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Die wirtschaftliche Bedeutung St. Pöltens

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Der Neubau der Autobahn, die durch oder, besser gesagt, über das Stadtgebiet von Sankt Pölten geführt wird, bestätigt wieder die zentrale Lage dieser Stadt im westlichen Niederösterreich. Aus der Brückenstellung am ersten größeren1 Fluß westlich des Wienerwaldes läßt sich zum guten Teil ihre gegenwärtige Bedeutung begründen. Hier zweigen die Bahnlinien und Straßen von der Westbahn utid der Bundesstraße Wien—Linz in die Täler der Voralpen und weiter in die Obersteiermark ab, führen nach Norden durch den Dunkelsteinerwald und das Fladnitztal in die Wachau und ins Waldviertel, nach Südosten ins Wienerwaldgebiet. Heute gilt St. Pölten allgemein als Industriestadt, wobei sein reicher kunsthistorischer Besitz, in der Altstadt an Kirchen und Bürgerhäusern nach wie vor auf Schritt und Tritt anzutreffen, leider nur zu oft übersehen wird. Tatsächlich ist die Stadt der Angelpunkt einer Reihe von Fabrikorten, die sich von St. Aegyd am Neuwald über Hohenberg, Marktl, Traisen, Wilhelmsburg und Her- zogenburg bis Traismauer erstrecken und ein erhebliches volkswirtschaftliches Potential darstellen. Die eisenverarbeitenden Betriebe überwiegen im Traisentale.

St. Pöltens Rolle als wirtschaftlicher Konzentrationspunkt war in historischen Zeiten nicht besonders groß, wenn auch alle jetzt bestehenden Industrien ins Mittelalter zurückreichende gewerbliche Vorgänger haben: die Eisenindustrie in den Hammerwerken des Traisentales, die Papierfabrik Salzer in Papiermühlen, die seit dem 15. Jahrhundert nachzuweisen sind, die Textilindustrie in den Tuchmachern, von denen im 14. Jahrhundert berichtet wird, daß sie nicht nur nach Wien lieferten, sondern in Wiener Neustadt den Markt mit ihrem „Pöltinger Tuch“ völlig beherrschten. Auch eine der großen Kattunmanufakturen der Josephinischen Zeit stand in St. Pölten. Die beständige, wenn auch nicht allzu reiche Wasserkraft der Traisen, in zwei Werkbächen kultiviert, war immer schon der Energiespender.

Als Industriestadt gilt St. Pölten noch nicht lange. In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts war es eher eine Garnisonstadt, und die Stadtverwaltung hat durch einige Jahrzehnte mit kostspieligen Kasernenbauten viele Truppen binden wollen. Leider wurde dadurch nach dem letzten Weltkrieg die Möglichkeit für eine starke Garnison der Besatzungstruppen geschaffen, die ein ganzes Stadtviertel mit wichtigen öffentlichen Bauten bis zuletzt besetzt h'elten, eine Hauptdurchzugsstraße sperrten, kurz, sich ein ,,Klein-Moskau“ schufen, von dem aus die Lautsprecher zu jeder Tageszeit die Sendungen von Radio Moskau den wenig er freuten Bewohnern der Altstadt zu Gehör brachten.

Die Industrialisierung St. Pöltens ist erst nach der Jahrhundertwende in großem Stil erfolgt. Sie ist, das wird rückschauend von allen festgestellt und anerkannt, das Verdienst des zu seiner Zeit so heftig umstrittenen Bürgermeisters Wilhelm Völkl. Natürlich bestanden auch schon vorher einige größere Betriebe, wie die Weicheisenfabrik Gasser, die Seifenfabrik Benker — beide unterdessen eingegangen — und eine Zweigfabrik der Firma Schüller & Co. Insgesamt besaßen aber diese Firmen keine besonders große Kapazität. Da kamen den Bestrebungen des damaligen St.-Pöltner Bürgermeisters, seiner Stadt größere Bedeutung zu verleihen, die Zollgesetze der Monarchie zu Hilfe. Verschiedene deutsche Großfirmen wurden durch sie bewogen, in Oesterreich Zweigwerke zur Erschließung und Versorgung des südosteuropäischen Marktes zu errichten. So ist es damals der Stadt gelungen, die weltberühmte Heidenheimer Firma J. M. Voith durch Hilfe beim Grunderwerb und Regelung der Kraftversorgung im Jahre 1903 zur Errichtung eines Betriebes zu veranlassen. Im Jahre 1904 wurde in Wien die „Erste Oesterreichische Glanzstoffabriks-AG." gegründet, die eine neue Erfindung, die Kunstseide, an der der Oesterreicher Dr.-Ing. Johann Urban maßgeblich be-.

