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Die Zukunft hat noch nicht begonnen

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Der Sturz des kommunistischen Diktators von Ungarn wurde in dieser Woche überall lebhaft diskutiert, wobei anscheinend fast alle Zeitungen des Westens und des Ostens darin übereingekommen sind, daß mit der Ablösung des ersten Sekretärs der Partei der Werktätigen, Matyas Rakosi, durch seinen langjährigen Mitarbeiter Ernö Gero nichts Entscheidendes geschehen sei. Diese seltene Eintracht in den Auffassungen von Ost und West kam dadurch zustande, daß die Kommunisten selbstverständlich an einem Ruhe, Ordnung und Zufriedenheit ausstrahlenden Ungarnbild interessiert sind, während die Publizisten des Westens unter dem Eindruck der innerparteilichen Auseinandersetzungen, die gerade in den letzten Monaten zu turbulenten Szenen im Schriftstellerverband und im Petöfi-Kreis geführt hatten, ein dramatisches Entweder-Oder erwarteten.

Dieser Erwartung entsprachen die letzten Ereignisse nicht.

Der Wechsel an der obersten Spitze und in den höheren Rängen der ungarischen Partei hängt eng mit den großen Veränderungen zusammen, die in den letzten Jahren in der Sowjetunion vor sich gingen. Wenn die Krise, in Ungarn offensichtlich mit einem Kompromiß und wahrscheinlich nur provisorisch gelöst wurde, so hat das seine Ursache nicht zuletzt darin, daß der Gärungsprozeß in der Sowjetunion selbst noch nicht abgeschlossen ist. In diesem Stadium des Ueber-ganges und der noch unausgetragenen Machtkämpfe, die stets vor allem auf ihre soziOr logischen Hintergründe hin geprüft werden sollten, kann man nicht erwarten, daß ein auf Jahrzehnte hinaus feststehendes Gesamtkonzept allen Beschlüssen und Veränderungen zugrunde liegt. Es wäre aber ebenso falsch, anzunehmen, daß im „Lager des Sozialismus“ der Kampf aller gegen alle ausgebrochen sei, wobei asoziale und unwL nde Parteibonzen eine Art „Nacht des langen Messers“ veranstalten.

Diese letzteren Vorstellungen führten im Westen zu einer chronischen Unterschätzung der Bewegungen und des Druckes von unten, als wären die Millionen Menschen in den Ost-blc -Vstaaten eine dumpfe Masse, des Denkens und der Reaktion unfähig, wie ein Kinopublikum, das alles apathisch hinnimmt, während auf der Leinwand zwielichtige Gestalten einen Veitstanz um die Macht vollführen. In Wirklichkeit zeigen gerade die letzten Ereignisse in Ungarn deutlich, daß es an Versuchen zur Behebung der Krise nicht mangelt und daß ein Nebeneinander der Konzepte zu Kompromissen führt, die sich allerdings bisher stets als unzulänglich erwiesen. Von 1953 bis heute war keinem dieser Konzepte ein endgültiger Sieg beschieden.

Das Liberalisierungsprogramm des im Frühjahr 195 5 gestürzten Ministerpräsidenten Imre Nagy und seine Versuche, die Wirtsehaftsproduktion des Landes mit den Bedürfnissen der Bevölkerung in Einklang zu bringen, wurden trotz Nagys Verurteilung wegen „Rechtsabweichung“ nie rückgängig gemacht, und der 20. Moskauer Parteikongreß brachte im Februar dieses Jahres Beschlüsse, die in manchem über die Projekte Nagys hinausgehen. Es gibt nur einen Punkt, in dem Nagy immer wieder, so auch in der letzten Resolution des Zentralkomitees, das in Budapest im Anschluß nach dessen Tagung zwischen dem 18. und 21. Juli veröffentlicht wurde, schuldig befunden wird: er hätte an der Zerstörung der Partei, der .Aufhebung des Klassenkampfes und Beseitigung der Vorherrschaft der Arbeiterklasse gearbeitet. Ob diese Vorwürfe auf Wahrheit beruhen, wissen wir nicht. Tatsache ist, daß Imre Nagy kaum lange einer solchen Entwicklung von unten, die nach der Verminderung des polizeilichen Druckes tatsächlich eingesetzt hatte, Widerstand hätte leisten können. Dazu mußten stärkere, in ihrer ideologischen Ueberzeugung festere Männer herangezogen werden. Das war Rakosis bisher letzte Chance. Er kam, widerrief nichts, setzte sogar die Reihe der Amnestierungen fort. Der Geister, die während der Nagy-Zeit wach wurden, wollte er durch die Wiedereinführung der strafferen Disziplin in- und außerhalb der Partei Herr werden. Aber die Angst war von den Menschen endgültig gewichen. Sie wußten, daß niemand mehr an die Wiedereinführung des polizeilichen Terrors, denken konnte. .

Es ist in diesem Zusammenhang. bemerkenswert, daß der aus einem Setzergehilfen zum General vorgerückte Mihaly Farkas,. Organisator und Garant einer starken Armee und sonst auch Hüter der inneren Ordnung in der ungarischen Volksdemokratie, mit Imre Nagy zusammen aus dem Politbüro entfernt wurde, und zwar, wie man erst heute erfährt, aus gänzlich anderen Gründen als dieser. Da Farkas „verdiente Mitglieder der Partei grundlos verfolgt hat“, wurde er jetzt noch nachträglich aus der Partei ausgestoßen und sogar als Offizier degradiert. Seine Opfer aber zogen am 18. Juli in das Zentralkomitee ein. Unter ihnen der kurz nach dem Rajk-Prozeß verhaftete ehemalige Innenminister Janos Kadar, der sogar in das Politbüro berufen wurde.

