NICHT NACH DEN URSACHEN söll hier geforscht werden, warum nach beinahe achtzehnjähriger völliger Absperrung, Spionagefurcht und Revanchistenverdächtigungen die derzeitigen Lenker der Geschicke der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, in Abkehr von ihrer bisherigen rigorosen Praxis, die Pforte bei Preßburg einladend weit geöffnet haben, ob sie damit lediglich auf Devisenfang ausgehen oder höhere politische Ziele bezwecken. Man soll die Tatsache als gegeben und dankbar ansehen, daß Europa für uns nicht mehr in Wolfstal endet, und daß wir nach langen schmerzlichen Jahren einer Trennung unsere Freunde besuchen oder unsere Jugenderinnerungen auffrischen und uns ein hochinteressantes und an historischen Bauten reiches Gebiet erschließen können.
Die Grenze ist in Richtung Preßburg nicht mehr eine Trennwand zwischen zwei Welten, sondern — wie seit Jahrhunderten — ein Tor von West nach Ost geworden. Auch wenn nur für 48 Stunden allwöchentlich.
Allerdings muß jeder, der die kurze Autostunde von Wien nach Preßburg wagt, davor gewarnt werden, diese Welt, die sich am Nordufer der Donau unterhalb der Porta Hungarica eröffnet, mit den Augen eines verwöhnten Westeuropäers zu sehen — sonst wird er enttäuscht. Um Preßburg von heute richtig zu sehen, müssen Vergleiche zu 1914, zu 1938 und zu 1956 angeführt werden. Und wenn man die Änderungen, die während dieses kurzen historischen Zeitabschnittes dem Stadtbild von Preßburg von heute eine andere, eine neue Prägung gegeben haben, einer Prüfung unterzieht, wird das Bild dieser Stadt auch danach verzerrt wirken, ob man es mit den Augen eines Kunstliebenden, eines Nationalökonomen, eines Soziologen, eines Gläubigen oder eines einfachen Touristen betrachtet.
Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges war Preßburg eine verträumte Kleinstadt vor den Toren Wiens, die wohl über lange Jahrhunderte hindurch als Krönungsund Hauptstadt Ungarns fungierte, sich aber trotzdem nicht von dem Schattendasein eines Vorortes von Wien loslösen konnte. Hier lebten deutschsprachige Ungarn, eingewanderte Magyaren, assimilierte Juden und schließlich Slawen, die sich in der Stadt Preßburg immer fremd fühlten, nicht nebeneinander, sondern zusammen. Preßburg hatte keine nennenswerte Industrie. Es war eine Stadt von deutschsprachigen Geschäftsleuten, magyarischen Beamten und slowakischen Taglöhnern. Die Kultur kam aus dem nahen Wien, die ungarischen Adeligen, die in Preßburg genau so wie in Wien ihre Winterpaläste hatten, brachten zum eigenen Vergnügen die Künstler und Handwerker von weit her, und derjenige Preßburger, der es zu etwas bringen wollte, flog in die weite Welt hinaus.
DIESES VERTRÄUMTE DASEIN änderte sich vor 45 Jahren mit der Gründung einer Tschechoslowakischen Republik. An Stelle der magyarischen Beamtenschicht kamen tschechische Kolonisatoren.
Fabriken wurden hier angesiedelt, und mit der raschen Industrialisierung strömte ein in der Geschichte Preßburgs bis dorthin wenig beachtetes slawisches Element in Scharen in die Stadt und wurde dort ansässig. Preßburg erwachte und blühte wirtschaftlich und kulturell auf.
Jene Rolle, die im kulturellen Leben Preßburgs bis zu diesem Zeitpunkt Wien einnahm, begann immer mehr und mehr Prag einzunehmen; das äußere Bild des alten Preßburg, das den Makel einer Provinzstadt des Habsburger-Reiches trug, begann sich zu kleineuropäisieren. Das Zusammenleben der völkischen Elemente, das während der Herrschaft Wiens beziehungsweise Budapests vorbildlich war, verschlechterte sich xusehends, die Alteingesessenen versuchten krampfhaft, ihre Positionen gegenüber den neu hinzugekommenen Mitbürgern zu schützen, woraus sich eine immer stärker werdende nationale Radikalisierung ergab. Die Besetzung Österreichs und der Einzug der nordischen Eroberer auf das gegenüberliegende Donauufer gaben dem alten Preßburg den Rest. Vorerst wurde das kulturell und wirtschaftlich für Preßburg bedeutende und wertvolle Element des bodenständigen Judentums ausgeschaltet und der Vernichtung preisgegeben.