Jahrhunderts im Stadtgebiet ist die Hauptwerkstätte der österreichischen Staatsbahnen, deren Errichtung ein Verdienst des ehemaligen Bahnvorstandes von St. Pölten, des Staatsbahndirektors Hofrat Khittel ist. Sie wurde in den Jahren 1905 bis 190t gebaut. 'Auf kleinere Vorgänger knüpfte die Stattersdorfer Papierfabrik M. Salzer und die Harlander Zwirnfabrik an.

Damit waren die großen Arbeitgeber geschaffen, die den Zustrom vieler neuer Menschen bewirkten. Die Stadt wuchs rasch und breitete sich in der schmalen Talebene des Steinfeldes nach

Norden und Süden aus. Im Westen bot ein Wagram eine natürliche Grenze. Hatte Sankt Pölten um 1850, kurz bevor die alten Stadtmauern niedergelegt wurden und die Westbahn erbaut worden ist, knapp 4500 Einwohner besessen, und zählte es im Jahre 1900 schon

14.500 Menschen, so stieg im folgenden Jahrzehnt die Bewohnerzahl auf 21.800.

Somit hatte sich St. Pölten an die zweite Stelle unter den niederösterreichischen Städten emporgearbeitet. Die Bedeutung wurde durch die Verleihung eines eigenen Statutes im Jahre 1922 und der Eingemeindung der Nachbarorte Spratzern, Wagram und Viehofen im folgenden Jahre unter Bürgermeister Hubert Schnofl gewürdigt. 1930 besaß der Stadtbezirk bereits 37.400 Einwohner, die auf einer Fläche von 27,82 Quadratkilometer lebten, die höchste Dichte, die jemals erreicht wurde. Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre brachte das Wachstum zum Stillstand und manchen Betrieben, wie den Gasserwerken, den Untergang. Sie hat dem organischen Aufbau St. Pöltens gewaltigen Schaden zugefügt, der immer noch nicht völlig überwunden werden konnte. Nachdem 1939 das Stadtgebiet durch Eingliederung von Nachbarorten nochmals vergrößert worden war, so daß es nunmehr 69 Quadratkilometer und

44.500 Einwohner einschließlich der starken Garnison zählte, wurde im Jahre 1955 wieder eine Anzahl von Orten ausgeschieden. Die Eingemeindung von 1939 war wohl in einigen Fällen zu großzügig gewesen und hatte dem Stadtbezirk Dörfer zugeteilt, die vom städtischen Siedlungsgebiet trotz seines ständigen Ausbreitens niemals hätten erreicht werden können; die Ausgemeindung von 1955 nahm aber auf die Geographie schon gar keine Rücksicht und schied Orte aus, die mit der Stadt teilweise schon verwachsen sind. Seither umfaßt das Stadtgebiet 43,23 Quadratkilometer und hat

38.500 Einwohner. Im raschen und vielfach nicht organischen Wachsen liegen auch die vielen Probleme Verborgen, die heute noch die Hauptsorgen der St.-Pöltner Stadtverwaltung sind, vor allem die arge Wohnungsnot, die trotz jahrzehntelanger Bemühungen, der Schaffung von großen Siedlungen und Genossenschaftshäusern, noch nicht gelindert werden konnte.

Das wirtschaftliche Bild der Stadt war im ersten Jahrzehnt nach dem letzten Weltkrieg vor allem durch den starken Einfluß der USIA gekennzeichnet, welche die größten Betriebe, Voith und Glanzstoff, verwaltete. Dadurch kam ein erheblicher Teil der Stadtbevölkerung in wirtschaftliche Abhängigkeit von der Besatzungsmacht, was sich natürlich auch auf das politische Bild ausgewirkt hat. Seit 195 5 stehen diese Betriebe in österreichischer Verwaltung. Die Glanzstoffabrik wurde dem holländischen AKU-Konzern rückgegliedert. Das Voithwerk, eine de,r größten Maschinenfabriken ’ Oesterreichs, zählt zu fcn exportintensivsten Betrieben unseres Landes.

