Die Verzerrung des NORMATIVEN

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"Versagt haben hier die politischen Institutionen, die 'den normativen Umbau des Staates' durch die Nationalsozialisten möglich machten. Hierin liegt auch die Lehre für die Gegenwart."

Nürnberger Prozesse

NS-Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren im Fokus der Prozesse, die zwischen 1945 und 1949 stattfanden.

Gerechtigkeit ist ein großes Wort: eines von jenen, deren Vieldeutigkeit Ambivalenzen und die Notwendigkeit von Argumenten mit sich bringt. Wenn der SS-Richter Konrad Morgen von sich sagt, er sei ein "Gerechtigkeitsfanatiker", erscheint dies auf den ersten Blick als Widerspruch in sich.

Für die Wiener Philosophin und Ethikerin Herlinde Pauer-Studer und ihren Kollegen, den New Yorker Philosophen David Velleman, erwies sich die bisher unbekannte Geschichte dieses SS-Richters als hilfreicher Fund, lässt sich doch an dem Beispiel seiner Biographie die "Verzerrung der Normativität" durch den NS-Staat gut nachzeichnen. Das Ergebnis lässt sich in der beeindruckenden und sehr lesenswerten und lesbaren Fallstudie zum Verhältnis von Recht und Moral unter dem Vorzeichen von Ungerechtigkeit nachlesen. Akribisch zeichnen Pauer-Studer und Velleman das komplexe Netz von Loyalitäten und Eigensinn nach, in dem sich Morgen bewegte - all dies unter dem Vorzeichen der Pervertierung des Rechts durch die NS-Ideologie.

Massenvernichtung ja, Korruption nein

Konrad Morgen war ab 1940 Teil der SS-Gerichtsbarkeit, die im System des NS-Staates eine Sonderrolle hatte. Denn nach den Worten Heinrich Himmlers habe man zwar das "moralische Recht","dieses Volk" - die Juden -umzubringen. Doch habe niemand das Recht, sich persönlich am Besitz von Juden bereichern. Dies blieb dem NS-Staat vorbehalten. So fuhren etwa von Auschwitz wöchentlich mehrere Güterzüge voll mit Preziosen und Nützlichem nach Berlin.

Als SS-Richter im besetzten Polen war Morgen von 1941 bis 1942 beauftragt, Korruption auch unter hochrangigen SS-Offizieren zu verfolgen. Dies erledigte er mit großem Einsatz, aber nicht zur Freude der Vorgesetzten. Himmler enthob ihn im Mai 1942 des Amtes und schickte ihn als einfachen Soldaten an die Ostfront. Im Juli 1943 wurde Morgen jedoch von Himmler beauftragt, finanzielle Unregelmäßigkeiten in den Konzentrationslagern zu verfolgen. In Buchenwald fand er Hinweise auf systematische Ermordungen von Häftlingen durch einen früheren Lagerkommandanten. Die Spur führte ihn nach Auschwitz, "wo er sich mit der industriellen Massenvernichtung der Juden konfrontiert sah", so Pauer-Studer und Velleman. Da er dagegen nicht direkt vorgehen konnte, versuchte Morgen, unter anderem Rudolf Höß und Adolf Eichmann wegen kleinerer Delikte anzuklagen, letzteren wegen Unterschlagung von Diamanten aus jüdischem Besitz. Dies bestätigte Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem.

"Leben als höchstes Gut"

Konrad Morgens Geschichte ist durch seine Untersuchungsberichte an die SS-Führung wie auch durch seine Zeugenaussagen beim Nürnberger Prozess und bei anderen NS-Prozessen der Nachkriegszeit gut dokumentiert. Er selbst sah sich als fanatischen Verfolger der internen Korruption der SS, der er seit 1933 angehörte. Morgen kritisierte die NS-Rassenideologie nicht, doch optierte er für "Leben als höchstes Gut" egal welcher Person, auch von Juden im KZ.

