6547233-1947_22_05.jpg
Digital In Arbeit

Drebig Jahre Codex Juris . Canonici

Werbung
Werbung
Werbung

Der Abend des 20. Juli 1903 brach langsam herein. Schon waren die Strahlen der Sonne verschwunden, aber noch immer lagerte die Schwüle des Tages über den Lagunen und Plätzen Venedigs. Giuseppe Sarto, Kardinalpriester von San Bernardo alle terme di Diocleziani und Patriarch von Venedig, hatte soeben die Nachricht empfangen, daß Papst Leo,XIII. heute, am 20. Juli 1903, gestorben war. Das Konklave, an dem er ja als Kardinal teilzunehmen verpflichtet sei, so überlegte der Patriarch, müßte spätestens am 31. Juli beginnen. Giuseppe Sarto beschloß, sobald als möglich zu reisen. Schon am nächsten Morgen bat er seinen Sekretär, ihm die Fahrkarte nach Rom zu besorgen und auch gleich die Rückfahrkarte nach Venedig zu kaufen, denn dadurch ermäßige sich der Preis des Billetts um einige Lire. Die Rückfahrkarte wurde nie benützt. Für den Patriarchen von Venedig — und auch für die Welt — ganz unerwartet, wurde er im sechsten 'Wahlgang zum Papst gewählt. Als Pius X. bestieg er den Stuhl Petri.

Der neue Papst war nicht einen Augenblick im Zweifel über sein Regierungs-programm. Die Sorge um die Seelen hatte einst' den jungen Sarto bestimmt, sich der theologischen Laufbahn zuzuwenden. Für ihn war Seelsorge nicht ein Beruf, sondern eine Berufung.. Und diese Berufung hatte sein Handeln als Kaplan von Tombolo, als Pfarrer von Salzano, als Domherr von Treviso, als Bischof von Mantua, als Patriarch von Venedig, als Kardinal der römischen Kirche bestimmt. Er wollte nun als Papst auch nichts anderes als Seelsorger sein. Das war sein Programm; und da er jetzt die höchste Gewalt in der Kirche besaß, beschloß er, alles zu beseitigen, was diesem Programm entgegenstand. Es war eine lange Liste von Punkten, die er sich in der ersten Nacht nach der Wahl unter diesem Gesichtswinkel zusammenstellte. Als besonders dringlich war darunter die Neukodifikation des kanonischen Rechts angeführt.

Seit dem Jahre 1324 war keine amtliche Kodifikation des Kirchenrechts mehr erfolgt. Im Verlauf der Jahrhunderte war dieses Corpus Juris Canonici langsam zu einer monströsen Sammlung von Gesetzen angeschwollen. Da gab es neben dem Dekretum Gratiani, der Privatarbeit eines Mönches aus dem 12. Jahrhundert, das nie amtlichen Charakter besaß, eine Reihe von Dekretalen-sammlungen, Erlässen von Konzilen, Paragraphen über Paragraphen, teilweise veraltet und unbekannt, überholt oder unklar, auf jeden Fall in dieser Form ein Hindernis für jede moderne Seelsorge. „Seine Schwere und sein Umfang“, hatten die neapolitanischen Bisdiöfe 1869 an Pius IX. geschrieben, „übersteige die Tragfähigkeit von Kamelen.“

Pius X. entwickelte eine ungeahnte Energie. Sofort nach seiner Krönung begann er die einzelnen Punkte seines Programms in die Wirklichkeit umzusetzen. Am 19. März 1904 kam die Neukodifikation des kanonischen Rechts an die Reihe. An diesem Tage ver- . kündet er der Welt durch das Motu proprio „Ardanum sane“, seinen Entschluß das gesamte Recht der lateinischen Christenheit neu aufzeichnen zu lassen. Gleichzeitig ernannte er eine Kommission von 16 Kardinälen und 42 Rechtsgelehrten, die diese Arbeit durchzuführen habe. Die Welt, die von dem Plan Pius' X. hörte, lächelte über die Naivität dieses „Landpfarrers“. Hatte nicht der geniale Leo XIII. und sein ebenso genialer Staatssekretär Rampolla das gleiche versucht und diesen Versuch bald wieder aufgeben müssen? War nicht ein Pius IX. und ein Benedikt XIV., der größte Kanonist, der je den päpstlichen Thron innegehabt hatte, bei dem Versuch einer Neukodifikation ebenso gescheitert wie das Konzil von Trient?

