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Doppeltes Maß bei den Vereinten Nationen

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Was vereint die Nationen, die in New York versammelt sind? Ist es eine Idee, ein Prinzip, und welches? Die Sicherung des Friedens als Ziel ist nicht genug, man muß auch die Mittel wollen und in deren Wahl einig sein. Allenfalls mit Ausnahme eines Fremdblocks, der nur mitspricht, aber nicht mittut

In einem sind alle Nationen, oder richtiger alle Regierungen einig: im Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Im Statut der Vereinten Nationen ist das noch schärfer ausgesprochen als in dem des Völkerbundes. Das ist einer seiner Hauptfehler, denn ohne Einfluß auf innere Angelegenheiten, die eine Weltgefahr auslösen können, sind die Vereinten Nationen gelähmt. Aber fast alle Staaten haben ein doppeltes Maß für Nichteinmischung, eines für sich und eines für die anderen. Das wirkt ärger als Lähmung.

Frankreich widersetzt sich, empfindlich, der Erörterung der Angelegenheiten seiner nordafrikanischen Gebiete, statt stolz zu beweisen, was es für sie getan hat. Die arabischen Staaten, mit Unterstützung anderer asiatischer und lateinamerikanischer Staaten, verlangen diese Erörterung, sind aber tief beleidigt, wenn man auch ihre inneren Verhältnisse, wie die Sklaverei in Saudi-Arabien, Pogrome in Aegypten, Diktaturexzesse in Syrien, Argentinien, Kolumbien, San Domingo und Venezuela, Leibeigenschaft in Peru und Bolivien, Kommunismus in Guatemala, untersuchen will. Indien verlangt, mit Recht, eine Prüfung der Rassenpolitik Südafrikas, vergißt aber, daß es einem großen Teil seiner Bevölkerung, den „Unberührbaren“, ein viel ärgeres Schicksal, nur gemildert durch britische Unparteilichkeit, bereitet hat und noch bereitet, als die Afrikaner für ihre Farbigen planen. Allerdings, Indien trachtet die Lage zu verbessern, während Südafrika sie verschlechtern will. Diese Verbesserungsversuche werden aber überschattet von dem

Rückgang an Sicherheit und Recht für Millionen von Mohammedanern, die mit Mord und Plünderung aus ihrer Heimat vertrieben wurden, und für Tausende von Europäern, die mit Haß und Diskriminierung vertrieben werden. Indien ist für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, nur unter der Bedingung, daß sie außerhalb der indischen Halbinsel leben. Haidarabad hat es so besetzt wie Hitler die Tschechoslowakei, die Ueber-gabe der kleinen europäischen Kolonien verlangt es so wie Hitler Memel und Danzig, weil es das böse Beispiel besserer Verhältnisse an seiner Peripherie nicht dulden kann, und um Kaschmir kämpft es so wie Ludwig XIV. um das Rheinland. Südafrika wieder wehrt sich gegen eine Untersuchung seiner Rassenpolitik und seiner Usurpation Südwestafrikas mit denselben Gründen, die Göring der Prüfung der Judenmorde und der Besetzung Oesterreichs entgegensetzte. Indonesien hat mit dem Schlagwort des Selbstbestimmungsrechtes die Holländer vertrieben, aber gegen den Willen der Mehrheit den Bundesstaat in einen Einheitsstaat umgebaut. In diesem Einheitsstaat wiederholen die Javanesen, in asiatischer Vergrößerung, die Sünden der Tschechen gegen Slowaken, Ungarn und Deutsche, die die Verschmelzung der Tschechoslowakei verhinderten, die der Madjaren gegen Kroaten und Rumänen. Dieser Einheitsstaat geht auf Eroberung aus, indem er den Holländern ihren Teil von Neuguinea abdrohen will, ohne Rücksicht auf die Spannung mit Australien, das die Nachbarschaft eines unreifen Imperialismus auf derselben Insel nicht hinnehmen kann. Was Indonesien von Holland begehrte, verweigert es Amboina in einem Besetzungskrieg gleich dem Indiens in Haidarabad. Wäre Irland Mitgliedsstaat, so würde es auch bei den Vereinten Nationen gegen die Gewährung derselben Rechte in Nordirland wettern, die es von England durchsetzte.

