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Die Zukunft der Westslawen

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Erhebliches Aufsehen verursacht gegenwärtig weithin in Polen das Buch eines Niederschlesiers, betitelt „Die Polenfrage“, das der mit dem Literaturpreis ausgezeichnete Pole Edmund Osmanczyk geschrieben hat. Der in Deutschland aufgewachsene junge Publizist unternimmt mit einer hierzulande seltenen Realistik den Versuch, jene nach Romantik der Barrikaden und blutiger Opferung dürstende polnische Geisteshaltung, die er der Vergangenheit zurechnet, durch eine wirklichkeitsnahe Situationsbetrachtung zu überwinden. Osmanczyk geht von der „tragischen Proportion“ aus, daß 80 Millionen Deutsdie angeblich nur 3.5 Millionen Kriegsopfer, hingegen 35 Millionen Polen 7 Millionen zu beklagen haben. Feindschaft und Abneigung des biologisch Schwächeren gegen den biologisch überlegenen Partner der europäischen Politik seien am wenigsten geeignet, dieses Mißverhältnis zu beseitigen. In ihren Beziehungen zu den Deutschen müßten daher die Polen zu einer völlig neuen Einstellung hinfinden, um sie mit jener ganz Europas zu koordinieren und um durch eine rasche wirtschaftliche Fundierung des eigenen Staates in einen Wettbewerb mit der deutschen Wirtschaft treten zu können. Den Deutschen imponiere und vor ihnen schütze allein die reale Stärke. Nicht allein Heldenmut und blutige Tribute, sondern vornehmlich Arbeit und Organisation bestimmten den Wert einer Nation, und deshalb sei die historische Definition des Polen-tums als eines Soldatenvolkes unausweichlich revisionsbedürftig. „Den Frieden wie den Krieg gewinnen Ingenieure und Arbeiter. Darum müssen wir ein Volk der Ingenieure und der Arbeiter werden oder — um auch den Liebhabern romantischer Vergleiche gerecht zu werden — eine Nation von Soldaten der Arbeit. Andernfalls werden wir niemals die tragische Proportion beseitigen.“ Der Verfasser sagt seinen Landsleuten, sie sollten die Deutschen so sehen, wie sie wirklich sind und nicht, wie sie sich in ihrem Bewußtsein spiegeln. Der polnischen Neigung zum Abenteuer, zur Phantasie und zur Überspitzung des Ehrbegriffs stellt er die deutschen Eigensdiaften der „Arbeitsamkeit und Ordnungsliebe“ gegenüber. Es ist verständlich, daß eine solche Charakteristik den Widerspruch vieler Leser herausfordert und der Autor fühlte dies wohl, denn er selbst bezeichnet eingangs sein Buch als „irritierend“. Aber „die Tatsache, daß die Arbeit der Deutschen für verbrecherische Ziele ausgenützt wurde, belastet zwar die Moral dieser Nation, beeinträchtigt jedoch keineswegs den Arbeitswert des deutschen Menschen, dessen Höchstleistung zweifellos an die der Arbeiter jener Mächte herankommt, die letzlich Sieger wurden ... Es ist wahrhaftig imponierend, daß der Friseur in Dresden unter russischer Besatzung für das Haarschneiden nur genau 70 Pfennig einhebt wie der Friseur in Hamburg unter britischer Okkupation, wie in Baden-Baden unter französischer Kontrolle, wie während des ganzen Krieges und die dreizehn Jahre davor. Diese Arbeitsamkeit hält den Wert der Mark als einer auf den Auslandsbörsen notierenden Währung... Wenn wir die Geschäfte in der Marszalkowska-Straße von Warschau um den Preis von Zehntausenden Zloty aufbauen müssen, kostet ein solcher Bau am Kurfürstendamm in Berlin nur wenige tausend Mark.“

Die der Verschiedenheit dieser Eigenheiten entspringenden Gefahren schildert Osman-czyk, wie auch seine Kritiker sagen, mit einer Kraft der Überzeugung, einem Temperament und dem Stil eines Xaver Pruszynski. Die Welt, so sagt er weiter, werde in Bälde den Tiefpunkt der deutschen Moral vergessen haben, und die Sieger dächten nicht daran, die Deutschen auf die Dauer so zu behandeln, wie diese mit den Polen umgingen, denn Millionen Menschen pflegten die Völker nicht nach den Prinzipien des Guten und des Bösen, sondern nach ihrer Nützlichkeit oder Unbrauchbarkeit einzuteilen. Mit jedem Friedensjahre verblasse der Ruhm des Soldatischen mehr, allein die Arbeit erhalte einen zunehmenden Glanz und selbst Ruhmlosigkeit werde von der Beständigkeit des Arbeitspotentials ausgelöscht, wie das deutsche Beispiel lehre. Schon heute reihe die Welt den Warschauer Aufstand, bei dem 250.000 Polen fielen, in die Geschichte ein. Bei der Ausstellung „Warschau klagt an“ im Juli 1946 in Zürich habe der Schweizer Parlamentsvorsitzende Dr. Grimm seine Rede mit der Wendung beschlossen, nunmehr, nachdem die polnische Kohle pünktlich und vertragsgetreu wieder in der Schweiz eintreffe, gelange die polnisch-schweizerische Freundschaft wieder auf die alten Straßen der traditionellen Freundschaft zwischen beiden Nationen. Hiezu sagt Osmanczyk, die Welt bedürfe also eines schon historischen Opfers nicht mehr, wohl aber lechze sie nach polnischer Kohle. Deshalb führe der Weg in die Zukunft Polens über Arbeitsamkeit und Ordnungsliebe zu einem neuen