Durch ein Jahrzehnt schienen die Skeptiker recht zu behalten. Kaum drang irgendeine Nachricht über die Arbeit der Kommission an die Öffentlichkeit. Von Zeit zu Zeit erließ nur der Papst irgendeine neue Verfügung, die tief in das Rechtsleben der Kirche eingriff, wie über das Eherecht, über die Papstwalil, die Organisation der Kurie, die Promulgation von Gesetzen, Verfügungen, die die Welt nur als“ Ausfluß der Ungeduld des Papstes wertete, daß die Arbeit der Kommission nicht weitergehe. Sie ahnte nicht, daß diese Erlässe des Papstes nur Versuche darstellten, die keinen anderen Zweck hatten, als die Lebensfähigkeit der Arbeiten der Kommission zu erproben. . Als Pius X. 1904 zum erstenmal, die. neu--ernannte Kommission von Kardinälen empfing, äußerte er sich, daß es ihm persönlich gleichgültig sei, ob er die Vollendung des Werkes erlebe oder nicht. Wichtig sei ihm nur, daß das Werk eine vollendete Arbeit werde. Die unglaubliche Energie, die der Sekretär und späterer Vorsitzende der Kommission, Kardinal Gasparri, entwickelte, brachte es zuwege, daß die Arbeit um das neue Gesetzbuch nur ein knappes Jahrzehnt in Anspruch nahm. Als zu Beginn des Weltkrieges Kardinal Gasparri zum Staatssekretär ernannt wurde, war es allen Eingeweihten klar, daß das neue Gesetzbuch so gut wie abgeschlossen sein mußte. Noch aber vergingen drei Jahre, bevor, am 27. Mai 1917, Benedikt XV., der Nachfolger des im September 1914 verstorbenen Pius X., das neue Gesetzbuch, welches zum Untersdiied vom alten Corpus Juris Canonici, Codex Juris Canonici genannt, feierlich veröffentlichte und seine Rechtskraft von Pfingsten 1918 an festsetzte.

Die Welt nahm 1917 kaum Notiz von diesem Ereignis. Sie bekümmerte sidi um andere Dinge. Am Isonzo verbluteten Österreicher und Italiener im Kampf um ein paar Nester im steinigen Karst, am Chemin-des-Dames und an der Somme tobten die Materialschlachten, die Versenkungsziffern des neu proklamierten U-Bootkrieges erreichten sdiwindelnde Höhen, in Rußland stand die Revolution vor der Tür. Warum sollte die Welt von 1917 diesem neuen Gesetzbuch von nur 2414 Paragraphen, die in einem schmucklosen, aber präzisen Latein abgefaßt waren, Aufmerksamkeit schenken? Ihr Augenmerk war auf Tod und Vernichtung, aber nicht auf Gereditigkeit gerichtet. Und diese proklamierte der Kodex mitten im blutigen Ringen der Welt als die Idee der ewigen Gerechtigkeit.

Der Kodex von 1917 schuf kein neues Recht. Es' ist lediglich eine Neukodifikation, das heißt er goß das alte Recht der Kirche in eine neue, brauchbare Form unter Ausscheidung alles dessen, was an menschlichen Beisätzen im Laufe der Jahrhunderte veraltet war. Die Männer, die diesen Kodex schufen, bemühten sich vor allem, einen Grundsatz durchzuführen: den, so wenig Paragraphen wie möglich aufzustellen. Nur dort, wo sich im Rechtsleben der Kirdie Unklarheiten ergeben konnten oder ein Schutz notwendig w-ar, sollte der Paragraph das Recht hüten und festhalten.

