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Die Zukunft Südtirols

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Rostbraun, tiefdunkel, wie verbrannt standen die Kastanienbäume nahe bei Bozen und bildeten eine düstere Schlucht. Der Himmel über Bozen war hell in diesem späten August. Friede lag über dem Land, als wir von Tolmezzo und Tolmein über die Dolomitenstraße herüberkamen. Es war eine Fahrt der Erinnerung, an 1914, an 1915, an den ersten Weltkrieg. Kein Mensch auf dem Aufstieg zum Col di Lana.'

Freundliche Menschen auf freundlichen Straßen. Ein italienischer Polizeihauptmann bemüht sich in Bozen sehr, in- seinem Büro eine Adresse bei Bozen ausfindig zu machen. Er versteht bald: ė una vecchia familia; es ist der Name eines alteingesessenen Südtiroler Geschlechts. .

Zehntausend Menschen folgen dem Sarg, sind auf dem Bozener Friedhof am Nachmittag des 10. September 1964 versammelt. Zwei Tage darauf, wird für Luis Amplatz in der Wiltener Stiftskirche eine Gedenkmesse gelesen. Anschließend findet eine. Gedenkfeier am Berg Isel statt: Treuebekenntnis zu Tirol. Kränze ' vor dem Andreas-Hofer- Denkmal, vor dem Landhaus und am Grab Andreas Hofers in der Hofkirche. Kränze für Luis Amplatz.

Friede dem toten Luis Amplatz. Friede allen Toten des ersten und weiten Weltkrieges.

Ein anderes ist: Wer mit den Toten Politik machen möchte, verwickelt sich selbst in einen tödlichen Kreislauf, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt.

Vor kurzem erschien in Amerika ein Buch, das die seit Hochhuths „Stellvertreter“ begonnene leidenschaftliche Auseinandersetzung weiterführt: Guenter Lewy: The Catholic Church and Nazi Germany, New York und Toronto, 1964. In diesem Buch wird unter anderem das Hineinschlittern von Teilen des deutschen Katholizismus lange vor Hitlers Machtübernahme in einen starren Nationalismus dargestellt. Eine fatale Rolle spielte hier der Kult um Albert Leo Schla- geter, einer aus der langen Reihe der Partisanen, der von den Franzosen an der Ruhr 1923 hingerichtet wurde. In vielen Reden wurde Schlageter als Heros der deutschen Sache gefeiert: bis sich die Nationalsozialisten, zur Macht gekommen, entschieden diese katholische Mitfeier „ihres“ Helden verbaten.

Aus diesem Fall ist zunächst zu lernen: Wer im 20. Jahrhundert als Christ mit dem Zündstoff des Nationalismus, mit nationalistischen Mythen spielt, spielt mit einem Feuer und wird über kurz oder lang von

„Fachmännern“ überspielt, die sich auf das Spiel mit dem Feuer noch besser verstehen. Das wird der Erzbischof Makarios zur Kenntnis nehmen müssen. Das müssen wir Katholiken in Bozen, Innsbruck, Wien, München, Rom lernen.

Die Sünden der Christenheit sind heute, in einer Epoche des Weltbürgerkrieges, des Hungers von Zwei Drittel der Menschheit, des Spieles und der Drohung mit atomaren Waffen vor allem Unterlassungssünden. Das, was wir nicht tun, das, wozu wir schweigen, lastet uns am schlimmsten an, verstellt uns die Zukunft.

Der Terror in Südtirol — zunächst ab 1918, von Italienern, dann zumal von Faschisten verübt — vollzog sich in einem katholischen Land, das umgeben und eingeschlossen von katholischen Nachbarn ist. Italien, kirchlich und politisch versöhnt mit dem Heiligen Stuhl durch das Konkordat, hat sich in schwerer Zeit den heiligen Franziskus zum Patron, zum Schirmherrn erwählt. Österreich und Bayern, von dessen Hauptstadt, München, gestern und heute manche Fäden nach Südtirol laufen, berufen sich auf alte katholische Traditionen.

