorzustellen, daß ein Mörder oder Räuber die zusätzliche Übertretung dieses Gesetzes leicht in Kauf nimmt; daß es ihm aber die Wehrlosigkeit seines Opfers garantiert! Der verläßlichste, gesetzestreueste Bürger — Ausländer sind überhaupt ausgeschlossen — soll nur versuchen, die polizeiliche Erlaubnis zum Tragen einer Waffe zu erwirken. Während der langen, peinlichen Untersuchung seines Vorlebens kann er zehnmal beraubt und einmal ermordet werden. Der Besitz einer Gaspistole, der harmlosesten Waffe, kommt gar nicht in Frage. Die Handhabung eines Gesetzes, das es schließlich in den meisten Staaten gibt, wirkt sich so zum Schutze der Verbrecher gegen Notwehr aus.

Dabei ist das ganze Gesetz verfassungswidrig! Der zweite Zusatz zur Verfassung besagt: „Da eine wohl- geordnete Volkswehr für die Sicherheit eines freien Staates unentbehrlich ist, darf das Recht des Volkes auf Besitz und Tragen von Waffen nicht angetastet werden.” Aber bis einmal jemand das Geld und die Hartnäckigkeit aufbringt, das Gesetz bis zum Obersten Gerichtshof hinauf anzugreifen, werden noch viele Opfer künstlicher Wehrlosigkeit fallen.

Gespenst des „Vigilantismus”

Die Polizisten sind mutig, riskieren Leib und Leben, kommen aber meist zu spät. Sie können nicht überall sein, zumal ihre Zahl (26.000 in der Stadt New York) für das riesige Gebiet nicht ausreicht. Sie lassen sich auch zuviel von nebensächlichen Delikten, wie der buchstabentreuen Beobachtung von Verkehrs- und Parkvorschriften,, ablenken. Während jeder so vergeudeten Minute erfolgt im nächsten Block ein Mord oder ein Einbruch. Die Polizei ist auch zu sehr auf ihr Monopol der Verbrechensbekämpfung bedacht, sie verschmäht die wertvolle Unterstützung der Bevölkerung. Als in einem von orthodoxen Juden bewohnten Stadtteil von Brooklyn die Überfälle von Negern überhandnahmen, die sogar einen Rabbi und spielende Kinder überfielen, griffen junge Leute zur Selbsthilfe. Sie organisierten Streifgruppen kräftiger Männer, die in ihrem Wagen unbewaffnet herumfuhren, Verdächtige beobachteten, Einzelgänger schützten, bei Gefahr die Polizei herbeiriefen. Von Freitag abends bis Samstag, wenn sie wegen ihrer strengen Religiosität nicht fahren durften, traten Andersgläubige, auch Neger, an ihre Stelle. Statt das dankbar zu begrüßen, ja diese offenbaren Hüter der Ordnung zu bewaffnen, stand die Polizei diesem Unternehmen kritisch gegenüber. Es könnte in „Vigilantismus” ausarten! Im vorigen Jahrhundert hatten sich solche Gruppen gebildet, die im Kampf gegen das Verbrechen mitunter selbst Verbrechen begingen. Das Schlagwort spukt noch weiter und wirkt sich zugunsten von Gruppen aus, welche die Sympathie der Massen zu wecken und zu mißbrauchen verstehen, wie die Neger in New York oder der Ku-Klux- Klan im Süden.

Eine widerspruchsvolle Auslegung der Notwehr durch die Gerichte schützt ebenfalls den Angreifer gegen sein Opfer. Wer einen anderen an Leib oder Vermögen bedroht, müßte darauf gefaßt sein, daß dieser sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen darf; er muß selbst auf ein größeres Übel gefaßt sein, als er zuzufügen beabsichtigt, was dem Angegriffenen ja nicht ersichtlich ist. Es ist hier geradezu typisch, daß ein überraschter Dieb zum Mörder wird — der Angegriffene kann nie wissen, ob er sich nur gegen Diebstahl und Raub oder auch gegen Mord zu verteidigen hat. Wer das Gesetz Übertritt, muß auf die Folgen gefaßt sein. Notwehr macht Gesetzesverletzung straflos.

Im Staate Florida ist es zum Beispiel erlaubt, auf einen Eindringling zu schießen, wenn er an der Haustür nach innen, nicht nach außen fällt. Der Grund: man darf einen Einfall ins Haus, aber nicht in den Hof abwehren. In den meisten Staaten darf man nur dann zur Notwehr greifen, wenn man sich nicht durch Flucht retten könnte. Man darf sich nur dann wehren, wenn Flucht die Gefahr vergrößern würde. Nur Texas gestattet Widerstand gegen Angriff. So wird künstlich Feigheit gezüchtet und der Verbrecher geschützt.

Jedenfalls darf der Angegriffene nur so viel Gewalt anwenden, als zur Abwehr des Angriffs absolut nötig ist. Das sieht nachher in der Atmosphäre des Gerichtssaals ganz anders aus als im Augenblick des Angriffs. Als ein 84jähriger Kaufmann einen Räuber in seinem Geschäft niederschoß, wurde er nach dem Sullivan-Gesetz verhaftet und mit Haft bis zu sieben Jahren und einer Geldstrafe von 1000 Dollar bedroht. Als ein Mädchen einen Schändungsversuch mit einem Schnappmesser abwehrte, wurde sie angeklagt. Es war zwar schön, daß sie sich wehrte, aber ein Schnappmesser ist eben eine verbotene Waffe! Notzüchter können sich die Anrede zurechtlegen: „Halt ruhig, gebrauch ja keine Waffe, sonst zeig ich dich an, daß du eine hast!”

Bestrafte Notwehr

Notwehr für eine andere Person, selbst eine nahestehende, ist noch gefährlicher. 38 Menschen beobachteten von ihren Fenstern, wie ein Mörder in wiederholten Attacken eine Frau umbrachte. Hätte einer von ihnen eine Waffe gehabt und gegen den Mörder gebraucht, so hätte er sich einer peinlichen Untersuchung ausgesetzt, mit welchem Recht er sich in etwas einmischte, das ihn doch nichts anging.

Wie verhält sich die Öffentlichkeit gegenüber dieser Bedrohung ihrer Sicherheit? Theoretische Verurteilungen werden von einem Geschrei voll verfehlter Gefühlsduselei übertönt. Nicht die Übeltäter, sondern ihre schrecklichen Verhältnisse seien daran schuld — die immer noch viel besser sind als in vielen Ländern, die Verbrecher nicht züchten und schützen. Solche Schlagworte befruchten den Boden des Verbrechens und erzeugen scheinheilige Ausreden, auf die die Gerichte aber oft hereinfallen. Deren falsche Milde am falschen Platz lähmt den Mut der Polizei und verkehrt die Aufgabe der Gerichte, die Bevölkerung zu schützen, in ihr Gegenteil.

Wie die amerikanische Gesellschaft aus diesem Labyrinth gezüchteter Unsicherheit herausfinden wird, ist nicht abzusehen und soll nicht vorausgesagt werden. Ihr ist aber eines eigen: sie hat immer noch, wenn auch spät, oft zu spät und nach zu vielen Opfern, aus einer scheinbaren Sackgasse herausgefunden.

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