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Die Waffen umkehren!

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Hätten wir es in diesen Tagen mit einer der großen Krisen vergangener Jahrzehnte zu tun, mit einem Ereignis vergleichbarer historischer Konstellation, zu dem eine Parallelziehung möglich wäre dann stünde es außer Zweifel: Wir hätten den dritten Weltkrieg — den letzten großen Krieg des Menschengeschlechtes wahrscheinlich — vor der Tür. Selbst wenn es in diesem Herbst noch einmal zu dem vielerorts schon beim Namen genannten „München“ käme der moralischen Preisgabe West- Berlins und zum Zusammenbruch der atlantischen Position in der Mitte Europas —, wäre dieser Krieg nicht mehr aufzuhalten. Die sich dynamisch von Land zu Land übertragenden Entwicklungen würden den Westen binnen kürzester Frist so gegen die Wand drängen, daß er mit dem Mut der Verzweiflung den Schlag wagen müßte. Die Mächte, die sich immer in Parallele zu 1938/39 gesprochen — nicht für das ihnen uninteressant erscheinende Wien und Prag schlagen wollten, mußten dies für das kaum nähere Danzig tun.

Nun gibt es aber keine vergleichbare Situation zu der unseren. Es gibt keine flächigen Landkarten mehr, sondern nur mehr Globen. Und auch das Schlagwort Ost-West ist jenseits unseres begrenzten Sichtbezirkes ungültig geworden. Ebenso aber weigern wir uns mit gutem und überlegtem Grund, die Sowjetunion mit Hitler- Deutschland zu vergleichen. Nur wer sich von dieser falschen historischen

Fixierung losmacht, kann das grundlegend Neue und Einmalige der gegenwärtigen Situation begreifen. Hitler war — ebenso wie die meisten nationalen Eroberer vor ihm — nicht imstande, seine Ziele bis zur letzten Konsequenz zu durchdenken: nicht einmal vor sich selbst. Von der „Heimholung aller Deutschen" ging es zwangsläufig zur Dominanz des Reiches in Europa bis zur Wahnwitzidee der nordischen Vorherrschaft in aller Welt bei gleichzeitiger Liquidierung gewisser Rassen und Dauerversklavung ganzer Kontinente. Krieg bedeutete für Hitler einen an sich geplanten Faktor in der Rechnung, eine Art Dauerzustand der heilsamen Anspannung für die zur Herrschaft berufene Oberschicht. Angesichts einer solchen Zielsetzung mußte jeder Gedanke an echte Verhandlung, jeder Versuch eines Vertragsabschlusses, ja überhaupt jede Gesprächssituation Torheit und verbrecherische Feigheit heißen. Das Wort, zu dem sich der lavierende Daladier — viel zu spät — aufraffte, gab die einzig denkbare Antwort: „II faut en finir“ . . . Damit muß einfach Schluß gemacht werden.

II.

