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Die Werkgenossensdiaft in Frankreich

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Österreich steht heute wieder an einem Wendepunkt seines sozialen Aufbaues. Tiefgreifende strukturelle Änderungen durch die sozialpolitische Gesetzgebung stehen bevor, die ihren sichtbaren Ausdruck in der Verstaatlichung, den Werkgenossenschaften und dem neuen Betriebsrätegesetz finden werden. Diese sozialen Reformen fallen zusammen mit der Hundertjahrfeier der ersten entscheidenden Bestrebungen in dieser Richtung. Hundert Jahre zähesten Ringens und Kampfes der Arbeiterschaft um ihre soziale Gleichberechtigung in den Betrieben — eine harte, mit vielen Rückschlägen verbundene Arbeit, die jedoch nicht umsonst getan wurde. Vieles wurde bereits geleistet und erreicht, vieles bleibt noch zu tun. Es ist ein Gebot der Klugheit, vor neuen Entscheidungen kurz zu verweilen, um einen Blick nach rückwärts und über die Grenzen zu tun und aus Fehlern und Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen, um dann um so tatkräftiger auf dem als richtig erkannten Weg vorwärtszuschreiten. Das Beispiel und die Erfahrungen Frankreichs sind auf diesem Gebiete außerordentlich wertvoll.

Bereits im Jahre 1840 erschien von Dr. V i 11 i e r m 6 eine Abhandlung über die soziale Stellung der Arbeiter- und Angestelltenschaft der damaligen Zeit, in der festgestellt wurde, daß der wirtschaftliche Liberalismus den Arbeiter und Angestellten zu einem namenlosen Produktionsfaktor herabwürdigte und ihm kaum sein Existenzminimum sicherte. Das Fehlen jeder sozialen Gesetzgebung, sechzehn- bis achtzehnstündige Arbeitszeit und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen waren der Anstoß zur ersten Kampfansage führender Politiker und Philosophen, vielfach aus dem katholischen Lager, an den Kapitalismus. Im Mai 1845 schrieb einer der geistigen Väter dieser Bewegung, der Katholik B u c h e z, in der Zeitung ..L'A t e 1 i e r“ einen offenen Brief an den Kommunisten Cabet: „Wir wollen die Gleichheit und wir wollen auch die Freiheit. Tatsächliche Freiheit gibt es jedoch für einen Besitzlosen nicht und daher verlangen wir im Gegensatz zu den Kommunisten Besitz für jedermann. Der Arbeiter unserer Zeit ist nicht frei, weil er nichts anderes besitzt als seiner Hände Arbeit, die er zu menschenunwürdigen Löhnen vergeben muß. Wir verlangen daher, daß er in Zukunft mit seiner Hände Arbeit ein Mittel der Freiheit, den Besitz, erwerben kann; wir verlangen, daß der Arbeiterschaft persönliches Eigentum an den Produktionsmitteln übertragen wird.“

Dies war der erste Anstoß zur Forderung von Werkgenossenschaften für die Arbeiter und Angestellten und führte dazu, daß der Staat sich mit dieser Frage zu beschäftigen begann und die Gesetzgebung auf diese Forderung abstimmte. Diese Gedanken fanden ihre Fortsetzung in der Sturmperiode der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Revolution des Jahres 1848 begründete die Ära der Werksgenossenschaften. Der Grundgedanke ist, dem Arbeiter und Angestellten die Möglichkeit zu geben, einen Teil des Gesellschaftskapitals in Form von Aktien zu erwerben und dadurch an der Verwaltung des Betriebes teilhaben zu können. Das Gesetz vom 26 April 1917 gab hiefür die gesetzliche Grundlage ab. Diese Maßnahme stellt einen ernsten Versuch dar, den Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit zu finden. Es lassen sich zwei Formen unterscheiden, wobei die erste dem Arbeiter nur die Möglichkeit gibt, Kapitalanteil zu erwerben, ohne vorherigen Anteil am Gewinn. Die zweite sieht für den Arbeiter bereits Gewinnanteil vor und bringt diesen zur Auszahlung, bevor er noch Kapitalanteile erworben hat, so daß er aus seinem Gewinnanteil die Kapitalanteile erwerben soll.

