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Dutschke mit Wasserspielen

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Rudi Dutschke, 1940 in Schönfeld bei Luckenwalde (DDR) geboren, 1960 nach West-Berlin emigriert und seit 1966 exponierter Repräsentant studentischen Unbehagens an deutscher Wohlstandsgesellschaft und Establishment, wurde am 11. April das Opfer eines Attentates.

Am Gründonnerstag um 16.30 Uhr verließ Rudi Dutschke das SDS- Zentrum am Berliner Kurfürstendamm und begab sich zu seinem Fahrrad. Kurz darauf trafen ihn drei Schüsse am Kopf, Hals und in die Brust. Der Attentäter, der 25jährige Josef Bachmann aus Peine, konnte noch am selben Nachmittag nach einem scharfen Feuerwechsel mit der Polizei schwerverletzt gestellt werden. Er ist politisch nicht organisiert, gehört aber zu den späten Verehrern Hitlers, dessen selbstgemaltes Konterfei in seiner Stube hängt. Täter und Opfer liegen im selben Krankenhaus, beiden geht es den Umständen entsprechend gut.

Hoher Wellengang

Seit diesem Donnerstag füllt Berlin wieder die Schlagzeilen der Presse, seit diesem Donnerstag schlagen die „revolutionären” wie reaktiven Wellen wieder hoch — höher als je zuvor. Die Entwicklung, die mit dem 2. Juni letzten Jahres erst richtig begann und die kein Senat bislang aufzuhalten oder zu mäßigen verstand, hat einen neuen fatalen und folgenschweren Höhepunkt, hat einen zweiten „Heiligen”.

Blicken wir zurück: Am 2. Juni demonstrierten Studenten und andere gegen den Besuch des Schahs von Persien in West-Berlin. Hier machte die polizeiliche Führung zwar nicht den ersten, aber doch einen der entscheidendsten Fehler: Sie ging gegen die Demonstranten nicht mit Klugheit, nicht mit dem Bestreben, die „Ruhe und Ordnung” zu bewahren, vor, sondern mit Gewalt. Bei den Auseinandersetzungen kam Benno Ohnesorg, Student ohne ausgesprochen politisches Engagement, durch den Schuß aus einer Polizeipistole ums Leben. Dies löste eine Welle von Demonstrationen aus, rief selbst die unbeteiligten oder nur sympathisierenden Studenten auf den Plan. Es formierte sich eine außerparlamentarische Opposition im Republikanischen Club in Berlins Wielandstraße. Erster Erfolg: Polizeipräsident Duensing wird vom Dienst suspendiert. Zweiter Erfolg: Bürgermeister Albertz tritt zurück. Der SPD-Politiker Klaus Schütz, damals im Bonner Außenministerium, übernimmt das schwere Amt.

Im Februar erhitzte der internationale Vietnam-Kongreß durch die eindeutige Stellungnahme für den Vietkong die Gemüter. Einer Pro- Vietkong-Demonstration folgte die großangelegte Gegendemonstration pro Amerika, zu der der Senat zum Schöneberger Rathaus am John- Fitzgerald-Kennedy-Platz rief. Am arbeitsfreien Nachmittag versammelten sich Tausende und dokumentierten unmißverständlich auf Spruchbändern, daß Berlin zu Amerika steht, daß es mit der radikalen Minderheit nichts gemein haben will, im Gegenteil: „Dutschke Volksfeind Nr. 1.” Und auch Berlins Bürgermeister Schütz fand an diesem Tag der bürgerlichen Entrüstung und Solidarität kein Wort, das eine Brücke über die Kluft zwischen der „arbeitenden Bevölkerung” und den „Intelligenzlern” hätte schlagen können, im Gegenteil. „Wir lassen unseren amerikanischen Freunden nicht auf die Stiefel spucken.” Die Berichterstattung nicht nur der Springerschen Presseorgane tat ein übriges, weite Teile der Bevölkerung in ihrem Haß und Unverständnis gegen die kleine Gruppe zu bestätigen, die alle Nachkriegserrungenschaften zu gefährden schien. So hatten Senats- und Pressepolitik der letzten Jahre zur Folge, daß der Zwiespalt, der durch West- Berlins Bevölkerung geht, immer stärker wurde.

Von links nach ganz links

Die Isolation, in die die mangelnde Verständnis- und Verständigungsbereitschaft kritische junge Menschen gedrängt hat, ließ sie weiter gehen, als es vielleicht notwendig war, machte die Linke zur extremen Linken: Heute marschieren sie mit den Parolen des Vietkong unter den Bildern Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, den Kommunistenführern der zwanziger Jahre, durch Berlins Straßen. Die gegenwärtige Eskalation läßt sich nur als Folge monatelanger gegenseitiger Reaktion begreifen. Derjenige, der letzte Woche zur Waffe griff, ist selbst ein Außenseiter der Gesellschaft und hat als solcher sicher mit seinem Opfer viel gemein. Er repräsentiert in keiner Weise das Establishment, gegen das Studenten opponieren. Er vertritt nicht die Springer-Redaktionen und ist vielleicht nicht einmal Leser einer der Zeitungen des angefeindeten Konzerns. Um so weniger scheint es verständlich, daß man eben diesen Konzern sowie die Regierung für den Mordanschlag an Dutschke verantwortlich macht. Und doch: zwar konnte nur ein Außenseiter die Tat verüben, aber warum war ausgerechnet Dutschke das Opfer? Erfüllen hier Presse und Senatspolitik nicht die traurige Funktion, diesem Verbrechen als Alibi vor der Gesellschaft zu dienen? Bis vor kurzem war Baohmann noch nicht vernehmungsfähig, aber es wäre nicht verwunderlich, wenn er mit gutem Gewissen daran glaubt, der Gesellschaft und der von ihr praktizierten Demokratie einen Dienst erwiesen zu haben.

