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Eden, Suez und die Vereinten Nationen

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Erfahrungen formen den Menschen, und das geschichtliche Bewußtsein verleiht seinen Handlungen Profil und Tiefe. Jene einfache und ergreifende Würde, die all das, was Winston Churchill in den Kriegstagen unternahm, auszeichnete, war durch sein Gefühl der Verbundenheit an Vergangenheit und Zukunft bedingt. „Irdischen Wesens sein“, schreibt Sieburg, „heißt Bewußtsein von dem unaufhaltsamen Ablauf der Zeit.“ Bei dem großen Staatsmann ist dieses Bewußtsein zur höchsten Intensität gesteigert. Bei den weniger großen Erscheinungen können jedoch die Ereignisse der Vergangenheit zu einer Reaktionsfixierung führen; auf der Einbahnstraße der Analogie rollen sie immer schneller aus der Vergangenheit in die Zukunft, unfähig, den Kurs rasch genug zu verändern, Signale zu setzen oder Zusammenstöße zu vermeiden.

Das klassische Beispiel einer solchen Reaktionsfixierung wird für den Historiker kommender Tage die Haltung Edens in den Oktobertagen des Schicksalsjahres 1956 sowie in der unmittelbar vorausgehenden Zeit sein. Als Eden die Flugzeugträger und Schlachtschiffe in das Mittelmeer entsandte, ging es noch einmal um das Schicksal Abessiniens, als er die Amerikaner beschwor, doch etwas zu unternehmen, die UNO zu aktivieren und die Dinge nicht länger treiben zu lassen, da stand hinter Foster Dulles wie ein Schatten die Gestalt Feldmarschall Smuts, der gesagt hatte: „Versucht man den Völkerbund in eine Organisation zu verwandeln, die Krieg führt, um Kriege zu verhindern, dann ist sein Schicksal besiegelt.“ Und als er schließlich den Befehl zum Einsatz gegen Aegypten gab, da drehte es sich noch einmal um die Rheinlandbesetzung, da konnte man noch einmal mit einem begrenzten militärischen Einsatz den Frieden retten. Wenn Edens Erklärungen und Begründungen den peinlichen Eindruck machen, „nicht recht zu sitzen“, so ist dies kein Beweis für die mangelnde, Aufrichtigkeit des Engländers, die Differenzen sind nicht größer als der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und den Exempeln. Aus dieser Perspektive gesehen, waren es also Kurzschlußhandlungen, die einen furchtbaren Riß im atlantischen Bündnis hervorriefen und dem Westen die Position unangreifbarer moralischer Stärke und Geschlossenheit just in dem Augenblick versagten, wo sie am nötigsten gewesen wäre. Trotzdem wird man gut daran tun, ein Gesamturteil über die militärische Intervention vorläufig nicht zu fällen, zeichnen sich doch bereits jetzt günstige Folgen des Eingreifens ab, die wir, bei aller moralischer Indignation, zu registrieren nicht unterlassen können. Diese Folgen sind zum Teil regionaler, zum Teil globaler Natur.