Die provisorische Regierung des 48er Revolutionsjahres anerkannte ausdrücklich das Recht der Arbeiterschaft, sich zur Bildung von Werkgenossenschäften zusammenzuschließen. Eine Serie von Gesetzen förderte diese und man bewilligte ihnen hohe Staatskredite. Die effektive Ausgabe der Kredite bezifferte sich damals auf drei Mill'onen.

Die folgend Entwicklung war mehr von Mißerfolgen als Fortschritten begleitet. Die neue bonapartistisch absolutistische Ära stellte anfänglich das Errungene wieder in

Frage.

Napoleon III. widersetzte sich den Reformen, da er in ihnen den Sozialismus verspüren zu müssen glaubt:, doch er änderte später seine Stellung. Im Jahre 1866 erklärte er sogar: „Ich lege Wert darauf, a“e iene Hindernisse zu beseitigen, die der Jung von Werkgenossenschaften, durch die die Stellung der Arbeiterschaft gehoben wird, entgegenstehen.“ Napoleons Sturz brachte eine neue Situation. Die dritte Republik trat den Werkgenossenschaften feindlich gegenüber. Diesmal kam die Opposition nicht von „konservativer“ Seite, sondern merkwürdigerweise von Seiten der Sozialisten, die nach der Niederlage von 1870/71 ihren Radikalismus und ihre Sympathie für den Kollektivismus unter Beweis stellten. Ihre Führer lehnten die Werkgenossenschaften mit der Begründung ab, daß die dadurch angestrebte Strukturänderung der Wirtschaft zu langsam sein werde. Der tiefste Grund war, daß sie als Anhänger eines entschiedenen Klassenkampfes in den Werkgenossenschaften die eminente Gefahr einer Verbürgerlichung der Arbeiterschaft erblickten. Auf dem ersten Arbeiterkongreß 1876 in Paris stimmte man zwar noch für die Genossenschaften; 2 Jahre später in Lyon hatten sich jedoch die Anhänger des Kollektivismus bereits soweit durchgesetzt, daß sie die Kollektivierung des Bodens und der Produktionsmittel verlangten. 1879 kam es in Marseille über die Frage „Werkgenossenschaften oder Kollektivierung der Produktionsmittel?“ zu einer heißen Auseinandersetzung, bis endlich beim vierten Kongreß in Le Havre eine Spaltung im sozialistischen Lager erfolgte.

Die Gesetzgebung von 1893 bis 1938 erleichterte in steigendem Maße das Wirken der Werkgenossenschaften. Die mit staatlicher Hilfe erfolgte, Gründung einer Genossenschaftsbank zur Gewährung von Krediten förderte die Entwicklung.

Soweit man heute feststellen kann, gab es 1848 200 Werkgenossenschaften, 1936 deren 430 mit rund 25.000 Mitgliedern;, 1937 waren es 507 mit rund 30.000 Mitgliedern. Gewiß eine verhältnismäßig geringe Zahl im Verhältnis zu der Gesamtheit der französischen Arbeiter und Angestellten von rund 7 Millionen. — Trotzdem jedoch ein Erfolg, weil diese Stellungen in einer Zeit erobert wurden, in der der Kampf gegen zwei Fronten geführt werden mußte: seltsamerweise genug gegen Kapitalismus und Kollektivismus. Besonders schwierig gestaltete sich hiebei die Kiedit-frage, da die Genossenschaften zur Durchführung ihres Produktionsprogramms wiederholt Anleihen aufnehmen mußten. Buchez lehnte ursprünglich den parlamentarischen Staat als Kreditgeber ab. Doch das Leben war stärker als die Theorie. Insbesondere als das Parlament den 3-Millionen-Kredit bewilligt hatte, wandten sich bei 500 Genossenschaften an den Staat um Kredite. Da aber der Staat nicht gewillt war, ausschließlicher Bankier der Genossenschaften zu sein, mußten sich diese auch an das private Kapital wenden, das einerseits wieder eine Mitbestimmung in der Genossenschaft selbst verlangte. Diese Forderung tauchte auch bei Inansprudinahme von Auslandskrediten auf. Schwierigkeiten bereitete auch die Aufnahme von Arbeitskräften, die nicht selbst Mitglieder d.r Genossenschatten waren, da man daraus eine Verfälschung des Genossenschaftsgedankens befürchtete. Es ergab sich, daß 1895 bei 172 Genossenschaften 9000 Genossenschaftsmitglieder vorhanden waren, von denen lediglich 4000 tatsächlidi mitarbeiteten und rund 5000 bis 6000 nichtgenossenschaftliche Arbeiter beschäftigt waren.