Die Namensliste der Umbesetzungen weist aber auch heute Widersprüche auf. Die Nachfolge Rakosis traten nicht oder nicht nur seine Gegner an — Imre Nagy zum Beispiel wurde keineswegs „rehabilitiert“ —, sondern auch zwei aus seinem einstigen Triumvirat: Ernö Gero und Jozsef Revai, der ungarische Schdanow.

Man weiß, daß der Kremlabgesandte S u s 1 o w, als er Anfang Juni in Budapest weilte, nicht nur mit Rakosi die Probleme Ungarns durchbesprach, sondern ganz allein auch Imre Nagy an dessen Geburtstag besuchte. Jetzt war es Anastas Mikojan, der auf der Durchreise nach B r i o n i in Budapest gerade zur Zeit der Tagung des Zentralkomitees eintraf. Es ist also ziemlich sicher, daß die dabei gefundene Lösung dem Konzept Mikojans entspricht. Der erste Punkt dieses Konzepts war offensichtlich die Entfernung Rakosis. Dies wurde durchgeführt genau am Tag, da in Brioni die „Neutralisten“ dreier Kontinente — Tito, Nasser und Nehru — zu einer Besprechung der Lage zusammentrafen. In solchen Dingen gibt es bei Moskau keine Zufälle. Rakosis Abgang mußte den Einbruch einer neuen Aera und nicht zuletzt den Einfluß Titos demonstrieren.

Der zweite Punkt des Konzepts Mikojans betrifft die innere Konsolidierung eines Landes in der Nachbarschaft Oesterreichs und Jugoslawiens, das seit dem Sturz Imre Nagys nicht mehr zur Ruhe kam und wo jede kleine Bewegung, jeder Diskussionsabend, jeder Zeitungsartikel zum Ursprung revolutionsartiger Erscheinungen werden konnte. Rakosi mit seinen „administrativen Maßnahmen“ war offensichtlich nicht mehr imstande, diese „Beruhigung“ zu garantieren.

Die neue Parole heißt: höherer Lebensstandard. Dieses Programm durchzuführen und dazu bereits einen Vertrauensvorschuß zu erlangen, ist die Aufgabe Ernö Geros. Gero ist mit dem Moskauer Wirtschaftsexperten Jenö Varga einer der Männer, die für eine solche Aufgabe Fähigkeiten besitzen. In seiner Rede vor dem Zentralkomitee am 18. Juli räumte er mit einer Reihe von Illusionen auf, die bisher die Wirtschaftsprogramme in Ungarn charakterisierten und vor allen Eingeweihten zum Gegenstand des Spottes wurden. Bescheidenere Planziele, Erhöhung der Reallöhne, Dezentralisierung in Wirtschaft und Verwaltung, Abbau der Bürokratie — sollten sie Wirklichkeit werden, sollte Gero die technische Intelligenz für diese Pläne mobilisieren können, dann wird er seine Aufgabe erfüllt haben. Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz — gleichzeitig Aufrechterhaltung des Klassenkampfes, demokratisches Parlament — ohne Zulassung einer

Opposition, Zulassung von Diskussionen — ohne Duldung von „Abweichungen“, das seltsame Eingeständnis, daß es gegenwärtig nicht möglich sei, Links- oder Rechtsabweichung voneinander zu unterscheiden — diese Punkte des Programms bringen Gero und seine Männer schon in gefährliche Nähe der alten Sophismen Rakosis, denen in letzter Zeit nicht einmal die Mehrheit im Zentralkomitee Glauben schenkte.

Noch schwerwiegender erscheint das Unvermögen Geros, Probleme des Geistes anzusprechen. Den Schriftstellern sicherte er eine gewisse Freiheit in der Wahl von Stilrichtungen zu. „Sie sollen nur gute Bücher schreiben“, ruft er ihnen zu, aber ohne politische und Gesellschaftskritik, die der herrschenden Ideologie zuwiderlaufen würde. Ueber Kirche und .Religion verlor Gero in seiner zweistündigen Rede kein Wort. Die Resolution des Zentralkomitees nennt die Forderung der Diskussionsteilnehmer des Petöfi-Kreises nach völliger Pressefreiheit ein „kleinbürgerliches Vorurteil“.

Hier wird der Versuch Gerö-Mikojan offensichtlich zur Farce. Es ist denkbar, daß Geros Rolle ohnehin zeitlich begrenzt ist. Seine Nachfolger dürften dann die wahren Vertreter der innerparteilichen Opposition sein, vor allem Janos Kadar und einst — vielleicht — der jetzt noch ausgestoßene Imre Nagy. Die sogenannten „nationalen Kommunisten“ also. Aber was ist das, „nationaler Kommunismus“? Sind die Begriffe, welche die Resolutionen der Zentralkomitees zur Erfassung und Definierung ihrer Gegner prägen, nicht Mittel zu bewußter Irreführung? Selbst Gero mußte jetzt eingestehen, daß in der Partei gegenwärtig höchste ideologische Verwirrung herrsche und daß die theoretischen Grundlagen einer ideologischen Einheit neu erarbeitet weiden müßten.

Die Lage auf der Gegenseite ist freilich nicht viel besser. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Kommunismus in allen seinen Schattierungen ab, weiß aber nicht, was „nachher“ kommen sollte. Reminiszenzen und Wunschträume sind fast die einzigen Ratgeber. Nun verspricht Ernö Gero diesen Menschen eine „Vaci-utca“, die wie die Kärntner Straße in Wien aussehen soll.

Die letzte Auseinandersetzung, die in Ungarn noch bevorsteht, wird aber kaum auf dieser Ebene ausgetragen werden.

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