Argentinien würde, wenn man es ließe, die Falklandinseln mit Gewalt besetzen, und begnügt sich vorläufig mit kleinen Gesten der Souveränität über dieses Gebiet. Es unterwirft Briefe mit dessen Marken dem Strafporto, als ob sie nicht frankiert wären, und behandelt deren Eingeborene als Deser-. teure, wenn sie nicht in der argentinischen Armee dienen. Daher kann es keine Schiffsverbindung zum. nahen Festland geben, sondern nur nach dem fernen Uruguay. Die lateinamerikanischen Staaten möchten am liebsten die europäischen Kolonien in Süd-und Mittelamerika so behandeln wie Indien Goa und Pondich£ry, und unterstützen vorläufig nur die Aspirationen von Honduras auf Britisch-Honduras, die ebenso begründet sind wie die Ansprüche Irans auf ein Lösegeld ohne Freilassung, auf eine Mitgift ohne Braut.

Die Begriffe von Recht und Freiheit bei den Vereinten Nationen zeigen also eine chaotische Verwirrung. Die Verschiedenheit der Sprachen läßt sich durch ein ausgezeichnetes Uebetsetzungssystem überbrücken, die

Verschiedenheit der Rechtsbegriffe nicht. Und in der Mitte, wie das Zentrum eines Ringelspiels, stehen die Vereinigten Staaten. Jedes Land streckt öinen die Hand entgegen und ist beleidigt, wenn es nicht ebensoviel bekommt wie ein anderes. Jede Gruppe, im Konflikt mit einer anderen, begehrt ihre Hilfe und droht mit Uebergang zum großen Gegner, wenn es sie nicht bekommt, oder doch zumindest mit Revanche bei der nächsten Abstimmung.

Was ist die Ursache dieses Chaos? Es gibt deren viele. Erstens handelt es sich gar nicht um vereinte Nationen, sondern nur um mehr oder weniger vereinte Regierungen. Jede will nur einen kleinen Vorteil für sich herausschlagen, den sie über die großen gemeinsamen Interessen setzt. Zweitens, die totalitären Regierungen sind gegenüber den demokratischen in der Mehrheit. Lippendienst für die Grundsätze der Demokratie, wechselseitige Verleihung des Ehrentitels der pemokratie ändern daran nichts. Das bezieht sich nicht nur auf den Sowjetblock; von Argentinien bis Venezuela, von Bolivien bis Südafrika, von Kolumbien bis Saudi-Arabien kann man das ganze Alphabet der 60 Staaten, die ganze Geographie der Erde durchgehen und stößt leicht auf zwei totalitäre für jedes -demokratische Land. Totalitäre Staaten sind aber unfähig, aufrichtig an gemeinsamen Grundsätzen mitzuarbeiten, die internationalen Frieden sichern. Sie können nicht nach außen stützen, was sie im Innern unterdrücken. Drittens, Völkerrecht und Menschenrechte sind noch nicht so entwickelt — und werden es in dieser Generation kaum werden —, daß sie einen Ariadnefaden durch dieses Labyrinth widerstreitender Interessen, Forderungen, Aspirationen böten.

Soll man daher an den Vereinten Nationen verzweifeln? Gewiß nicht! Sie sind anscheinend das Beste, das sich beim gegenwärtigen Weltzustand erreichen läßt, und können sich zu noch Besserem entwickeln. Nicht verzweifeln, aber auch nicht überschätzen, und nicht größere Hoffnungen auf sie setzen, als sie erfüllen können! Täuschung darüber kann nur zu Enttäuschungen, Ueber-schätzung ihrer Kräfte nur zu falschen Einschätzungen jener Kräfte führen, die außerhalb der Vereinten Nationen — neben ihnen, nicht gegen sie — zur Wahrung des Friedens nötig sind.

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