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Diese Glocken erklingen auch fur uns!

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Am Montag, den 6. August 1945, verkündete Präsident Truman, daß einige Stunden zuvor eine Atombombe auf Hiroshima abgeworfen worden sei. Nach einer Schilderung der wissenschaftlichen und industriellen Anstrengungen, die dieses erstmalige Ereignis ermöglichten, drohte der Präsident: „Wir sind nun bereit, noch schneller und gründlicher jede Produktionsstätte auszulöschen, die die Japaner in ihren Städten über dem Erdboden besitzen. Wir werden ihre Docks, ihre Fabriken und ihre Verkehrsmittel zerstören ... Wenn die japanischen Führer nun unsere Bedingungen nicht annehmen, dann mögen sie einen Schauer des Verderbens aus der Luft erwarten, wie man ihn auf dieser Erde noch nie erlebt hat.“

Das war eine ungeheuerliche Drohung, denn schon in Hiroshima hatte die Uranbombe 86.000 Menschen getötet und weitere 61.000 trugen oder tragen noch das Kainszeichen der Bombe.

In einer Zeit, da man uns die „Segnungen“ der friedlichen Verwertung der Atomkraft in den schönsten Farben ausmalt, müssen wir uns immer wieder erinnern, daß wir in Hiroshima und in Nagasaki eine Anzahlung auf die Kosten der friedlichen Atomkraft zu leisten hatten, die deren begeisterte Anhänger zu vergessen pflegen.

Bereits 1946 veröffentlichte der Amerikaner John Hersey seinen — bald berühmt gewordenen — Bericht über die Hölle von Hiroshima.

Zum erstenmal konnte man nicht bloß eine Erklärung wissenschaftlicher Triumphe, komplizierter Maschinen, neuer Elemente und mathematischer Formeln lesen, sondern einen Tatsachenbericht über die Wirkung der Bombe, gegeben von einigen Menschen, die sie überlebten.

Nun, nach zehn Jahren kommt der Bericht über die Zerstörung Nagasakis zu uns, die drei Tage nach Hiroshima erfolgte.

Die Stadt hat 210.000 Einwohner. Am 9. August 1945 beteten in der mächtigsten katholischen Kathedrale von Nagasaki, „der größten im ganzen Orient“, die Gläubigen in weißen Schleiern um Vergebung für die Sünden der Menschheit. An der Medizinischen Fakultät von Nagasaki hatten die Vorlesungen — wie üblich — um acht begonnen. Der Arzt Dr. Paul Takashi Nagai leitete turnusgemäß den Luftschutzdienst des Spitals.

Die Atombombe gestaltete nicht nur sein Leben um — Dr. Nagai verlor seine Frau, die meisten seiner Freunde und seinen Besitz — sondern sie veränderte auch seine geistige und seelische Einstellung zum Dasein. Zorn, Auflehnung und bitterer Schmerz über die Niederlage wandeln sich zur Einsicht: „Wer ist es, der diese lebensprühende Stadt in ein gigantisches Krematorium verwandelt hat? Wir sind es, das Volk, das diesen verruchten Krieg begonnen hat.“ Die beiden kleinen Kinder Dr. Nagais und der Glaube, zu dem er sich 1934 bekehrt hatte, blieben ihm erhalten. Indem er auf dem Krankenlager in mehreren Büchern seine Lebensgeschichte niederschrieb, suchte und fand er den Sinn der Heimsuchung.

Einer dieser Bände heißt: „Die Glocken von Nagasaki“ und ist nun in einer dankenswerten deutschen Uebersetzung (von Dr. med. Friedrich Seizaburo Nohara) erschienen. (Rex-Verlag, München.)

Dr. Nagai begann seinen schlichten, doch ergreifenden Bericht mit dem Morgen des 9. August 1945. Er schrieb nieder, was er sah und was er hörte, ohne Auslassung oder Verbrämung: „Da ich keinen literarischen Ehrgeiz hatte, mußte ich mir um den Stil keine Sorgen machen.“

Die Niederschrift war langsam und peinvoll, denn der Autor war selbst ein Opfer der Atomkrankheit und zudem brachte jede Szene, jede Begebenheit das Bild eines entschwundenen Freundes zurück. Sein menschlich fühlendes Herz wollte ihn hindern, das Entsetzen, das er erlebt hatte, niederzuschreiben, aber er empfand es als seine „Aufgabe, diese Geschichte, von dem, was uns in diesen Abgrund von Elend und Zerstörung gestürzt hatte, zu erzählen“.

In einer Zeit, da etwa die Luftschutzbehörden der Bundeshauptstadt Washington empfehlen, daß sich (für den Fall eines feindlichen Angriffs) „die Familienmitglieder schon jetzt über Treffpunkte außerhalb der Stadt, sowie über die Möglichkeiten der gegenseitigen Benachrichtigung klar werden“, sollte man die Lehre von Hiroshima und Nagasaki beherzigen.

Am 9. August 1945 um 10.30 Uhr versammelte sich im Kaiserlichen Hauptquartier der Oberste Kriegsrat, um zu entscheiden, ob der Krieg durch Kapitulation zu beendigen oder ob die Feindseligkeiten fortzusetzen seien. Da explodierte zwei Minuten nach elf die zweite Atombombe über dem Urakami-Bezirk von Nagasaki.