Die Werkgenossenschaften verlangten von ihren Mitgliedern ein hohes Maß an wirtschaftlicher Einsicht, das sich bei der Wahl des Betriebsleiters und der Beurteilung der Geschäftsleitung zu bewähren hatte und Disziplin in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten voraussetzte, wenn es galt, zugun-st~n der Genossenschaft auf Vorteile aus derselben zu verzichten. Hier mußte es sich immer zeigen, ob die Arbeiterschaft der ihr gestellten Aufgaben gewachsen war oder nicht.

Zwei Lösungen für den Aufbau der Werkgenossenschaft gab es in Frankreich, wie geschildert. Beide haben, so wie sie waren, keinen nennenswerten Erfolg erreidn, da sie keine entscheidende Änderung in der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital herbeiführten. Andererseits zeigte es sich, daß der Arbeiter durch die in Frankreich gewählte Lösung nur relativ bescheidene Anteile erwerben kann, so daß auch sein Mitspracherecht in der Betriebsleitung nur unbedeutend bleibt. Außer in einigen großen Pariser Warenhäusern wurde diese Lösung nirgends mit Erfolg und dauerhaft durchgeführt; wenn sich in diesen Warenhäusern die Methode im allgemeinen bewährt hat, so ist dies nur dem großen sozialen Verständnis der Gründer zu danken. Im allgemeinen führte jedoch dieser Weg für die Arbeiterschaft nicht zum Ziele.

Der Staat verhielt sich meist ablehnend gegenüber den Forderungen dßr Belegschaft, ihr ein Mitspracherecht an der Führung und an der Gewinnbeteiligung in den Staatsbetrieben zuzugestehen. Immerhin sieht das Gesetz vom 9. September 1919 für den Bergbau vor, daß der Staat bei Vergebung von Schürfrechten verlangen konnte, daß im Verwaltungsrat der neuzugründenden Gesellschaften sowohl der Staat a 1 auch die Belegschaft vertreten sein müsse. Das Wasserkraftgesetz vom 10. Oktober 1919 enthielt eine ähnliche Klausel und sah die Gewinnbeteiligung für die Belegschaft vor. Praktische Anwendung fand die Klausel nur dreimal, bei den französischen Eisenbahnen und bei der Compagnie transatlantique.

Das Neuerstehen Europas im Jahre 1945 hat die sozialen Probleme mit aller Schärfe herausgestellt.

Die Gesetzgebung sieht nunmehr in allen nationalisierten Betrieben neben den Betriebsausschüssen die aktive Beteiligung der Belegschaft an der Führung der Betriebe vor, während für den Rest der Wirtschaft Betriebsausschüsse gebildet werden, die bisher nur als Konsultativorgan verankert sind. Sie haben sich mit allen Fragen der Produktion und innerbetrieblichen Kostenfragen und sozialpolitischen Fragen zu befassen. Immer wieder aber wird es sich zeigen, daß es nicht sosehr auf weitgehende Gesetze ankommt als vielmehr auf den Geist und die Einstellung, die die Menschen und die Gesetze beseelen. Betriebsdemokratie wird sich zur Zufriedenheit aller Beteiligten nur in den Ländern bewähren, in denen die Demokratie, das heißt Achtung vor dem Mitmenschen und seiner Meinung, allen Staatsbürgern wirklich in Fleisch und Blut übergegangen ist.

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