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Die Wahrheit ist kein Aspirin

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Aus dem in Preßburg erscheinenden Wochenblatt „Kulturny život” (Das Kulturleben) geht hervor, daß in der letzten Zeit alle Nummern der Zeitschrift vergriffen waren. Die Administration konnte ihren Bewerbern keine Zeitschriften zustellen. Die Wochenzeitschrift ist stets vergriffen, der Leserkreis wächst. Das ist keine alltägliche Angelegenheit. Warum besteht so ein Interesse?

Es hat den Anschein, daß bei dem Abbau des Personenkults in der CSSR gerade die Gruppe um diese Zeitschrift, die Gruppe der Intellektuellen, die durch, den-Personenkult am meisten betroffen wurden,, die Initiative in ihre Hände nahm. Gegenwärtig wird in der CSSR weniger auf die schrecklichen Folgen des Personenkultes in der Sowjetunion hingewiesen, als auf die unseligen Folgen, die dieser Kult 1949 bis 1954 allein in der CSSR hatte. Es ist bekannt, daß einige politische Funktionäre der Partei wie Bacilek, Köhler und Slavik als Hauptanführer des Kultes von der Szene gezogen wurden.

Der größte Teil der kommunistischen Intellektuellen wie dementis, Husak, Okali und Novomesky sind in der Slowakei des bourgeoisen Nationalismus angeklagt worden und dem Personenkult zum Opfer gefallen. Einige von ihnen, wie dementis und Horvath (1961 im Gefängnis gestorben), haben es mit dem Leben bezahlt, andere mit jahrelangem Kerker. Nach ihrer Rehabilitation wurde ihnen die Zeitschrift „Kulturny život” zur Tri- bühne, und weil gerade sie damals am meisten betroffen wurden, werden sie jetzt zu den Initiatoren des Abbaues von Personenkult.

Eine erste Schwalbe

Schon im Jänner dieses Jahres hat das „Kulturny život” einen überraschenden Artikel gebracht, worin der Personenkult angeprangert wird, die Zeit, „in welcher das Gewissen für überlebt gehalten wurde”. Später, im März, schrieb S. Faltan in derselben Zeitschrift ganz offen: „Der Personenkult hat die menschlichen Beziehungen bedenklich deformiert”, „die seinerzeitigen Beschuldigungen wurden nicht mit Fakten belegt” und „eine ganze Reihe von Dokumenten war nicht zugänglich”. („Kulturny život” vom 23. März 1963.)

Diese sporadischen’ Stimmen drangen auch in anderen Zeitschriften durch, wie zum Beispiel in den „Slowakischen Blicken”, und fanden im Laufe der Zeit einen Widerhall in der ganzen Republik. Das Vorspiel bildete das Treffen der tschechischen Schriftsteller. Bei solchen Treffen mußte der Delegierte des Zentralkomitees, der zur Kontrolle der Situation anwesend ist, meist die Anwesenden beschwichtigen und besänftigen Diesmal mußte aber der Delegierte Cisar die Debatte antreiben, die anwesenden Schriftsteller zum Sprechen aufmuntern, damit sie sprechen, weil die Parteiführung angeblich wissen möchte, was sich die Schriftsteller denken. Die Schriftsteller hatten jedoch keine Lust dazu. Sie waren vorsichtig, verängstigt und gleichgültig.

Die Ursachen zu solch einer Stellungnahme sind in deT Vergangenheit zu suchen. Schon 1956, nach dem XX. Parteitag in Moskau, kam es auch in der CSSR zu einer gewissen Auflockerung. Sie war aber nur von kurzer Dauer. Sehr bald wurde der Funke nicht nur erstickt, sondern die Zügel wurden noch straffer angezogen.

Diejenigen, die für die Lockerung eintraten, wurden des Revisionismus bezichtigt. Über die Schriftsteller, die sich bei der II. Tagung offen ausdrückten, sagte man: „Es ist gut so, sie haben sich wenigstens selbst demaskiert!” Die Folgen haben sie dann zu tragen gehabt.

Dem „Neuen” entgegen

Zum Umbruch kam es erst in der Konferenz der slowakischen Schriftsteller in Preßburg am 22. April 1963. Die anwesenden Schriftsteller haben es vorwiegend hier erfahren, daß der Ausschluß des Poeten L. Novomesky aus dem Schriftstellerverband (vom 12. März 1951) annulliert worden ist.

Der gemeinsame Freund und Genosse dementis

In der Konferenz trat eine scharfe Kritik an dem Personenkult zu Tage. In die Diskussion griff auch A. Matuška, M. Chorvat, V. Minač und L. Mnafko als auch L. Novomesky selbst ein.