Um mit der übergeordneten Größe zu beginnen, muß zunächst hervorgehoben werden, daß unter dem heilsamen Schock der Ereignisse ein völlig neues und ungewohnt aktives Leben in die UNO gefahren ist. Ein Projekt, das seit Jahren durch unzählige Ausschüsse und Komitees gezerrt, beraten und zerredet worden war, steht mit einemmal fix und fertig vor uns: die internationale Polizeitruppe der UNO. Wer will leugnen, daß dies ein unendlicher Fortschritt ist, wer will abstreiten, daß nur eine solche Truppe den ewigen kleinen Massakern an den vielen Grenzen im Nahen Osten — sie haben in ihrer Summe gewiß mehr Opfer gefordert' als der militärische Großeinsatz der beiden Seemächte — ein Ende bereiten kann. Wer will sich schließlich der Einsicht verschließen, daß diese Institution zwangsläufig die Schaffung anderer notwendig machen wird, weitere Meilensteine auf dem Wege der Entgiftung und Internationalisierung unserer Welt? Das ist indes nicht alles! In der UNO selbst ist eine bedeutende Schwerpunktverlagerung eingetreten: zum erstenmal ist die UNO-Vollversammlung als aktiv handelnde Körperschaft in Erscheinung getreten. Es ist natürlich weiterhin richtig, daß die Beschlüsse dieses Gremiums keinen zwingenden Charakter haben und nur Empfehlungen sind, aber diese Empfehlungen tragen doch ein solches Gewicht, daß weder England noch Frankreich sie ohne weiteres zurückzuweisen wagten. Auch dies scheint uns nur der Anfang einer Entwicklung zu sein, daß im Verlaufe schließlich und endlich das den Weg in einen sicheren und gesicherten Frieden wie ein dunkler Block sperrende Veto wird umgangen werden können. Wie viele Gesetze haben sich erst ganz allmählich durchsetzen können, um nun von denen, die sich ihnen einst versagten, mit gleichem Eifer verteidigt zu werden? Was nun die regionalen Gründe anbelangt, so ergeben sich bei der Beurteilung der nahöstlichen Lage unwillkürlich zwei Fragen: Ist es richtig, daß hier ein „kleiner“ Krieg dazu geführt wurde, um einen größeren zu verhindern? Oder ist es nicht viel mehr so, daß der kleine Krieg, also der „Initialkricg“ zwischen Israel und Aegypten, ausgelöst wurde, um den größeren zwischen Aegypten und den beiden Seemächten zu entschuldigen? Stellt man die Frage so, ist eine Antwort unmöglich, weil die Unterlagen, die eine Absprache zwischen Israel, Großbritannien und Frankreich beweisen würden, natürlich fehlen. Wir können nur sagen, daß, so wie die Dinge liegen, sie als wahrscheinlich anzusehen ist. In Wirklichkeit ist aber die Frage, ob ein Einverständnis zwischen Israel und den beiden Seemächten vorlag, überhaupt nicht von entscheidender Natur. Entscheidend ist, daß es im Nahen Osten zu einer Entladung kommen mußte und daß die Explosion nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte. Die Lunte brannte schon, darüber gibt es keinen Zweifel. Das klassische Rezept wäre natürlich gewesen, die Explosion abzuwarten. Man hätte also Israel zurückhalten und gleichzeitig aber zusehen müssen, wie sich die arabischen Staaten aus dem Geld der westlichen Oel-revenuen in den östlichen Waffenschmieden mit einer überlegenen Rüstung versehen. Eines Tages wäre dann die berühmte „zweite Runde“ von den arabischen Staaten eingeleitet worden, ein Plan, den man niemals verheimlicht oder beschönigt hat. Nun hätten,die Mächte im Auftrag der UNO eingreifen müssen und die englischen und französischen Soldaten hätten nicht gegen, sondern mit den Engeln gekämpft. Die Frage ist nur, ob sie überhaupt rechtzeitig gekommen wären! Freiheitliche Staaten können nicht auf die Dauer im Zustand halber Mobilisierung leben, die große Konzentration anglo-französischer Kräfte im östlichen Mittelmeer war nur durch die Suezkrise ermöglicht worden, selbst in den wenigen Monaten hat es bei den in Zypern liegenden Truppen Ausbrüche von Unmut, Unzufriedenheit und Langeweile genug gegeben. Hätte es viel ausgemacht, wenn nun die im Auftrag der UNO operierenden Truppen in diesem hypothetischen Fall mit einiger Verspätung eingetroffen wären? Für die Juden allerdings! Das israelische Territorium ist so schmal, daß jeder feindliche Panzerdurchbruch das Ende bedeuten würde. Es besteht ja zwischen den israelischen Kriegszielen und denen der Araber ein ungeheurer, aber wenig beachteter Unterschied: die Israelis wollen ihr Gebiet ausweiten oder abrunden sowie das gegnerische Militärpotential wenigstens auf begrenzte Zeit herabmindern. Das Kriegsziel der Araber gegenüber den Israelis aber ist unverkennbar genocid — es hätte gar nicht der auf der Halbinsel Sinai erbeuteten Dokumente bedurft, um dies nachzuweisen —, es geht also um die physische Auslöschung des jüdischen Lebens an sich. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Juden der Ansicht waren, sie müßten in absehbarer Zeit losschlagen, und man kann der „Neuen Zürcher“ nur beipflichten, die in gewohnter Distanz und leidenschaftsloser Sachlichkeit die Worte setzte: „Die israelische Regierung hat sich nicht gescheut, das Odium des Aggressors auf sich zu laden, weil sie offensichtlich zum pessimistischen Schluß gelangte, daß es für sie nur noch die Wahl zwischen einer solchen Verletzung der Satzungen der Vereinten Nationen und einer in weiterer Zukunft liegenden Katastrophe gebe. Zu einer solchen pessimistischen Einschätzung der Zukunftsaussichten bestand für Israel aller Grund.“

Bleibt abschließend noch die Frage, wie es nun mit dem ursprünglichen Problem der Kontrolle des Suezkanals bestellt sei, deren Bedeutung die dramatischen Ereignisse für den Augenblick in den Hintergrund haben treten lassen. Zweifelsohne würde auch hier die Stationierung einer wirklich aktionsfähigen UNO-Streitmacht günstig wirken und die Bedenken der großen seefahrenden Nationen weitgehend zerstreuen. Dazu kommt ein anderes: das Aufstechen der nahöstlichen Eiterbeule macht es recht unwahrscheinlich, daß Nasser oder sein Nachfolger die Kontrolle des Kanals zu politischen Erpressungen benutzen würde, wie es bisher zu befürchten war. Die Zerschlagung des ägyptischen Militärpotentials muß ja auf die arabischen Führer einen mäßigenden Einfluß haben.

Wir sind also, um es kurz zusammenzufassen der Ansicht, daß zwar die nächsten Tage und Wochen äußerst kritisch sein müssen, daß aber nun, umschifft man nur die Klippe, eine Entspannung eintreten könnte.

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