Wettstreit mit den Deutschen. „Umer Morgen? Alles hängt davon ab, ob wir die Deutschen überflügeln!“

Die Absicht des Buches, unter den Polen diesen Ideen über die Betrachtung der Völker Raum zu schaffen, hat naturgemäß auch ihre Gegner gefunden. In den Antworten klingt aber eine Note schmerzlicher Resignation deutlich genug, um den Einbruch Osmanczyks in eine abgekapselte Sphäre des nationalen Prestiges sichtbar zu machen. Obwohl der Verfasser dem katholisdien Lager nahesteht, fühlen sich alle Kreise angesprochen, vor allem jene, die sich mit der neuen Umwelt noch nicht rational auseinanderzusetzen versuchten.

Ähnliche Tendenzen sind auch bei dem zweiten westslawischen Volke, den Tschechen, zu verzeichnen, von denen Osmanczyk erklärt, sie hätten im Kriege ihr Menschenkapital nicht angetastet, während die Polen mit Strömen von Blut zur Oder und Neisse vorgestoßen seien. Auch die Tsdiechen, findet er, haben lange Zeit zum deutschen Problem geschwiegen, bis der in der Schweiz lebende Journalist Walter Tschuppik in einem tschechischen Blatt vor seiner Negierung warnt, denn Deutschland habe den

Tiefpunkt schon überschritten. Seither Hat die Diskussion über dieses Thema sich verbreitert und ähnliche Bahnen gewählt wie in Polen: Auch hier wird eine gewisse Sorge vor einem ökonomischen Knockout durch das deutsche Wirtschaftsschaffen hörbar. Deutschland, so hört man argumentieren, sei heute übervölkert und mit billigen Arbeitskräften übersättigt, während das tschechische Volk einen erschreckenden Geburtenrückgang erlebe. Tatsächlich ist der Bevölkerungsüberschuß von 80.000 Seelen im Jahre 1938 auf 70.828 im Jahre 1945 und auf 65.000 im Jahre 1946 abgesunken. Die auf der Leipziger Messe gezeigte deutsche Exportfähigkeit wurde von tschechischen Beobaduern als „Drohung und Warnung“ angesehen, und der Tscheche Karel Hudec zieht daraus den Schluß: „Auf dem Felde der Wirtschaft wird es hart auf hart gehen, denn die deutsche Wirtschaft will uns schlagen.“ Auf dem Gebiet der Politik hat man von tschechischer Seite Polen seine Hilfe bei der Sicherung der Oder-Neisse-Grenze geliehen, sonst aber setzt man seine Hoffnung nicht auf ein Zerschlagen Deutschlands und ist sogar bereit, sich mit einem ungeteilten abzufinden, das einst der große Markt der tschechoslowakischen Industrie war. Und man begründet dies, mit jener Nüchternheit, die der tschechischen Politik eine solche Meisterschaft unter den kleinen Staaten verliehen hat, damit, daß es — wie der Vorsitzende der außenpolitischen Kommission im Prager Parlament, Dr. Ivo Duchacek, sagte — „ein naives Unterfangen wäre, den Deutschen eine Föderation mit Bajonetten aufzuzwingen.“ Als erster Politiker hat der Generalsekretär der tschechischen Einheitsgewerkschaft, der Abgeordnete Evzen Erben, kürzlich eine Fühlungnahme mit den deutschen Gewerkschaften angekündigt, um ihren Kampf gegen antidemokratische Elemente zu unterstützen. Ihm folgte nun Radio Prag mit der Einführung einer täglichen Nachrichtensendung in deutscher Sprache. Es sind dies vornehmlich Reflexe der Ungewißheit über die Rolle, die das weltumspannende diplomatische Spiel zwischen Ost und West den Deutschen zugedacht hat, aber auch einer begreiflichen'Unruhe über den Schatten, den das Problem Deutschland auf die Zukunft der Westslawen wirft. Sie haben zu nahe und lange genug als Nachbarn der Deutschen gelebt, um auf Grund realer Kenntnisse in Irrtümer zu verfallen, die andere begehen.

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