Die Bombe war ursprünglich für eine andere Stadt bestimmt gewesen, aber da dort der Himmel bedeckt war, erhielt Nagasaki — als Reserveziel - die Bombe. Das eigentliche Ziel waren die Muniiionsfabriken, aber der Wind trieb die Bombe ab, so daß sie unweit der Kathedrale explodierte. „In einem Augenblick wurden 8000 katholische Seelen — darunter die Priester der Kathedrale — vor ihren Herrn berufen.“ Die Kirche von Urakami hatte, ohne Glaubensfreiheit ihre Religion über 400 Jahre hin in Japan zu erhalten gewußt, obgleich sie unter jeglicher Verfolgung zu leiden hatte. Ein vernichtender Brand verwandelte diese heilige Stadt Asiens in Trümmer und Asche. Noch um Mitternacht fing die Kathedrale selbst Feuer und wurde zerstört. Die Glocke stürzte 50 Meter tief vom Turm herab, doch blieb sie unversehrt.

In der nämlichen Stunde gab der Tenno seinen Entschluß kund, dem Krieg ein Ende zu setzen. Am 15. August wurde der Kaiserliche Erlaß über die Beendigung der Feindseligkeiten verkündet. Der Welt war der Frieden wiedergegeben. „Es war das Fest der Himmelfahrt der heiligen Mutter Gottes, und ihr ist die Kathedrale von Urakami geweiht“, so sagte Dr. Nagai iri seiner Grabrede für seine Kollegen und Schüler.

Von den Menschen, die sich im, engeren Explosionskessel der Atombombe aufhielten — und darin befanden sich die Medizinische Schule und das Spital — blieben nur wenige am Leben, Aber nicht nur im Explosionszentrum wütete der Tod: „Takami führte einen Ochsen. Er war zwei Kilometer von Urakami entfernt, als er den Blitz wahrnahm. Im Augenblick spürte er Hitze: der Ochse und Takami waren augenblicklich verkohlt.“ Im Jahrzehnt' seither wurde die Kraft der Atombomben vertausendfacht. ..

Dr. Nagai stand gerade hinter einer Wand von Eisenbeton und gehörte so zu den wenigen „Glücklichen“. Vom Augenblick der Explosion an verblieb er — solange seine Kraft reichte — inmitten der Ruinen von Nagasaki, um zu helfen und um sorgsam zu beobachten, was von da an geschah.

In jener Zeit war er Leiter des Röntgeninstituts der Medizinischen Fakultät und besaß natürlich eine gewisse Kenntnis von Atomenergie und Atomstrahlungsschäden. Er hatte aber keine Ahnung, daß die praktische Entwicklung der Atomenergie schon weit genug fortgeschritten war, um die Atombombe zu bauen. Er wurde mit der gesamten Fakultät, den Kranken und 70.000 weiteren Menschen zum Objekt des Experiments mit der Plutoniumbombe.

Solange Dr. Nagai die, Kraft dazu hatte — denn auch an ihm zeigten sich schon nach einigen Stunden die ersten Anzeichen der Atomkrankheit —, tat er als Mensch und Arzt mit den anderen Ueberlebenden seine Pflicht. Die unmenschliche Bombe hatte menschliche Großtaten an Opfermut und Hilfsbereitschaft zur Folge.

„Ich war mir klar“, so schreibt Nagai, „daß mich bald der Tod oder schwere Krankheit ereilen würde. Mein berufliches Gewissen aber nötigte mich, nicht von der Krankenbehandlung zu lassen und weiterhin Beobachtungen zu sammeln, um die wahre Bedeutung der Symptome zu erkennen und so eine wirksame Therapie zu finden. Instrumente als dignostische Hilfsmittel fehlten. Es fehlte auch alles, um unsere Werte zu messen und aufzuzeichnen. Wir hatten weder Stift noch Papier. Aber es blieben uns die Köpfe, Augen und Hände, und damit konnten wir schon etwas ausrichten.

Die vor uns tretenden Patienten bildeten in der Geschichte der Heilkunde ein völlig neues Krankengut. Sie unbeobachtet zu lassen, wäre nicht nur ein Akt ernster Nachlässigkeit, sondern würde auch den Verzicht auf wertvolles lebendes Forschungsmaterial bedeuten — für einen Wissenschaftler eine unverzeihliche Handlung.“

Nach sechs Wochen angestrengter Hilfstätig keit fiel Dr. Nagai auf das Bett, von dem - wie er schreibt — er sich nicht mehr erheben sollte. Sein Krankenlager dauerte fast sechs Jahre, bis ihn der Tod von seinen Schmerzen erlöste.

Auf seinem Krankenlager hatte Nagai noch die Freude, den Klang der aus dem Schutt atis-eeerabenen Glocke zu hören. Das Geläute der Glocken war seit dem Beginn des Krieges mit China verboten eewesen. ..Nun ertönt es neu, als eine Bitte, daß es nie wieder unterbrochen würde: daß es seine Friedensbotschaft fort und fort künde bis ans Ende der Welt.“

Wer sich nicht die Ohren und das Gewissen verschließt, sollte die Glocken von Nagasaki auch hier hören. Zumindest jeder, der sich Christ nennt, müßte den Bericht Nagais lesen.

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