Dass er trotzdem indifferent gegen die staatlich sanktionierte Gewalt gegen Juden blieb, lag nicht am Rassenhass, sondern an seinem Rechtsverständnis. Im NS-Staat sollten Gesetze nur als Richtlinien der Urteilsfindung dienen, der Richter war angewiesen, sich an der hinter dem Gesetz stehenden "völkischen Moralordnung" zu orientieren. Nicht objektiv feststellbare Straftaten wurden bestraft, sondern persönliche Haltungen. Während der liberale Staat neutral gegenüber persönlichen Werthaltungen und Weltanschauungen ist, legitimierte die NS-Ideologie durch "die geforderte Einheit von Recht und Sittlichkeit den Zugriff des Staates auf die innere Haltung der Bürger und erweiterte die Macht des Regimes", so Pauer-Studer und Velleman. Entsprechend beurteilte Morgen gelegentlich Straftaten milder, wenn der Charakter des Angeklagten "anständig" war.

Dann kam Morgen nach Auschwitz. Zollbeamte hatten in einem Päckchen, das von Auschwitz an eine Privatadresse geschickt worden war, größere Mengen Zahngold entdeckt. Dass das Zahngold getöteter Häftlinge gesammelt wurde, war bekannt. Morgen vermutete, dass die Menge von 50.000 bis 100.000 Leichen stammen musste -und somit das Ergebnis eines Massenmordes war. In Auschwitz-Birkenau angekommen, realisierte er, dass es sich um eine von Hitler angeordnete Massenvernichtung handelte. Morgen kritisierte vor allem die korrumpierende Wirkung des Massenmordens auf die Ausführenden. Dies werde zur Quelle von Kriminalität, die "den Staat unmittelbar in den Abgrund" führen würde, wie er an einen Vorgesetzten schrieb.

Im April 1945 gelang es Morgen zunächst zu flüchten. Im September 1945 stellte er sich den Amerikanern. Beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess sagte er als Zeuge der Verteidigung aus. 1948 wurde er aus der Haft entlassen und 1950 entnazifiziert. Bis zu seinem Tod 1982 arbeitete er wieder als Rechtsanwalt.

Vielfache Zitate aus Berichten Morgens an die NS-Behörden und Auszüge aus den Vernehmungsprotokollen der Nürnberger Richter geben eine sehr direkte Schilderung der Zeit. Morgen hat eine Witterung für Kriminelles, doch fehlt ihm jeder Sinn für soziale und politische Ungerechtigkeiten. Pauer-Studer und Velleman resümieren: "Sein moralisches Bewusstsein war zu selbstbezogen und ideologisch verformt, um kritischer Distanz und unparteilicher Reflexion zugänglich zu sein. Letztlich zeigte sich sein Gerechtigkeitsverständnis der systematischen Inhumanität, die ihn umgab, nicht gewachsen."

Als Richter sah sich Morgen dem Recht des NS-Staates verpflichtet, ein Recht, das durch politische Ideologie kontaminiert war. Die Nürnberger Rassengesetze hatten den Gleichheitsgrundsatz ausgehebelt. Die kritische Funktion der Moral wurde durch ideologische Moralisierung matt gesetzt, und jemandem wie Morgen fehlte die Fähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden.

Der lange Schatten der NS-Zeit

Es ist eine "Verzerrung der Normativität": Handlungen, die heute als Paradebeispiel des Verbrecherischen und Verabscheuenswürdigen gelten, waren dies in der NS-Zeit nicht. Wäre ihre Immoralität damals allgemein einsichtig gewesen, wären diese Verbrechen vermutlich nie begangen worden. Versagt haben hier die politischen Institutionen, die "den normativen Umbau des Staates"(Pauer-Studer und Velleman) durch die Nationalsozialisten möglich machten. Hierin liegt auch die Lehre für die Gegenwart.

Die langen Schatten der NS-Zeit und des Krieges haben sich in vielen Biographien niedergeschlagen und als traumatische Erfahrungen an die nächsten Generationen weitervererbt, wie nun deutlich wird. In den Fallgeschichten, die die bekannte Traumatherapeutin Luise Reddemann in ihrem Buch "Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie" erzählt, wird immer wieder gefragt, wie mit der Generation der Täter - den eigenen Eltern und Großeltern -umzugehen sei. Es ist wichtig, so Reddemann, dieses Erbe zu verstehen, aber auch, es auszuschlagen. Diesen Prozess der Selbstermächtigung kann die Studie zu Konrad Morgen unterstützen. Er ist kein "typischer" NS-Täter, sondern jemand, dessen moralische Urteilskraft nicht ausreicht.

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