Novomesky kritisierte die Ära des Stalinkultes und sagte unter anderem: „Es ist auch noch Ärgeres geschehen, was für einzelne einen tragischeren und nicht wiedergutzumachenden Ausgang nahm… Und im Zusammenhangmft dem allen ist die Hoffnung, Sicherheit, Verständnis, ja auch die Ergebenheit aus dem Leben und Bewußtsein tausender und aber tausender Menschen entschwunden! Ich glaube, daß es jetzt darum geht, diesen Elementen, den Klassen, den Kommunisten und Nichtkommunisten im Sinne und im Denken unserer Leute die Mitgliedschaft zurückzugeben. Um diese Restauration zu bezahlen, ist kein Preis hoch genug… Kein Preis, der den Leuten die ganze, ungeschminkte und ungefälschte Wahrheit offen vorlegt, alles und über alles.” Außerdem erwähnte Novomesky „den gemeinsamen Freund und Genossen V. dementis…” Es geschah zum erstenmal seit der Hinrichtung, daß Clementis von jemandem so genannt wurde.

In der Konferenz wurde betont, daß man schon beim XII. Parteitag in Prag (am 4. Dezember 1962) festgestellt hat, daß die Beschuldigungen eines bourgeoisen Nationalismus überhaupt Mangel an realen Unterlagen gelitten haben und viele schuldlos verurteilt worden waren. (Dies hat die Öffentlichkeit erst jetzt erfahren.)

Von Preßburg nach Prag

Die Preßburger Konferenz war nur eine Vorbereitung zur ganzstaatlichen II. Tagung der tschechoslowakischen Schriftsteller in der Zeit vom 22. bis 24. Mai in Prag. Der Delegierte Hendrych, der bei dieser Tagung den Zentralausschuß der KP vertrat, hatte sich zwar der neuen Welle etwas angepaßt, verabsäumte es aber nicht, die Thesen des Präsidenten Novotny zu betonen, nach denen der Personenkult eine sehr komplizierte Angelegenheit ist. „Um ihn zu beseitigen, muß man das Spontane, den kleinbürgerlichen.

Radikalismus und die revisionistischen Tendenzen meiden, damit der Klassenfeind die entblößten Stellen nicht anfallen könne.” Die, im Jahre 1956, langsame Entstalinisierung bemühte sich Hendrych mit der Behauptung zu entschuldigen, daß damals „auf Grund der feindlichen Taktik die vorderste Kampflinie gegen den Revisionismus gerichtet werden mußte”.

Es ist jedoch nicht gelungen, „die Beratungen in der Tagung in einen engen Strom von Fachproblemen literarhistorischer, literarwissenschaft- licher und ständischer Existenzbedingungen hineinzuzwängen”, worum sich manche, nach der Behauptung von M. Chorvat, bemühten. Nach der einleitenden Relation des Schriftstellers I. Skala, in welcher er die Probleme im allgemeinen enthüllte, fingen auch die Schriftsteller an, sich kühner auszudrücken. Der Reihe nach entledigten sie sich der Befürchtungen, „der Hysterie und des Subjektivismus” pun- ziert zu werden, wie jene, die gegen den Personenkult kämpften.

„Wir haben uns an die Angst gewöhnt”

V. Minač analysierte die Stalin-Ära, die voller Angst war, samt ihrer moralischen Krankheit — der Persönlichkeitsspaltung — mit folgenden Worten: „Auch bei den Besten herrschte die Angst eines Glaubens, die Angst, wenn sie sich nicht genügend fürchten, wenn sie ihre eigenen Gedanken und Vorbehalte nicht an der Leine halten, wenn sie aus taktischen Gründen die Wahrheit in sich selbst nicht verleugnen, als auch die auffallenden Faktoren um sich herum nicht im Namen höherer Prinzipien unterdrücken, die Revolutionsbewegung zu schädigen. Dies ähnelte ziemlich einer Weltangst der Christen vor der Verdammnis! Und was noch ärger ist”, setzte Minač fort, „wir haben uns an die Angst schon gewöhnt. Sie wurde zu einem Bestandteil unseres Bewußtseins oder thronte gespensterhaft auf unserem Bewußtsein. Wir wurden plötzlich anders. Jemand hat uns das Hirn ausgetauscht. Der Mensch ging ins Private.” („Kulturny život”, 1. Juni 1963.)

In dieser Analyse ging dann K. Ptačnik noch weiter, indem er sagte: „Die Abgestumpftheit und den Schamverlust haben ‘wir zur Norm der Moral erhöht.”