In der Nacht zum Karfreitag gingen Lkw des Springer-Vertriebs in Flammen auf, die Auslieferung der Zeitungen war nur mit Hilfe der Polizei möglich, das Vestibül des Springer-Hochhauses nahe der Stadtgrenze nach Ost-Berlin sowie die Fahrzeughalle wurden zum Teil zerstört. Schaden: 250.000 DM. Am Freitag, Samstag und Sonntag zogen große Demonstrationsgruppen über den Ku-Damm, blockierten den Verkehr, wandten sich zum Schöneberger Rathaus. Ein Aufgebot von 20.000 Polizisten, beritten und eskortiert von Wasserwerfern, versuchte des Aufruhrs Herr zu werden. Den Gästen Berlins schallte provokatorisch das Wort in die Ohren: „Schaut auf diese Stadt.” Mehrere hundert Demonstranten wurden verhaftet, Verletzte gab es auf beiden Seiten.

Seit Donnerstag abend hält die außerparlamentarische Opposition, bestehend aus dem Asta der Freien Universität, der Technischen Universität, dem Republikanischen Club und kleineren Gruppierungen, den Neubau der Technischen Universität für Versammlungs- und Organisationszwecke besetzt. Das Verbot des Rektors, dort weiter Versammlungen abzuhalten, ist am Sonntag ergangen, polizeiliche Maßnahmen bei Nieht- befolgen sind angekündigt, am Ostersonntag standen 24 Mannschaftswagen der Polizei nebst Jeeps und Wasserwerfern in der Nähe der TU bereit. Eine „WaffenstilliStands”-Delegatiion der „Aufrührer” wurde von Bürgermeister Schütz aus dem Rathaus gewiesen, als sie das Gespräch auf Tonband aufnehmen wollte.

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und der Kabarettist Wolfgang Neuss wurden von der außerparlamentarischen Opposition delegiert, bis zum I. Mai vom Sender Freies Berlin regelmäßige Sendezeiten zu fordern, um ihre Aktionen und Zielsetzungen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Das Gespräch fand statt. Intendant Barsig lehnte ab. Einer öffentlichen Stellungnahme, zu der er geladen wurde, entzog er sich vorerst.

Die Situation scheint verfahren. Eine Lösung des Konflikts ist nicht abzusehen, solange die leitenden Instanzen sich nicht auf die Inhalte des studentischen Protestes einlassen: Volksverhetzung durch einseitige Presseberichterstattung — Schlagwort: Springer —, Hochschulgesetz und Bildungsnotstand, das Verhältnis zur DDR usw. Die Lösung des Konflikts wird nur mit Gewalt möglich sein, solange die Verfechter der Demokratie sich auf deren formalen Teil beschränken und die bloß formale Legalität zum Fetisch und zum Alibi machen, um einer inhaltlichen Debatte aus dem Wege zu sehen.

Die Gewalt der anderen Seite — Steine, umgeworfene Kfz-Anhänger und Brandstiftung —, für dje der Anschlag auf Dutschke vielleicht ein willkommener Anlaß war, geschieht nicht im Affekt: Die Besten unter den Protestierern begeben sich ganz bewußt außerhalb der Legalität, aber nicht weil sie Anarchisten oder Anti-Demokraten wären, sondern weil sie meinen, daß ihnen innerhalb der bestehenden Rechte kein Gehör geschenkt wird; weil ihnen die Gegenstände ihrer Kritik’’ wichtiger scheinen als die Verordnungen einer — anscheinend — nur formal funktionierenden • Demokratie;’ deren Grenze sie nicht zuletzt um deren inhaltlicher Belebung willen überschreiten. Dies zu verstehen, wäre ein erster Schritt der Regierenden, den Aufruhr zu beenden.

Landesbischoff Lilje mahnte am Karsamstag, der Berliner Senat möge die Schuld für die Vorkommnisse nicht nur bei den Demonstranten, sondern auch bei sich suchen.

Nach einer SPD-Kundgebung am Ostermontagnachmittag, auf der auch Vertreter der außerparlamentarischen Opposition zu Wort kamen, trafen sich die Kundgebungsredner mit den Aktionären der Unruhen im Auditorium maximum der Technischen Universität zum Podiumsgespräch. Scharf trennten sich die Fronten zwischen denen, die dort ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben — es sprachen Hans Magnus Enzensberger, Johannes Agnoli, Rechtsanwalt Horst Mahler und andere von den Vertretern eines linken Liberalismus — Harfy Ristock und Prof. Ralf Dahrendorf — die im Gegensatz zu jenen meinen, eine Belebung des parlamentarischen Lebens sei innerhalb des bestehenden Systems möglich. Heinrich Albert — auch er hatte sich in die Höhle des Löwen gewagt — sprach von einer entsetzlichen Situation, „das Parlament besteht aus Beamten, die sich selbst kontrollieren”. Er verließ die Versammlung, um Bürgermeister Klaus Schütz zu einem Gespräch mit Vertretern der außerparlamentarischen Opposition unter Anerkennung ihrer Bedingung, das Gespräch auf Tonband aufzuzeichnen, zu bewegen. Am selben Abend marschierten die Studenten zum Sender Freies Berlin, um gegen die Absage des Intendanten Barsig zu protestieren. Jetzt fand auch Barsig sich zum öffentlichen Gespräch bereit.

Noch ist kein Ende abzusehen. Der heiße Sommer hat in Berlin bereits begonnen.

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