Wodurch unterscheidet sich nun die heute der (in der reinen Defensive befindlichen) freien Welt gegenüberstehende sowjetische Befehlszentrale so grundlegend von Hitler, daß uns die fatale Parallele abwegig erscheint? Keineswegs durch ihre Harmlosigkeit oder mangelnde Entschlossenheit: Wir sind der festen Über- . Zeugung, daß ihr Sprecher Chruschtschow — der allerdings keineswegs ein allmächtiger „Führer“ ist — nicht bramarbasiert und blufft, sondern daß er das — genau das —, was er sagt, auch will und bereit ist, es mit allen denkbaren Mitteln zu erreichen. Nur einen grundlegenden Unterschied gibt es: Die kommunistische Lehre, die ja keine beliebige Doktrin ist, sondern eine den Menschen total und existentiell erfassende Einheit von Theorie und Praxis, steht und fällt ~ mit dem Glauben an die Unausweichlichkeit einer kommenden Gesellschaftsordnung. Das mathematisch-kühle Wort „Wir leben nach 1917 in einer Zeit, in der alle Wege zwangsläufig zum Kommunismus führen“ — hat Molotow kurz nach dem zweiten Weltkrieg gesprochen. Es prangt als Transparent weniger auf den Straßen als in den Eliteschulen der kommunistischen Führungskader, weil es nicht nur die persönliche Überzeugung des in seinen Methoden, nicht in seiner politischen Gesinnung umstrittenen „Hämmerers“ wiedergibt. Gewiß wird zur Erreichung dieses Zieles jedes Mittel, auch das der Gewalt und des Terrors grundsätzlich bejaht — aber eben nur als ein Mittel. Im Prinzip hält der Kommunismus daran fest, daß sich seine Ziele, die zwar grundsätzlich eine totale Revolution der bestehenden Gesellschaft bedeuten, auf rein politischem Wege kraft der der heute herrschenden Gesellschaft innewohnenden Widersprüche verwirklichen lassen. Die Sowjets glauben als fanatische und begabte Schachspieler daran, die Partie regulär gewinnen zu können. Die Möglichkeit, das Brett mit allen Figuren einfach umzuwerfen, wenn die Partie für sie schlecht steht, existiert in ihrem Weltbild, dessen unumstößlich religiöses Zentrum die dialektische Logik bildet, nicht. Genau das ist der Unterschied zum Irrationalismus, der in Hitlers Tagen die Welt bedrohte.

Nun beweisen sehr reale Vorfälle der Geschichte seit 1945 — man denke nur an den 4. November 1956 in Budapest —, daß es auch mit den Sowjets keine Verhandlungsbasis zu geben scheint. Wer immer das Teilabkommen, wer immer „seinen Frieden“ mit ihnen sucht oder sich „rückversichern“ will, kommt unter die Räder. Er wird entweder als Marionette und willenloser Mitläufer einverleibt oder im Falle des später auf tauchenden Widerstandes liquidiert. Jedes Teilabkommen wird von den Sowjets, die eine globale Situation ansteuern, nur als zeitlich begrenzt angesehen. Nicht ganz zu Unrecht gehen sie dabei von der Voraussetzung aus, daß auch der Vertragspartner sich nur auf Zeit bindet. Der Klassenkampf als das bestimmende Merkmal der menschlichen Gesellschaft — zwischen Urkommunismus und Zukunftskommunismus allerdings nur — geht unweigerlich weiter. Und jeder nichtsozialistische Staat — mag er sich neutral nennen oder nicht — ist für den Kommunismus ein Instrument der zu überwindenden Klassengesellschaft. Das, worauf Chruschtschow in weitgehender Übereinstimmung mit allen bestimmenden Kräften des kommunistischen Lagers jetzt zusteuert, ist die totale Heraus forderung zur totalen Verhandlung. Er will weder Land noch Stützpunkt, weder Einzelvertrag noch Moratorium, er will die Welt nicht mit Armeengewalt erobern und als ein siegreicher Feldherr die rote Fahne auf dem Kapitol zu Washington aufpflanzen, sondern er will dem Erdball jene Ordnung aufzwingen, die die große Auseinandersetzung der Gesellschaftskonzepte erst möglich macht.

Die von ihm selbst an die noch lebende Generation ausgestellten Wechsel sind fällig geworden. Nun hat er — und das erklärende Sowjetdokument spricht in einem sonst kaum gebräuchlichen Ton von „tiefstem Nachdenken“, das dem Entschluß zur Aufnahme der Atomversuche vorausging — zur Erreichung dieses Zieles etwas gewagt, was zugleich die schwerste innere Bedrohung des kommunistischen Heilsystems selbst darstellt: Er hat sich vor der Instanz seiner eigenen Ethik ins Unrecht gesetzt. Hitler war es gleich und konnte es gleich bleiben, ob er sich gegen den einen oder anderen der Bräu- stübelparagraphen seines „Programms“ verging. Wo gab es außer dem Willen des Führers eine moralische Instanz, vor der man sein Handeln verantworten mußte oder auch nur konnte? Anders, ganz anders hier: Was immer auch der Kommunismus seit 1917 tat, vom Terror der Tscheka bis Budapest, er konnte es dialektisch als unausweichliche Notwendigkeit, die von einer feindlichen Umwelt aufgezwungen wurde, begründen und vor der Instanz des eigenen Selbstverständnisses rechtfertigen, schlimmstenfalls, wie im Falle des Stalinismus, als administraven Fehler im nachhinein korrigieren und „selbstkritisch“ ausmerzen. Die’ Zurückweisung des anglo-amerikanischen Vorschlages, der unbeschadet aller Rüstungsvorhaben nur vorschlug, die nachweisbar Leben und Gesundheit einer völlig unschuldigen Umwelt bedrohenden Versuchsexplosionen in der Atmosphäre einzustellen, läßt sich nicht mehr rechtfertigen. Dieser Zustand muß auch und gerade für die radikal-innerweltliche Moral des Kommunismus brennend unerträglich sein. Er kann im Plan Chruschtschows keine Dauer haben.