Aber nicht nur die Betriebe der Stadt selbst bestimmen das wirtschaftliche Gefüge, sondern auch das Hinterland. Das unmittelbare Einflußgebiet St. Pöltens reicht im Traisen- und Pie- lachtal, beide durch Flügelbahnen mit der Stadt verbunden, bis zur Wasserscheide an der steirischen Grenze, im Osten etwa bis Neulengbach,

nach Westen noch über die Gegend von Mank, Kilb und Melk hinaus, während im Norden der DunkelsteinerWald und weite Teile des Traisenfeldes nach unserer Stadt hin tendieren. Das fruchtbare Bauernland des Alpenvorlandes mit seiner wirtschaftlich gut situierten Bevölkerung hat ebenso wie die gute Beschäftigungslage der Industrie ein Blühen des Fahrzeug- und Maschinenhandels, des Baugewerbes und mehrerer ansehnlicher Kaufhäuser zur Folge, von denen einige Betriebe in Niederösterreich führend sind: Insgesamt sind gegenwärtig 52,6 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Industrie und Gewerbe sowie 23,9 Prozent in Handel und Verkehr tätig.

Die Zentrallage ist natürlich auch für das Schulwesen St. Pöltens entscheidend. Neben dem bischöflichen Alumnat bestehen hier eine Reihe von Mittelschulen: zwei Gymnasien, eine

Lehrerbildungsanstalt, eine Bundesgewerbeschule mit zwei Abteilungen, Handelsschulen und diverse Fachschulen. Hier hat der Bombenkrieg besonders übel mitgespielt. Während die Betriebe im wesentlichen verschont blieben, und vor allem das Viertel um den Bahnhof noch in den letzten Kriegswochen in eine Mondlandschaft verwandelt worden ist, sind vor allem Schulen von Bomben getroffen worden: die Hauptschule, die Handelsschule, das Gymnasium. Heute stehen dafür repräsentative Neubauten, doch hat dieser Umstand zusammen mit der starken Besatzung einen weiteren Ausbau des Schulwesens, etwa die Errichtung einer Handelsakademie, verhindert. Während nämlich Nachbarstädte, wie Krems und Wr. Neustadt, ehemalige Kasernen für Schulzwecke verwenden konnten, war dies in St. Pölten nicht der Fall. Deswegen ist auch heute noch die Unterbringung der Bundesgewerbeschule ungelöst.

Es ist natürlich schwer, die wirtschaftliche Zukunft einer Stadt vorauszusagen. Sie wird in St. Pölten vor allem davon abhängen, ob neue Industrien zur Niederlassung gewonnen werden können. Platz und Objekte stünden dafür zur Verfügung, wie etwa die Gebäude der ehemaligen Spitzenfabrik in Viehofen, die Gelände der ehemaligen Elbemühl in Wagram, das Gebiet zwischen den nördlichen Stadtteilen und Viehofen oder aber der Süden, das Steinfeld. Der Boden der Niederterrasse, auf dem St. Pölten steht, ist bei landwirtschaftlicher Nutzung nicht gerade ergiebig. Die mächtige Schotterdecke mit geringer Humusschicht, einst von der Urtraisen aufgeworfen, ist aber für Siedlungszwecke oder Industriebauten äußerst günstig. Dies sollte in einem Zeitalter, wo fruchtbarer Boden ein kostbares Volksgut geworden ist, für planmäßige Anlag vcn industriellen Vernichtungszonen von erheblicher Bedeutung sein. Straßen und Schienenanschlüsse wären reichlich vorhanden, selbst für den Luftverkehr könnte das ehemalige Mili- tärflugfeld in Markersdorf ausgenützt werden. Wenn einmal die Erdgasleitung durch das Traisental eine neue Energiequelle darstellt, wären günstige Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung, wie kaum anderswo besser, vorhanden.

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