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Drama Nordafrika

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Paris, Ende Juni 1955 Während in San Franzisko die Zehnjahresfeier anläßlich der Gründung der UNO abgehalten wurde, untermalt durch unzählige Friedensbeteuerungen, schwelt in Nordafrika der Bürgerkrieg, fallen die versöhnlichen und aufbauwilligen Persönlichkeiten, seien es Franzosen oder Araber, unter den Garben der Maschinenpistolen unverantwortlicher Terroristen. Nachdem bereits Indochina fast vollständig verlorengegangen ist, steht Frankreich vor schwierigsten Problemen in einem Raum, der die natürliche Fortsetzung des Mutterlandes darstellt und die weltpolitische Stellung der Nation untermauert.

Die islamitische Welt ist in Bewegung und Aufbruch begriffen. Feudale Strukturen und westliche Methoden stehen dem Drängen einer Jugend gegenüber, die auf den französischen Universitäten die Begriffe der Freiheit und Menschenrechte kennengelernt hat, die Sartre und Camus liest und zwei so verschiedene Kulturen aufgenommen hat. Eine Untersuchung beweist, daß die Terroristen in Marokko meistens 20 bis 30 Jahre alt sind und in der Regel dem Mittelstand angehören.

Die Frage nach der Zukunft Nordafrikas und seiner Eingliederung in die französische Union verlangt nun die echte und grundlegende Aussprache zwischen Völkern, die historisch wie wirtschaftlich in einer gewissen Einheit leben müssen, soll nicht das gewaltige Aufbauwerk Frankreichs im Bürgerkrieg feudaler Herrscher untergehen.

Wir sprechen von Nordafrika und glauben vor uns eine Einheit gleichartiger politischer und geistiger Probleme zu sehen. Eine nähere Beobachtung wird iedoch eine Fülle von Unterschieden herauszuarbeiten haben. Frankreich begann sein Werk in Marokko seit 1907. Der Protektoratsvertrag wurde 1912 abgeschlossen. Die Pazifizierung des Landes konnte erst 1934 zum Abschluß gebracht werden.

Algerien dagegen ist ein integrierender Bestandteil Frankreichs mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten. Die weiße Bevölkerung begann ihre Einwanderung ab 1830. Ganz anders wieder liegen die Verhältnisse in Tunis, mit einer gut gegliederten politischen Partei, einer funktionierenden Gewerkschaftsbewegung und einer Bevölkerung, die weitaus die größten Fortschritte in der Emanzipierung gemacht hat.

Alle, auch sehr reservierte Beobachter, können die kolonisatorische Tat Frankreichs in diesen Ländern nicht bestreiten. Um nur eine Zahl zu nennen: Für Algerien zahlt der französische Staat jährlich 47 Milliarden Francs, die kürzlich auf 60 Milliarden erhöht wurden.

Woher stammen nun die zahllosen Spannungen und Schwierigkeiten der letzten Jahre? Die ansässige weiße Bevölkerung lebt noch zu stark in den Traditionen des patriarchalischen Systems, während die Schichte neu hinzugekommener Funktionäre und Technokräten Meisterwerke der Technik vollbringen, ohne sich je mit der Seele und den Problemen der einheimischen Bevölkerung vertraut zu machen. Es darf auch nicht übersehen werden, daß ein zu starkes Eigenleben der Verwaltung vielfach gute Intentionen der Pariser Regierung abgebogen, ja in verkehrte Richtung gelenkt hat. Schließlich sträuben sich die Herrscher großer wirtschaftlicher Interessen, echte Reformen in die Wege zu leiten oder zu erleichtern.

Die Regierung Edgar Faure hat mit Nachdruck begonnen, die Beziehungen zwischen den einzelnen nordafrikanischen Ländern und dem .Mutterlande abzuklären und dem Zustand ständiger Unruhe ein Ende zu setzen. Denn diese Spannungen schwächen die Militärkraft des Landes und drohen neuerlich, den wirtschaftlichen Aufbau der letzten Jahre in Frage zu stellen. Wir müssen natürlich auch den rein militärischen Aspekt dieser Frage in den richtigen Proportionen sehen. Die Fellachen Tunesiens und Algeriens, die Terroristen und Gegenterroristen Marokkos, stellen nur kleine Minderheiten dar. In Algerien werden die kämpfenden Fellachen zwei- bis dreitausend Mann nicht überschreiten. Durch das Gelände werden sie jedoch begünstigt, sie erfreuen sich der Unterstützung ausländischer Mächte und deshalb darf diese Gefahr nicht unterschätzt werden.