In seiner Ansprache betonte Novomesky weiter: „Die Tragik liegt nicht in dem oder jenem, weil einer mehr und der andere weniger an die Lüge glaubte, sie aufnahm, einer vor Angst, der andere im guten Glauben, damit einer guten Sache gedient zu haben. Die Tragik der Dinge liegt darin, daß, im Falle der Schriftsteller, diese mit dieser Lüge die Leser überzeugten, eine ganze Generation getäuscht und irregeführt haben.”

Neue Beziehungen von Mensch zu Mensch

Die Meinung, daß die Menschen in der CSSR ihr Vertrauen und den Glauben an den Sozialismus und seine Moral verloren haben, haben auch Minač, Kohout, Kundera und andere ausgedrückt. Sie rufen allgemein nach einer Erneuerung der Beziehungen von Mensch zu Mensch, nach einer gesunden Atmosphäre, nach dem Verschwinden der Verdächtigungen, des Mißtrauens und der Angst. Weiter betonte Z. Jesenska: „Die Überwindung des Kultes und des Dogmatismus im Denken ist derzeit die wichtigste Aufgabe, wenn wir den Sozialismus wirklich innerlich erneuern wollen, ihm seine ursprüngliche Anziehungskraft zurückgeben und das erschütterte Vertrauen neu gewinnen wollen.”

Kohout erklärte weiter: „Was den Lebensstandard anbelangt, wurde in den letzten Jahren ein fühlbarer Schritt zurück gemacht,, und die Ökonomen werden beide Hände voll zu tun haben, eine Lösung zu finden, um die entwik- kelten kapitalistischen Länder einzuholen, um mit ihnen Schritt halten zu können.” Diese kritische Wirtschaftssituation in der CSSR als auch die weitverbreitete Apathie ist unumstritten ein Nährboden für eine Bewegung, die jetzt bei den Schriftstellern begann.

Novomesky forderte eine eindringlichere Entfernung des Personenkultes gegenüber der bisherigen Handhabung der Parteiführer. Novomesky sagte:

„Es ist eine Illusion zu denken, daß wir uns ganz leise, unbemerkt und wispernd des gewaltigen Fluches entledigen könnten, welchen der Personenkult durch seinen barmumischen Krawall über unser Leben installiert hat.”

Das polnische Beispiel

Zu dieser Frage drückte sich „Kulturny život” noch offener aus, indem es in einem seiner Artikel zum „polnischen Weg zum Sozialismus” Stellung nahm und in welchem es die Rückständigkeit der dogmatischen Vorstellungen über den universalen Weg zum Sozialismus verurteilte. Der Schreiber dieses Artikels konstatierte, daß der polnische Fall nur durchs Schlüsselloch vorgestellt wurde. Am Rande bemerkte er: „In Polen sagte man später, daß sich die Dogmatiker in zwei Hauptkategorien teilen: in politisch ehrliche, die in Konfrontation mit der Wirklichkeit ihre Stellungnahme noch ändern können, und in die, welche nur mehr der Sarg vom Dogmatismus befreien könnte. Die Logik der lezteren war folgend:

Die Massen sind nicht genug aufgeklärt.

Die volle Wahrheit würden sie nicht begreifen.

Die Enthüllung der Wahrheit würde der Klassenfeind gegen uns ausnützen.

Es steht im Interesse des Sozialismus, den Leuten die Wahrheit nur langsam, stufenweise, in kleinen unschädlichen Dosen zu verabreichen.”

„Kulturny život” fügt weiter hinzu, daß man die Wahrheit nicht wie Aspirin verabreichen kann. (18. Mai 1963.)

Es besteht kein Zweifel darüber, daß der Schreiber, den polnischen Fall kommentierend, ein klares Wort an alle derzeitigen führenden Politiker richten wollte, die sich an die Aspirintaktik halten. Bemerkenswert ist auch die Blitzenquete, mit welcher sich „Kulturny život ’ an die Teilnehmer der Prager Tagung wandte. Auf die Frage: „Was halten Sie für die wichtigste kulturpolitische Tat seit der zweiten tschechoslowakischen Schriftstellertagung?”, haben 15 von 19 Befragten geantwortet, den Kampf gegen den Personenkult.

Dife Schriftsteller forderten für sich Studienreisen ins Ausland, Einfuhr von Büchern und Zeitschriften. Auch die Tatsache, daß der einst fürs Gefängnis abgeurteilte Poet Novomesky bei der Tagung mit stürmischem Applaus begrüßt wurde und daß er bei der Wahl in den Vorsitz des Schriftstellerverbandes (im geheimen Wahlgang) die volle Stimmenanzahl für sich buchen konnte, ist für die Entwicklung in der heutigen CSSR bezeichnend.

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