Dann kam das tragisch-traurige Jahr 1945, welches der alteingesessenen deutschsprachigen und magyarischen Intelligenz, also der nach wie vor führenden Schicht dieser Stadt, die Vertreibung brachte. Nach einer Scheinblüte während des kurzlebigen Marionettenstaates von Hitlers Gnaden, galt es für Preßburg, welches nun zu Recht die slawische Bezeichnung Bratislava trug, ein völlig neues Leben zu beginnen. Die Lücke, die durch die Vertreibung entstanden war, mußte durch rasch herangeholte Bevölkerung aus dem slowakischen bäuerlichen Milieu angefüllt werden. Welche sozialen Umwälzungen dies mit sich brachte, kann an dem heutigen äußerlichen Bild des Kernes von Preßburg, an der historischen Altstadt, abgelesen werden.
ALT-PRESSBURG WURDE DEM VERFALL preisgegeben. Nur die letzten spärlichen Reste der einstigen „Preschburger“ bringen so etwas wie einen Lokalpatriotismus hervor. Die neu dazugekommene Bevölkerung empfindet zu dieser Stadt keine Bindung. Welch ein Jammer, wenn man durch die winkeligen Gäßchen des alten Preßburger Ghettos oder der Altstadt wandert und bemerken muß, daß diese Ranaissance-, Barock- oder Biedermeierhäuschen brutal der Spitzhacke ausgeliefert werden, um Platz für monumentale, aber praktische Paneelhäuser zu machen. Trotzdem muß gerechterweise festgestellt werden, daß der Kern des alten Preßburgs erhalten blieb, wenn auch die Gebäude arg verwahrlost sind. Um diesen Kern herum breitet sich die Stadt, deren Einwohnerzahl sich in den letzten Jahren beinahe verdreifacht hat, rapid aus. Es wird für die Neu-Preßburger Wohnraum in einem anerkennenswerten Tempo geschaffen. Allerdings haftet an dieser stürmischen Bautätigkeit die „östliche“ Qualität.
Wenn man nach langer Abwesenheit wieder nach Preßburg kommt, wird man sich nicht mehr zurechtfinden. Die einstige Fürstenwiese ist verbaut, die Kreuzgasse und die Ratzersdorfer Straße — die Hauptausfallsstraßen nach dem Osten und Norden — präsentieren sich als breite Avenuen. Der Zuckermandl unterhalb der einstigen königlichen Burg, früher ein verträumtes Fischer- und Schifferdorf, ist völlig abgetragen, und vor allem hat sich das Wahrzeichen von Preßburg, die Schloßruine, vollkommen gewandelt. Die Burg war bis vor kurzem eine Ruine. Nun wurde sie durch namhafte finanzielle Mittel in ihrer ursprünglichen Form wiederhergerichtet und soll als kulturelles Zentrum dienen.
WAS BIETET DAS HEUTIGE Breßburg, wie leben die heutigen Bewohner Preßburgs? Lange nicht ;o gut wie wir, aber — und das soll ;anz sachlich festgestellt werden — den Umständen angemessen nicht schlecht. Wenn man von bescheide- lem Luxus absieht, ist in Preßburg dies zu haben. Die Qualität der an- 'ebotenen Waren ist bei manchen 3rodukten dürftig, bei einigen, wie Leder, Glas und Keramik, von abso- utem Niveau. Das äußere Stadtbild vird je nachdem verzerrt, ob man lie Stadt während eines Wochensages oder an Feiertagen besucht. n Arbeitstagen ist alles grau in 'rau, an Sonn- und Feiertagen be- ebt sich das äußere Bild, denn eder, der es sich leisten kann, zieht sich seine besten Sachen an. Denn ;ute Kleidung und Schuhwerk ge- rören bereits zu den Luxusgegenständen.