Damit stehen wir bereits mitten im Dilemma: In den Staatsregierungen, in den Landes- und Provinzialregierungen rund um Bozen, über Trient bis hinunter nach Rom und Wnauf nach Innsbruck und hinüber nach Wien sitzen christlich-demokratische Politiker in führenden Stellungen. Wie oft nun wurde in den letzten Jahren von Außenstehenden an uns diese Frage gerichtet: Was ist das für eine Weltkirche, die nicht imstande ist, die legitimen Lebensrechte eines kleinen Völkchens, vorwiegend aus Bauern bestehend, da in Südtirol zu verteidigen? Was ist das für eine christlichdemokratische Bewegung, deren Führer bei Kongressen sich lauthals anmaßen, ein „christliches Europa“ aufzubauen, und die nicht einmal imstande sind, eine — im Vergleich mit heutigen Weltproblemen in Asien, Afrika, Südamerika — kleine Schwierigkeit zu lösen: in einem Modell der Zusammenarbeit, des Ausgleichs gegnerischer Interessen, das beispielhaft wirken könnte.

Nun, auf das Schweigen von Päpsten dürfen wir Katholiken uns heute wahrhaftig nicht berufen, Papst Paul VI. hat bereits von längerer Zeit dem österreichischen Bundeskanzler Dr. Klaus seine Anteilnahme am Problem Südtirol bekundet. Der Papst hat sich in dieser kritischen Tagen direkt zu Wort gemeldet, in einem Telegramm, das von Kardinalstaatssekretär Cigo- gnanl in seinem Namen an der Bischof von Brixen und Bozen Gargitter, übermittelt wurde. Paps' Paul VI. ruft zur Einstellung dei unentschuldbaren Gewalttätigkeiter in Südtirol auf und fordert eim , Regelung der Streitigkeit durcl friedliche Verhandlungen. Der Paps wünscht dringend, daß die gegen, wärtigen österreichisch-italienischei Verhandlungen über die Zukunf Südtirols zu einer dauerhaften Be friedung dieses Gebietes führe) mögen.

Diese Botschaft des Papstes geh die Staatsregierungen in Rom uni

Wien, die Landesregierungen in Ita lien und Österreich, sie geht all Katholiken an, die als Bischöfe ( Prälaten, Priester, Karabinieri, Po lizisten, Soldaten, Zivilisten mit der Verantwortung für die Menschen, für das Leben der Menschen in Südtirol befaßt sind, in fremdem Auftrag oder, in eigener Verantwortung. Diese Papstbotschaft geht nicht zuletzt, jenen deutschen Theologen an, dessen moraltheologische Schrift über den bewaffneten Widerstand in Südtirol das Evangelium für Männer wie Luis Amplatz gebildet hat, für Männer, die sich heute und morgen mit der kultischen Verbreiterung seines Mythos befassen.

1923 wurde Schlageter hingerichtet. Fast hundert Jahre zuvor, 1826, erschien das Buch: „The Last of the Mohicans“, von James Fenimore Cooper. Cooper ist der Schöpfer einer eigenständigen amerikanischen literarischen Prosa und eines amerikanischen Mythos. „Der letzte der Mohikaner“ wurde mit heißen Herzen von Millionen junger Menschen gerade auch in Europa gelesen.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen Luis Amplatz und dem letzten Mohikaner? Heinrich Drim- mel, seit eigener Jugend sorgend und ergriffen am Denken und Fühlen der Jugend teilnehmend, hat Luis Amplatz einen Nachruf gewidmet: „Schützenbegräbnis“. In diesem Nachruf wird die Kluft aufgezeigt, die zwischen der Moderne, unserer technisch-industriellen Gesellschaft, und dem fast archaischen Fühlen und Denken von Menschen vom Schlag des Luis Amplatz besteht.

Luis Amplatz, ein letzter Mohikaner, das heißt, hart und offen ausgesprochen: Das Volk in Südtirol hat keine Zukunft, wenn es sich — wehrlos gegen die technisch-industrielle Welt, die mit den Italienern und durch die Italiener ins Land zieht, nicht nur mit den Karabinieri, den letzten Weiler und Hof erobern und „liquidieren“ wird — in einer Art Indianerreservation zu behaupten sucht.

Was tut dagegen not? Was braucht Südtirol heute und morgen, neben den Verträgen, die endlich abgeschlossen werden müssen, die sich aber als ein Stück Papier erweisen 1 werden, das durch den gesellschäft- , liehen Prozeß überholt wird, wenn dieser gesellschaftliche Prozeß nichl selbst von Südtirolern mitgesteuert, mitgetragen und eigenständig abgewandelt wird?