Rudolf Sohm, der berühmte Kirchenrechtler, erhob einst gegen das Kirchenrecht den schweren Vorwurf, daß es das Wesen der Kirche auslösche. Das war von einer Warte aus gesehen, welche die „Kirche“ nur spiritualistisch begriff. Nach der katholischen Lehre ist aber die Kirche kein spiritualistisches Wesen, sondern ein Korpus, das aus Menschen besteht, die, soweit sie noch auf dieser Welt leben, einer Rechtsordnung bedürfen, die ihr Zusammenleben regelt. Es ist ein Grundsatz der Kirche, daß die Gnade die Natur voraussetzt. Die Natur bleibt aber nur dann heil, wenn die Gerechtigkeit herrscht. So bedarf die Kirche, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, einer Rechtsordnung, die das Zusammenleben ihrer Mitglieder regelt.

Wohl wird im kirchlichen Gesetzbuch fast nur von Klerikern und wenig von den Laien gesprochen. Diese Tatsache veranlaßte Ulrich Stutz, den langjährigen Professor für Kirchenrecht an der Universität von Berlin, zu der Bemerkung, daß auch dieser neue Kodex wieder ein Beweis sei, wie weit in der römischen Kirche nur der Kleriker als Vollbürger gelte. Auch dieser Vorwurf geht an dem Wesen der Kirche vorbei. Denn gerade das kirchliche Gesetzbuch bestimmt, daß der Kleriker des Laien wegen da ist, nicht umgekehrt. Der Laie hat nach Kanon 682 ein ausdrückliches Recht auf die Verkündigung der Glaubenslehre und die Spende der Sakramente durch die Priester. Das Schweigen über die Laien bedeuet also nicht, daß sie keine Rechte hätten, sondern vielmehr das Gegenteil: daß sie bei einem Minimum von Pflichten von der Kirche durch die Priester alles zu empfangen hätten, was sie auf ihrem Lebensweg benötigen.

Die Veröffentlichung des Kodex zu Pfingsten 1917 war noch aus einem andern, Grund ein Weltereignis. Inmitten eines Kampfes, der die Völker der Welt und insbesondere die des Abendlandes zerfleischte, verkündete er die Einheit des Abendlandes, denn der Kodex gilt für alle Glieder der Kirche, gleichgültig welcher Rasse und welchem Volk sie entstammen, soweit sie Angehörige des abendländischen Ritus sind. Zu den Mitgliedern des abendländischen Ritus zählt das kirchliche Gesetzbuch auch die Protestanten aller Schattierungen, soweit sie die Taufe gültig spenden, denn sie haben sich, nach katholischer Ansicht, nur von der Kirche abgewendet, ohne die rechtliche Verbindung, die durch die Taufe begründet wurde, gelöst zu haben.

Die Promulgation des neuen Kodex am 27. Mai 1917 war kein tiefer Einschnitt im. kirchlichen Leben, aber er ist ein Zeichen der Kraft der Kirche, ewige Rechtsgedanken in zeitlich gültige Formen zu gießen. Er bezeugt dazu die Größe und den seelsorgerlichen Eifer, den sein Schöpfer, Papst Pius X., besessen hatte. Mit Recht konnte Benedikt XV. am Vorabend des Festes von Peter und Paul 1917 Kardinal Gasparri die Worte sagen: sein Vorgänger sei der alleinige Urheber des neuen Rechtsbuches und wenn ihm der Gedanke, daß Pius X. nicht mehr die Krönung seines Werkes erleben konnte, bekümmere, so tröste er sich doch mit dem Gedanken, daß er sich im Himmel über die Fertigstellung des Rechtsbuches freuen werde.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung