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Duell ohne Gerechtigkeit

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ÖSTERREICH-UNGARNS ANTEIL AM ERSTEN WELTKRIEG, Von Rudolf Kizsling. Stiasny-Verlag, Graz. 96 Seiten. Preis 75 S

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ÖSTERREICH-UNGARNS ANTEIL AM ERSTEN WELTKRIEG, Von Rudolf Kizsling. Stiasny-Verlag, Graz. 96 Seiten. Preis 75 S

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Für einen ehemaligen k. u. k. Generalstabsoffizier und späteren langjährigen Direktor des Kriegsarchivs war der Gedanke naheliegend, den Inhalt des offiziellen Werkes über Oesterreich-Ungarns letzten Kampf, einer sieben Großoktavbände umfassenden Darstellung, an deren Redigierung er maßgeblich beteiligt war, in kondensierter Form der breiten Oeffentlichkeit zugänglich zu machen. Das hier vorliegende Ergebnis dieses Vorhabens ist von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beurteilen. Dem alten Soldaten, der den letzten Krieg unter den kaiserlichen Fahnen mitgemacht hat, wird es dienlich sein können, um sich die einzelnen Phasen des großen Ringens, deren chronologische Reihenfolge er nicht mehr recht in Erinnerung hat, ins Gedächtnis zurückzurufen. Eine andere Frage aber ist die, ob es geeignet sein kann, der jüngeren Generation, also der heute schon weit überwiegenden Mehrheit unseres Volkes, die jenen Krieg nicht mitgemacht oder miterlebt hat, ein wahres und objektives Bild der beispiellosen Leistungen zu vermitteln, die Altösterreichs Heer in seinem letzten Waffengang vollbracht hat.

Mit Recht nennt Kiszling die Armee, die 1914 zur Verteidigung des Vielvölkerreiches ins Feld zog.

eine Streitmacht von achtunggebietender Stärke. Wie sich aber diese Stärke zu jener der Russen und der Serben verhielt — von den später eingreifenden Italienern und Rumänen ganz zu schweigen —, darüber sagt er ebensowenig wie über die schwere Hypothek, mit der das Heerwesen der Donaumonarchie durch die Schuld borniert kurzsichtiger oder auch reichsfeindlicher Parteien in den Parlamenten Oesterreichs und besonders Ungarns belastet war. Die ganz ungenügende Höhe der zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel ebenso wie des Rekrutenkontingentes verhinderte in der Vorkriegszeit Jahr um Jahr die Durchführung dringlicher und von der

Heeresverwaltung oder dem Generalstabschef immer wieder urgierter Maßnahmen; so die Ausgestaltung und Vermehrung der Artillerie, die Aufstellung einer hinlänglichen Zahl von Maschinengewehrabteilungen, die Erhöhung der schon für Ausbildungszwecke kaum mehr genügenden Friedensstände bei der Infanterie, den zusätzlichen Bau permanenter Befestigungen in besonders gefährdeten Grenzabschnitten; die Anlage größerer Munitions- und sonstiger Materialreserven für den Ernstfall und anderes mehr. Aus den genannten Gründen war es auch nicht möglich gewesen, und das fiel besonders schwer ins Gewicht, Vorsorge für die sofortige Bereitstellung von Kampftruppen zweiter Linie im Falle eines Krieges zu treffen. Die erst bei der Mobilisierung aus kaum ausgebildeten und meist älteren Jahrgängen formierten Marsch- bzw. Landsturmbrigaden, denen so gut wie keine Artillerie und keinerlei technische oder sonstige Spezialtruppen und Anstalten zugewiesen werden konnten, waren als geschlossene Verbände naturgemäß nur sehr beschränkt verwendbar und nicht annähernd ein Ersatz für ausgebildete und komplett ausgerüstete Reservedivisionen, wie sie der deutschen und der russischen Heeresleitung mit Kriegsbeginn zur Verfügung standen. Die Abteilungen dieser improvisierten Brigaden den Bataillonen der aktiven bewaffneten Macht zuzuzählen, um damit auf die Gesamtziffer von 1094 zu kommen, wie Kiszling es tut, ist daher irreführend. Voll einsatz- fähige, operative Heereskörper waren, abgesehen von den elf Kavallerietruppendivisionen, nur die aus ihren Friedensgarnisonen ausmarschierten 48 Infanterietruppendivisionen, und diese umfaßten insgesamt bloß 670 Bataillone, die übrigens auch zu einem erheblichen Teil aus nur kurzfristig ausgebildeten Ersatzreservisten bestanden. Ueberdies war, was Kiszling ebenfalls unerwähnt ließ, die österreichisch-ungarische Division zahlenmäßig und hinsichtlich ihrer Bewaffnung schwächer als die russische. Letztere hatte durchweg 16 Bataillone, 32 MG und 48 bis 64 Geschütze: erstere nur ausnahmsweise mehr als 13 Bataillone, bestenfalls 24 MG und 42 Geschütze, darunter zu etwa einem Drittel noch die veraltete Haubitze M 99 ohne Rohrrücklauf. Zudem hatten die russischen Geschütze eine größere Tragweite und anfänglich eine bedeutend höhere Munitionsdotierung als die unsrigen; eine Hauptursache der enormen Verluste, die unsere Armeen bei ihrem offensiven Vorgehen im Sommer und Herbst 1914 auf den Schlachtfeldern des Ostens erlitten.

Weshalb Conrad, statt den russischen Ansturm in Defeisivstellungen abzuwarten, auch dann noch an der mit dem deutschen Generalstabschef Moltke seit langem vereinbarten offensiven Kriegsführung festhielt, als er — drei Tage vor Beginn der Feindseligkeiten! — verständigt wurde, daß die Deutichen das Abkommen nicht einhalten und den von ihnen zugesagten Vorstoß in Richtung Siedlce nur im Falle passiven Verhaltens der Russen unternehmen würden, darüber äußert sich Kiszling mit einer Zurückhaltung, die das Wesentliche ungesagt läßt. Die k. u. k. Armeen warfen sich der russischen Dampfwalze ent gegen, unter Opfern, die namentlich in den Reihen des aktiven Offiziers- und Unteroffizierskorps nicht wieder wettzumachen waren, um möglichst starke feindliche Streitkräfte zu binden und den russischen Vormarsch durch Preußisch-Schlesien in das Innere Deutschlands so lange zu verhindern, bis der von der deutschen Heeresleitung mit Sicherheit vorausgesagte entscheidende Sieg in Frankreich die Verlegung des deutschen militärischen Schwergewichts nach dem Osten und einen vernichtenden Schlag gegen Rußland ermöglichen würde. Das öster- reichisch-ungarische Heer ist dieser ihm gestellten Aufgabe mit beispielloser Selbstverleugnung gerecht geworden, aber die damit verknüpfte Voraussetzung blieb unerfüllt; in Frankreich, statt des Sieges in einer Schlacht, auf der die Kriegsentscheidung aufgebaut war, kam es, nicht etwa durch „ein Wunder an der Marne", sondern infolge des gänzlichen Versagens der deutschen Heeresleitung, zu einem Rückzug, der das Schicksal der verbündeten Mittelmächte unwiderruflich besiegelte. Ueber diese einzige entscheidende Niederlage des ersten Weltkrieges geht Kiszling mit ein paar beschönigenden Worten hinweg, nur um dann die Hilfe, die deutscherseits dem österreichisch-ungarischen Bundesgenossen verschiedentlich geleistet wurde, um so deutlicher zu unterstreichen. Was er dabei unerwähnt läßt, ebenso wie es seinerzeit in den überheblichen Berichten der deutschen Heeresleitung sorgfältig verschwiegen wurde, ist die Tatsache, daß die zur Stützung 4er österreichisch-ungarischen Ostfront unter Führung deutscher Generale, wie Woyrsch, Linsingen, Falkenhayn, Mackensen, eingeschobenen Verbände meist zur Hälfte, wenn nicht mehrheitlich, aus österreichisch-ungarischen Truppen bestanden und hinsichtlich der artilleristischen und technischen Ausrüstung auch ihrer deutschen Divisionen nicht selten ganz auf den österreichisch-ungarischen Beitrag angewiesen waren.

Auch der Heldenkampf unserer alten Armee an der Südwestfront findet in Kiszlings Buch keine hinreichende Würdigung. Es kommt nicht genügend zum Ausdruck, daß der altösterreichische Soldat dort Leistungen vollbracht hat, in der sieghaften Abwehr eines numerisch und materiell oft zehn- und mehrfach überlegenen Gegners, wie sie kein anderes Heer in seiner Geschichte aufzuweisen vermag.

Der richtige Leitfaden zur Aufklärung unseres Volkes über Oesterreich-Ungarns Anteil am ersten Weltkrieg muß noch geschrieben werden. Und es wäre zu wünschen, daß dieser Leitfaden auch eine Betrachtung darüber enthielte, wie anders der Schicksalskampf Altösterreichs geendet haben würde, wenn es ein gemeinsames Oberkommando aller Streitkräfte der Mittelmächte von Anfang an gegeben hätte, und zwar unter Führung des einzigen Feldherrn, der in jenem Krieg ein wirklich strategisches Konzept besaß; unter Führung Conrads von Hötzen- dorf, an Stelle einer deutschen Heeresleitung, von der ein gewiß unverdächtiger Zeuge, Kronprinz Rupprecht, Kommandant einer Heeresgruppe an der deutschen Westfront, in seinen Memoiren erklärt hat: „Anno 1914 wurde zu Anfang alles von der Heeresleitung verfahren. Der ganze folgende Krieg an der Westfront war, vom Standpunkt der höheren Truppenführung betrachtet, der stupideste Krieg, der je da war; so äußerte ich 1920 zu Generaloberst von Seeckt, der dieser Meinung völlig beipflichtete, und General von Kuhl sagte zu mir nach dem durch Fehler Ludendorffs erfolgten Scheitern der Frühjahrsoffensive 1918: ,Die Heeresleitung hat fort und fort den Krieg verloren.' “

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