Als ein Volk von Bauern und Berglern, ausgerüstet nur mit einer überaus schmalen Schicht von Angehörigen jener Berufe, die politische Intelligenz und Mitsprache in der industriellen Großgesellschaft errungen haben, kann das Südtiroler Volk seine Zukunft nicht meistern.

Es gibt eine einzige Möglichkeit, dem Südtiroler Volk eine Zukunft zu schaffen: Diese einzige Möglichkeit besteht in der sofort in Angriff zu nehmenden Erziehung und Heranbildung der Südtiroler Jugend zu einer Intelligenzschicht, die, gleichermaßen italienisch wie deutschsprachig gebildet, das Südtiroler Volk in Rom, Florenz, Neapel, Mailand, Turin, in allen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Italiens vertreten kann.

Die österreichische Regierung sollte in diesem Sinn ein Sofortprogramm beschließen: zur Förderung der Erziehung und Bildung eben dieser Intelligenzschicht, ohne die das Südtiroler Volk keine Zukunft besitzt. Nun sind bekanntlich seit Jahren einige Unternehmungen, Stipendien usw. für Südtiroler in dieser Richtung begonnen worden. Diese sehen aber meist am Wesentlichen vorbei: an der bilateralen, zweifachen Bildung und Erziehung, auf die es da ankommt: Es genügt einfach nicht, daß Südtiroler Studenten in Innsbruck, Wien, Graz etwa römische, deutsche und österreichische Jurisprudenz studieren oder, um sich für das Lehrfach vorzubereiten, Deutsch und Geschichte in Österreich und Deutschland studieren. Südtirol braucht eine gebildete Südtiroler Jugend, die Walther von der Vogelweide und Dante, die Frauen und Männer des tirolischen, österreichischen und deutschen Geisteslebens ebenso wie Manzoni, Car- ducci, Silvio Pelico, die Männer des Risorgimento und die Dichter des heutigen Italien von Silone bis Vittorini und darüber hinaus kennt, dazu die reichen Traditionen des italienischen politischen und juridischen Denkens und Handelns. Ein Südtiroler Volk, das in den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen

Knotenpunkten Italiens nicht selbst vertreten ist, wird auch von sehr wohlwollenden Italienern jenseits einer gewissen regionalen Haßgrenze als „Barbaren“, als archaische Alpenmenschen, als eine Art Indianer mitten im 20. Jahrhundert angesehen werden. Als ein Volkstum ohne Zukunft, da ohne eigene Kontakte mit der Gegenwart: mit der industriellen Großgesellschaft, die mit den Italienern, politisch aufgeladen, das Land, die Täler erobert.

15.000 Karabinieri durchstreifen die letzten Höfe und Weiler in Südtiroler Tälern. Hilflos, wehrlos sind Südtiroler Bergbauern mit Frau und Kind ihrem Treiben ausgeliefert. Dieses Bild, diese Wirklichkeit von heute darf uns nicht die noch ernstere Zukunft verstellen: Nicht diese Karabinieri werden Südtirol italianisieren, sondern die technisch-industrielle Zivilisation mit ihrem Gleichschaltungsprozeß wird dies fertigbringen, wenn sich das Südtiroler Volk nicht eine eigene Intelligenzschicht schafft, die ihm Kontakte und Verbindungen mit dieser Zivilisation und mit der italienischen Staatsnation herstellen. Dazu ist heute das Südtiroler Volk aus eigenem noch nicht imstande: Hier haben Wien, Innsbruck, Graz, Salzburg, Linz (als künftige Hoch- schulstadt) einzuspringen. In eben diesen Tagen war das Burgtheater in Meran zu Gast, österreichische Gastspiele dieser Art — mit dem Besten, was Österreich zu geben hat — sollten als Sofortmaßnahme zu einer Institution, zu einer ständigen Veranstaltung ausgebaut und erhoben werden: wobei in Südtirol ebensosehr die deutschsprachigen Südtiroler angesprochen werden sollen wie das Volk Dantes, der vorbildlich für viele große, aus ihrem Heimatland vertriebene oder in ihrem Heimatland in innerer Emigration lebende Italiener sich sein Leid vom Leibe sang: E come e duro calle / le scendere e le salir / per l’altrui scale.“ „Und wie ist es hart, zu begeh’n / die Straßen, die fremden Straßen, / zu steigen die fremden Treppen.“ Erst in der offenen Ansprache der Italiener wird das Südtiroler Volk sich selbst seine Zukunft öffnen.

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