Edgar Faure nahm in erster Linie die Verhandlungen mit Tunis wieder auf, welche von Mendes-France in dramatischer Weise in die Wege geleitet worden waren. Er fand in Bourghiba, der jahrelang interniert, doch nie die Verbindung zu Tunis verloren hatte, einen Gesprächspartner, der derzeit mäßigend auf seine Anhänger im Neodestour einwirkt. Die Rückkehr Bourghibas nach Tunis war ein unerhörter persönlicher Erfolg des Parteichefs, der ohne Zweifel gegenwärtig am besten die tunesische öffentliche Meinung repräsentiert. Die Beziehungen Tunesiens zu Frankreich werden durch einen Vertrag und eine Konvention geregelt. Eine Revision des Vertrages von Bardo stand niemals zur Diskussion. Dagegen wurden die Konventionen von Marsa nach langen und schwierigen Verhandlungen durch die Pariser Abkommen vom 3. Juni 1955 ersetzt. Diese Konvention soll in Kürze dem französischen Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden. Die Außenpolitik wie die militärische Sicherheit Tunesiens bleiben weiterhin bei Frankreich. Tunis verläßt weder das französische Währungs- noch Wirtschaftssystem. Dagegen erhält Tunis eine interne Autonomie, nur die Polizei bleibt zeitweise unter der Kontrolle Frankreichs. An Stelle des Protektorates tritt damit praktisch eine Assoziation zweier souveräner Staaten. Frankreich mußte auf zahlreiche Privilegien verzichten, es scheint, daß Bourghiba und seine Partei diese Verträge bis auf weiteres loyal einzuhalteu gedenken. Eine Herauslösung Tunis' aus dem französischen Wirtschaftsverband würde nach Meinung der Experten für das Land eine Katastrophe bedeuten. Trotzdem wird der Neodestour auf die vollständige Unabhängigkeit Tunesiens nicht verzichten wollen. Starke Widerstände gegen diese Verträge kamen besonders aus der Reihe mittlerer Funktionäre, meist italienischer oder maltesischer Herkunft, die ihre frühere beherrschende Stellung verloren haben. Seit Abschluß der Konventionen wurden die Kampfhandlungen praktisch eingestellt. Die Attentate haben fast aufgehört, ein neuer Abschnitt in der Geschichte Tunis' hat begonnen.

Schwieriger und gefährlicher zeigt sich die Lage in Algerien. Im Gebiete von Aures, einem zerklüfteten Bergmassiv, kommt es immer wieder zu heftigen Kämpfen. Frankreich mußte sogar eine seiner NATO-Divisionen aus Deutschland abziehen und nach Algerien umleiten. Diese Berge wurden übrigens niemals vollständig in den Bereich der französischen Herrschaft gebracht. Algerien ist, wie schon gesagt, als integrierender Bestandteil des Mutterlandes in drei Departements untergeteilt und wird von einem Generalgouverneur regiert, dem eine gewählte Versammlung mit gewissen legislativen Rechten zur Seite steht. Diese Versammlung konstituiert sich zu 50 Prozent aus Algeriern. Die Wahlen dazu wurden von der Verwaltung oft zu sehr gelenkt. Dies erklärt sich auch aus dem Umstand, daß repräsentative Parteien fehlen. Es gibt Wohl die Algerische Volkspartei (PPA), geleitet von Massali Hadje, welche stark kommunistisch durchsetzt ist und ihre'Anhänger aus dem Bauernstand rekrutiert. Schließlich gibt es die Manifestbewegung (Mouvement du Manifeste), durch Fahrat Abbas repräsentiert, welche vor allem die Intellektuellen anspricht. Diese beiden Parteien stellen jedoch eine Minderheit dar, sie. streben nach einer Algerischen Republik, halten sich jedoch an die wirtschaftlichen Bindungen zum Mutterland.

Noch Mendes-France hat aus politischen Erwägungen, um sich die Unterstützung der ExGaullisten zu sichern, Soustelle als Generalgouverneur bestellt. Soustelle hatte die Ausarbeitung eines Gesamtplanes versucht, um die Atmosphäre zu entgiften und tatsächliche Reformen in die Wege zu leiten. Der nach ihm benannte Plan, welcher von der Regierung anerkannt wurde, beschäftigt sich mit der schwierigen Lage der Bauern, will die Löhne der Landarbeiter erhöhen und wird der Tatsache gerecht, daß sich die Bevölkerung Algeriens in zehn Jahren verdoppeln wird. Großzügige administrative Maßnahmen, wie die Gründung neuer Departements, stärkere Unabhängigkeit der Gemeindevertretungen, sollen zwischen dem Volke und der Verwaltung ein neues Vertrauensverhältnis schaffen.

Der Soustelle-Plan stößt jedoch ebenfalls auf die Ablehnung der konservativen Kreise. Eine Reihe von weißen Bürgermeistern drohte bereits, ihre Beziehungen zum Generalgouverneur abzubrechen. Frankreich steht auf dem Standpunkt, daß Algerien ein Teil des Mutterlandes ist und bleiben muß und dadurch auch im Atlantikpakt aufgenommen wurde. Die Regierung versucht, ihr Schwergewicht auf den sozialen Sektor zu verlegen, es mag jedoch bezweifelt werden, ob damit allein die algerische Frage gelöst werden kann.

