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Die Verwilderung

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Spätere Historiker werden, sofern es in Zukunft noch einige Freiheit des Urteils und der Kritik geben sollte, unserem Jahrhundert seine Verwilderung vorwerfen. Sie hat leider mit der 30jährigen Kriegsepoche keineswegs aufgehört. Unmenschlichkeit, Verfolgung, Unterdrückung, Folterung, Mord scheinen zu den politischen Sitten unseres Jahrhunderts zu gehören. Es gab einst völkerrechtliche Regeln, die gewisse Exzesse gegen die Zivilbevölkerung, gegen die Kriegsgefangenen, ja sogar bestimmte Kriegshandlungen, wie die Bombardierung von offenen Städten aus der Luft und die Torpedierung von Handelsdampfern ohne vorherige Warnung, nicht gestatteten Es gab die Regeln des Rechtsstaates, die willkürliche Verhaftung, administrativen Freiheitsentzug, Verurteilung ohne Verteidigung, Folterung von Gefangenen und dergleichen nicht zuließen. Es gibt internationale Verträge, wie die Rotkreuzkonven- tion, in denen sich Staaten zur Befolgung bestimmter Verfahrensweisen gegenüber Gefangenen, Verwundeten, Zivilisten verpflichtet haben. Es gibt eine Auffassung von Menschenrechten, die ebenfalls in internationalen Konventionen niedergelegt sind.

Wer der Meinung ist, daß es immerhin noch besser sei, wenn solche Regeln, Rechtsauffassungen, Konventionen, Abkommen überhaupt existieren, weil sich die mit ihrer Anwendung betrauten Instanzen auf sie berufen und diejenigen Regierungen, die dagegen Verstoßen, zu ihrer Befolgung ermahnt werden können, hat in der verwilderten Zeit, in der wir leben, nicht einmal so unrecht. Wenn das Internationale Komitee vom Roten KreuZ oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, jeder in seinem Zuständigkeitsbereich, sich auf diese Unterzeichneten und ratifizierten Verträge berufen kann, wenn er einen bestimmten Staat zu ihrer Einhaltung ahhält, mag das in der Tat besser sein, als wenn nichts da wäre, auf das man sich berufen kann. Selbst wenn es unmittelbar nichts nützt und von der betroffenen Seite schnöde abgelehnt wird. Aber es ist tragisch, daß solche Ohnmacht gegen Unrecht und Willkür fast Tag für Tag zur Kenntnis genommen werden muß.

Für den einfachen Bürger stellt sich nämlich die Frage, wie er sich diesen Zuständen gegenüber verhalten soll. Bereits seit dem ersten Weltkrieg ist der Protest, das Manifest, der Aufruf, der Remedur fordert oder der Empörung über diesen oder jenen krassen Fall Ausdruck gibt, eine weitverbreitete Art der Stellungnahme. Heutzutage sind die Protestversammlungen, die Straßenkundgebungen, die Demonstration vor öffentlichen Gebäuden oder fremden Botschaften, auch die zur Nachtzeit an Mauern angebrachten Schlagwörter überall auf der Welt an der

Tagesordnung. Niemandem wird man die Aufrichtigkeit seiner Empörung absprechen, aber viele erschrek- ken — begreiflicherweise —, wenn Automobile und Gebäude angezündet, Bomben gelegt, Güter zerstört und Menschenleben gefährdet werden. Die Anwendung von Gewalt ist nicht mehr ausschließlich das Vorrecht polizeilicher Instanzen und militärischer Befehlsstellen, sie ist seit einiger Zeit anscheinend auch ein „Recht" (das man in Anführungszeichen setzen muß, weil es gesetzwidrig ist) der protestierenden Schwachen und Unterdrückten. Der gehobene Bürger, der namhafte Gelehrte oder berühmte Schriftsteller, der Politiker, Rechtsanwalt oder Arzt zieht es vor, anstatt auf die Straße zu gehen, einen Aufruf zu unterzeichnen. Er wird es mit ebensogutem Gewissen tun wie die Manifestanten, die an einer mehr oder weniger friedlichen Straßenkundgebung, an einem „sit in“ oder gar an einem Aufruhr teilnehmen.

Das Bedauerliche dabei ist, daß diese Demonstranten und diese unterschreibenden Persönlichkeiten zwar zu ihrer Meinung stehen und ihr Gewissen beruhigen, indem sie das Unrecht anprangern, aber selten damit etwas erreichen. Immerhin wäre es schön, wenn gegen jede Art Unrecht, Willkür, Unterdrückung und so weiter, ohne Ansehen der Partei und des politischen Regimes protestiert würde. Aber die Feinde des Unrechts teilen sich offensichtlich in zwei Lager. Man kann nämlich unschwer Voraussagen, wer bei dieser oder jener Protestkundgebung nicht dabei ist. Man kann sogar im voraus sagen, welche Zeitung, welche Radiostation, welche Presseagentur beispielsweise nur gegen die Russen, nur gegen den Vietkong, nur gegen die Araber protestiert. Man kann sogar die Behörden nennen, die nur ganz bestimmte Demonstrationen und öffentliche Kundgebungen tolerieren oder begünstigen, während sie die anderen verbieten. Und zweifellos kann man auch unschwer erraten, von welchen Kreisen die Proteste gegen die griechische Militärjunta, gegen die Militärdiktatur in Brasilien, gegen Franco-Spanien, gegen Saigon und gegen die Amerikaner, auch gegen Israel ausgehen. Ich bezweifle keineswegs, daß fast ausnahmslos alle diese Proteste berechtigt sind. Traurig ist, daß es nie die gleichen sind, die gegen das eine oder gegen das andere „Lager“ protestieren und manifestieren.

Was soll man nun eigentlich tun? Schweigen? Nicht demonstrieren? Nicht unterschreiben? Oder sich einmal in die Gesellschaft der einen, dann wieder in die Gesellschaft der anderen begeben? Die letzte Lösung wäre zweifellos die gerechteste, die menschlich anständigste. Merkwürdigerweise ist es die, die am wenigsten verstanden und gebilligt, ja von der Mehrheit getadelt würde.

Seien wir ehrlich: auch diese bereits allgemein eingerissene Sitte, mit zwei Ellen zu messen, gehört zur moralischen Verwilderung unserer Zeit — und unserer Zeitgenossen. Justitia wird mit verbundenen Augen, mit der Waage in der einen, mit dem Schwert in der anderen Hand dargestellt. Schlimm ist, daß im Grunde den meisten Zeitgenossen Justitia gleichgültig ist, weil sie ihr politisches Engagement, das heißt letzten Endes ihre persönliche Meinung und ihr Interesse über die Ge-rechtigkeit stellen. Die Unterdrük- kung der Freiheit in der Tschechoslowakei empört uns. Aber die gleichen, die täglich lautstark und ausführlich am Radio und in der Presse dieser Empörung Ausdruck geben, scheinen die Unterdrückung in Griechenland, in Brasilien und anderswo für entschuldbar oder nebensächlich zu halten. Es scheint nämlich in den Augen solcher Zeitgenossen auch gute Willkür, gute Freiheitsberaubung, gute Folter, gute Greuel zu geben. Das ist es, was nachdenklich stimmt. Und ich drücke mich milde aus. Denn Ist es nicht so, daß in unserem Jahrhundert der politische Gegner verteufelt wird, wenn es nur der Gegner ist? Und daß der politische Freund weißgewaschen wird, wenn es nur der Freund ist? Ist es nicht so, daß gar nicht Menschlichkeit und Menschenrecht, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit das Urteil unserer Mitmenschen bestimmen, sondern Vorurteil, Haß, Leidenschaft?

Wir sollten ernstlich beginnen, auch diese Erscheinung als eine Verwilderung der politischen Sitten und des menschlichen Gewissens aufzufassen. Wir sollten uns selber gut prüfen, ehe wir auf die Straße gehen, an Versammlungen teilnehmen, unseren Namen unter einen Aufruf setzen. Wir sollten dem Radio, dem Fernsehen, den Zeitungen, den Parteispitzen, den Behörden Briefe schreiben, in denen wir sie darauf aufmerksam machen, daß sie mit zwei Ellen messen und den Balken nur in den Augen des Gegners, im eigenen Auge aber höchstens den Splitter sehen (falls sie ihn überhaupt wahrnehmen, was schon der Anfang der Gerechtigkeit wäre).

Die richterliche Unabhängigkeit ist in der Verfassung garantiert, der Richter ist an keine Weisung gebunden und darf keiner Weisung folgen? Ein österreichischer Richter erklärte in einer mündlichen Urteilsbegründung, er sei leider gezwungen, eine verhältnismäßig schwere Strafe zu verhängen, da das Justizministerium „in Anbetracht des Überhandnehmens derartiger Delikte“ auf strenge Bestrafung gedrungen habe.

Freud erklärte, daß „unabsichtliche Versprecher“ gegen den eigenen Willen ausgesprochene Wahrheiten sind. Hoffen wir, daß es sich bei den zitierten Aussprüchen um Freudsche Fehlleistungen der österreichischen Justiz handelt, um unabsichtlich ausgesprochene Wahrheiten, die eigentlich verborgen bleiben sollten. Oder haben wir noch immer oder schon wieder Richter, die im vollen Bewußtsein dessen, was sie sagen, kundtun, wie sie über , die Grundsätze, zu deren Wahrung sie verpflichtet sind, denken?

Es könnte sich natürlich um vereinzelte schwarze (oder andersfarbige) Schafe im Talar handeln. Aber in diesem Falle müßte man doch irgendwann einmal von entsprechenden Reaktionen „höchster Stellen“ hören.

Wenn sich ein kraft unserer Verfassung nicht weisungsgebundener Richter auf die Weisung eben jener „höchsten Stellen“ beruft, wird die Sache freilich unheimlich.

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