WO LIEGT DER UNTERSCHIED zwischen unserem und dem dortigen Lebensstandard? Erstens bereits bei den Löhnen. Ein Durchschnittsmonatsgehalt für Arbeiter oder Angestellte bewegt sich um 1200 Kronen, die nach dem Kaufwert beinahe unserem Schilling gleichzusetzen sind. Manches ist nördlich der Donau billiger als bei uns, wie Wohnungsmieten für größere Wohnungen, die Verkehrstarife, Strom und Gas und vor allem kulturelle Güter, wie Bücher, Schallplatten, Fernsehgeräte, Theater- und Kinokarten. Lebensmittel sind im Durchschnitt 20 bis 25 Prozent teurer, alles andere bei sehr bescheidener Auswahl — vor allem für dortige Begriffe, gemessen an den Löhnen — sehr teuer. Das Gros der Bevölkerung muß das Familienbudget
sehr genau einteilen, um damit das Auslangen zu finden.
Der Besucher jedoch, der nicht an der Entdeckung von neuen Bademöglichkeiten, an bisher unbekannten Weingegenden allein interessiert ist, sondern sich mit der Geschichte vertraut machen will, möge zur Preßburger Burg hinaufsteigen und sich dessen bewußt werden, daß zu seinen Füßen ein Schauplatz großer welthistorischer Ereignisse liegt. Gleich, ob er von dort nach dem Westen oder Osten blickt, sieht er ein Gebiet, an welchem sich in der Vorzeit, in den Tagen des Mittelalters bis in die neueste Epoche, Völker um Völker drängten und verdrängten.
Von hier aus drangen die Teutonen und die Cimbern gegen die Alpen und verwüsteten die römischen Provinzen. Uber die blühenden Gestade zu Füßen der Burg von Preßburg fegte der furchtbare Orkan der Völkerwanderung dahin. Von hier aus zogen die Goten nach Rom, die Hunnen nach den Kata- launischen Feldern, von hier zogen
die Markomannen, die Awaren, die Quaden, die Herkuler, die Suewen und wie sie alle hießen hinaus, um ein kurzes Gastspiel auf der Bühne der Weltgeschichte zu geben, um zu herrschen und zu beherrschen und wieder unterzugehen.
Hier hat die Donau die gleiche Bedeutung im Dasein , der Völker wie im Westen der Rhein. Trennend — aber verbindend
SCHEUEN WIR UNS NICHT vor Gesprächen mit den Menschen in Preßburg. Daß der TV-Antennenwald an den Giebeln der alten Häuser von Preßburg wie den Dächern der modernen Zweckbauten nach dem Westen gerichtet ist, soll uns eine Verpflichtung auferlegen, denn dies bedeutet soviel, daß auch die heutigen Bewohner von Preßburg daran brennend interessiert sind, das zu sehen und zu hören, was Wien als Ausfallstor des Westens ihnen zu bieten vermag.
Bei diesen Gesprächen werden wir erstaunt, ja sogar beschämt feststellen, daß die Leute drüben viel mehr von uns wissen als wir von ihnen, daß sie uns besser kennen und daß sie bedeutend mehr von uns erwarten, als wir ihnen zu geben imstande oder bereit sind.
Für die Zukunft ist es gefährlich, wenn wir so wie bisher, in kulturellen wie auch in wirtschaftlichen Belangen nur zu geben, aber nicht zu nehmen bereit sind. Heute sind wir den Preßburgern materiell noch bei weitem überlegen. Sind wir es auch noch ideell?
Man soll sich mit den Künstlern, die dort seit allerneuestem dem Volke etwas zu sagen haben und auch angehört werden, unterhalten, um sich der erschreckenden geistigen Leere, die bei uns immer mehr und mehr Platz ergreift, bewußt zu werden.
Jahrzehntelang war der Westen für die Menschen nördlich der Donau nur durch verschiedene Propagandasender erreichbar. Nun können sie mit uns, für die ein Zipfel des Eisernen Vorhanges auf gehoben wurde, auch sprechen. An uns liegt es, daß aus diesen vorsichtigen Abtastungsversuchen mit jenen „drüben“ auch Gespräche werden. Echte Gespräche von Mensch zu Mensch
DANN WIRD ES WIRKLICHKEIT, was ein alter Preßburger, den ich früher nie gesehen hatte, mit Tränen in den Augen, aber mit freudiger Stimme vor dem alten Krönungsturm zu mir sagte: ..Wissen Sie, was euer Besuch für uns bedeutet? Daß wir noch immer, besser gesagt, wieder, zu Europa gehören ..