Außergewöhnlich komplex zeigen sich die Verhältnisse in Marokko. Die starken Gegensätze zwischen Berbern und den städtischen Arabern erzeugen ständige Reibungen, die zu offener Feindschaft aufflammen. Die Absetzung des Sultans Mohamcd Ould Joussef zugunsten Mohamed Ould Arafas läßt sich aus diesen Gegensätzen ableiten. Wir sehen darin ein Werk jener Kreise, die sich um den mächtigen Pascha von Marakesch. El Glouai, gefunden haben. Der Pascha vertritt eine streng feudale Ordnung. Er war stets ein enger Parteigänger Frankreichs und ist eine jener Gestalten, die wie früher Ibn Saud die Herrlichkeit islamischer unbeschränkter Macht auch in der Gegenwart bewahren wollen. Die französische Verwaltung hatte mit dem früheren eher reformfreundlichen Sultan Schwierigkeiten. Noch ist es zu früh, um über die Einzelheiten der Absetzung des Sultans zu urteilen. Als am 20. August 1953 Mohamed Ould Joussef ins Exil geschickt wurde, geschah dies unter dem Vorwand, er unterstütze zu sehr die Nationalistische Partei Istiqlal. Fest steht, daß seit diesem Datum der Terror nicht abreißen will und sein Echo in einem Gegenterror gefunden hat. Durch seinen Fall wuchs die Popularität des alten Sultans, er wurde gleichsam der Katalysator aller Wünsche und Aspirationen, das Symbol der Freiheit und Unabhängigkeit. Viele unvoreingenommene Franzosen sehen darin den Beginn des eigentlichen Dramas in Marokko. So versäumt es beispielsweise Mauriac niemals, sein Anathema Bidault und dem MRP entgegenzuschleudern, die er für diese verfehlte Marokkopolitik verantwortlich zu machen sucht. Vergessen wir jedoch nicht, daß zu dieser Zeit durch den Generalstreik Paris von Marokko praktisch abgeschnitten war und die Verantwortlichen der Verwaltung wie die Umgebung des Glouai ohne die geringste Kontrolle ihr Werk beginnen konnten. Auf alle Fälle waren die militärischen Residenten Juin und Guillaume mit dieser Maßnahme ebenfalls einverstanden, wie verschiedene Funktionäre, welche die Affäre von Rabat vorbereitet haben.

Es steht weiter fest, daß der neue Sultan, ein fast heilig mäßiger Mann, über keinen Anhang verfügt, und die Frage des Thrones wird damit zu einem Schlüsselproblem der Marokkopolitik. Man denkt derzeit daran, einen Regentschaftsrat zu bilden.

Die 350.000 Weißen, welche 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen, repräsentieren das europäische Marokko, welches keine Bindung zum islamischen und nationalistischen findet. Eirik Labonne, der große Generalresident, hat als erster dieses Problem begriffen und entwickelte den Plan, einen großen nordafrikanischen Wirtschaftsraum mit Einschluß der Sahara zu begründen und zu gleicher Zeit neue Formen des geistigen wie sozialen Lebens zu finden. Die konservativen Kreise gedachten jedoch im alten Stile weiterzuregieren. Sie setzten sich nicht mit den nationalistischen Rufen der Partei Istiqlal auseinander, die zur Zeit ihres Verbotes 1952 immerhin über 100.000 Mitglieder zählte. Die Welle des Terrors, welche seit 1953 Marokko erschüttert, die Streiks und die Schließung der arabischen Geschäfte, ließ die französische öffentliche Meinung erst dann aufhorchen, als Lemaigre Dubreuil, der Direktor der Zeitung „Maroc Press“ der mit Nachdruck eine Verständigung predigte, von weißen Gegenterroristen ermordet wurde. Ehemalige Polizisten, frühere Soldaten, hatten sich inzwischen in gegenrevolutionären Organisationen zusammengeschlossen. Man wird unwillkürlich an schlechte Kriminalromane und Filme erinnert, will man diese dunklen Fäden verfolgen. Nichts fehlt: der Polizeikommissär, der den Terror bekämpfen soll und selbst Attentate vorbereitet; die schöne Barmaid usw.

Die Verwaltung in Marokko scheint sich selbständig gemacht zu haben. Mauriac und seine Freunde sowie die französische Linkspresse wissen immer wieder von Ausschreitungen der lokalen Polizei zu berichten. Der Direktor der politischen französischen Polizei WYBOT wurde in zwei Missionen nach Marokko entsandt und schlägt eine vollkommene Reorganisation des Sicherheitswesens vor.

In diesem Gluthauch der Auseinandersetzung bedarf es einer Persönlichkeit von der Größe Lyauterys, um die beiden Marokkos zu versöhnen. Die französische Regierung glaubt, diese Person in Granval, dem französischen Botschafter an der Saar, gefunden zu haben. Wie man auch dessen Politik an der Saar beurteilen mag, so tritt damit dpch ein starker Charakter auf die Bühne, der durchaus ein großer Prokonsul werden kann. Wird er die tiefen Ursachen der französisch-marokkanischen Spannungen erkennen? Die Regierung erwartet von ihm in erster Linie, daß er die Ordnung wieder herstellt, die Verwaltung nur nach den Richtlinien der Pariser Politik arbeiten läßt und an Stelle der Mystik des Schreckens die der Verständigung setzt.

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