Jetzt und hier ist aber auch die Stunde des Westens gekommen. Gerade jetzt muß der Fehdehandschuh aufgenommen werden. Chruschtschows Atomdrohung ist, wenn nicht alles trügt, imstande, jene moralische Weltmobilmachung zu bewirken, um die sich die Parteiredner und Wanderprediger, die bei allem guten Willen doch immer nur einen Teil der Men schen erreichen konnten, vergeblich bemühten. Die neuesten Meldungen besagen, daß Kennedy das einzig richtige Forum für seine Antwort an die totale kommunistische Herausforderung gewähr hat: das Rund der UNO. Diese Stätte kann über das schwerfällige bürokratische Gebilde herauswachsen und zum Weltforum werden, wenn Kennedy dort die Herausforderung mit einer eigenen beantwortet: Die Sowjets haben in allen Teilphasen der Abrüstungsverhandlungen immer wieder betont, daß sie weder bei den Kontrolltests noch bei den Inspektionen der konventionellen Rüstungen Konzessionen machen könnten, sondern daß eine wahre Verständigung nur auf der Basis des umfassenden Abrüstungsplans Chruschtschows möglich sei, den dieser im Vorjahr der ÜNO vorgelegt hatte. Nun hat Chruschtschow selbst den Abrüstungsgedanken rüde desavouiert und offen an die Gewalt der Waffen appelliert. Wir billigen ihm zu, daß er dies nicht aus amoklaufender Kriegslüsternheit getan hat, sondern um mit diesem Weltschock das Weltgespräch zu erzwingen. Mag er aber nun subjektiv denken und wollen, was immer beliebt: objektiv hat er sich nicht nur vor der Welt, sondern auch vor der kommunistischen Moral vergangen. Die Stunde der Gegenoffensive ist da. Kennedy kann als Sprecher der freien Welt nun einen eigenen Friedensplan vorlegen. Es wird ihm und uns nichts anderes übrigbleiben, als die kommunistische Herausforderung global anzuerkennea und sie mit dem Gegenbeweis zu beantworten, wofern wir eben das ernst nehmen, zu dessen Verteidigung wir aufgerufen sind.

Is war kein Geringerer als der als „starr“ verschrieene Präsident de Gaulle, der diesen Gedanken aufgriff, als er die Atomversuchsfrage ausdrücklich als Teil des Gesamt komplexes der Abrüstung bezeichnete.

Chruschtschow wird diesen Friedensplan Kennedys annehmen müssen. Es wird ihm — das ist unsere feste Überzeugung — nichts anderes übrigbleiben, als die Atomversuche wieder einzustellen, wenn er nicht vor der inneren Instanz des Kommunismus selbst bankrott machen will. E r wird es in der an Gewißheit grenzenden Überzeugung tun, damit den Weltsieg in der Tasche zu haben. Die Last des Gegenbeweises liegt freilich bei uns, die wir glauben, daß die gesamte innerweltliche Heilslehre des Kommunismus gerade in der offenen Auseinandersetzung mit der freien Gesellschaft der Menschen innerhalb einer abgerüsteten Welt erst recht in sich zusammenbrechen wird.

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