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Ehe und Familie in der Sowjetunion

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Den Siegern der russischen Oktoberrevolution von 1917 galten bekanntlich auch die überlieferten Institutionen der christlichen Ehe und Familie als Einrichtungen des kapitalistischen Systems, für die es somit im demokratischen und sozialistischen Staat, wie sie ihn verstanden, keinen Platz mehr geben durfte. Was an deren Stelle treten sollte, dafür hatten sie allerdings keinen klar durchdachten Plan. Worauf es ihnen in der Familie vor allem ankam, war die Herstellung einer angeblichen unbegrenzten Freiheit und die völlige Ausschaltung jedes kirchlichen Einflusses; war dies erreicht und die Familie als Hüterin bürgerlicher Privilegien“ abgesetzt, dann — so glaubten sie — würden sich zwangsläufig neue Formen der Beziehungen zwischen Mann und Frau heranbilden, um die sich der Staat nicht mehr zu kümmern brauche. In Erwartung dieser automatischen Neugestaltung wurden Maßnahmen getroffen, um die traditionellen Ehe- und Familienbande soweit als nur möglich zu lockern. Kirchliche Trauungen durften nicht mehr vorgenommen werden, und nur die vor dem Standesbeamten geschlossene Zivilehe, beziehungsweise, von 1926 an, die formlose sogenannte .Tatsachenehe“ genoß staatliche Anerkennung. In logischer Fortsetzung wurde jeder gesetzliche Unterschied zwischen ehelich und unehelich geborenen Kindern aufgehoben und die Scheidung auch einer standesamtlich geschlossenen Ehe zu einer Formsache gemacht, zu deren Durchführung es später lediglich einer schriftlichen Erklärung, wenn auch nur des einen Ehepartners, bedurfte. Weitere Schritte zur Aushöhlung der Ehe und Familie folgten: so die Legalisierung der Fruchtabtreibung und so auch die massenweise Verbringung von Kindern in kommunale Erziehungsanstalten, die sie dem Einfluß der rückständigen Eltern entziehen sollten.

Allein, fünfzehn Jahre genügten, um die katastrophalen Folgen der neuen Ordnung zu erweisen und die Machthaber des Kremls zu veranlassen, eine Wendung um 180 Grad in ihrer Ehe- und Familienpolitik zu vollziehen. Die Londoner Zeitschrift „Listener“ schilderte unlängst, wie diese Änderung sozusagen über Nacht erfolgte. Wieder, wie in alter Zeit, sollte die Familie als Grundlage und Keimzelle des Staates gelten, selbst ihre vor kurzem noch verpönte Stellung als Trägerin von Eigentums- und anderen, angeblich kapitalistischen Sonderrechten wurde ihr wieder eingeräumt. Von der verfochtenen These, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern seien eine bloße sentimentale Angelegenheit, die den Staat und die Gesellschaft nichts angehe, konnte nun keine Rede mehr sein, und die eben noch so betonte Toleranz gegenüber sexueller Zuchtlosigkeit wich einer Strenge der Auffassung, wie sie in den Ländern des Westens nur mehr selten anzutreffen ist.

Schon durch das Gesetz von 1936 wurde das keimende Leben mit strengen strafrechtlichen Bestimmungen geschützt. Wenige Jahre später war überhaupt

die gesamte revolutionäre ehe- und familienrechtliche Gesetzgebung außer Kraft gesetzt.

Unregistrierte Ehen wurden für illegal erklärt und mußten bei sonstiger Straffälligkeit rückwirkend legalisiert werden. Für Ehescheidungen genügte nicht mehr ein bloßer Antrag, auch wenn er von beiden Ehepartnern unterfertigt war; sie erfordern seit 1944 ein gerichtliches Verfahren wie in anderen Ländern und werden nur bei Vorliegen sehr gewichtiger Gründe ausgesprochen. Das Verfahren ist aber so umständlich und mit so hohen Kosten verbunden, daß eine Scheidungsklage selten ist und praktisch nur für Angehörige der privilegierten Klassen in Betracht kommt. Der wiederhergestellte Charakter der Familie als einer eng geschlossenen Einheit führte sogar zur Familienhaftung, die in Fällen militärischer Fahnenflucht sehr empfindliche Folgen für alle erwachsenen Angehörigen des Deserteurs vorsieht. Seit 1944 besteht auch wieder eine stark betonte gesetzliche Unterscheidung zwischen ehelicher und unehelicher Geburt. Ledige Mütter haben seither die Wahl, ihre Kinder der öffentlichen Fürsorge zu übergeben oder sie in eigener Obhut zu behalten, in welchem Falle ihnen eine staatliche Unterstützung zusteht; sie haben aber keinerlei Anspruch gegen den Kindesvater, selbst die Feststellung seiner Identität ist ihnen ausdrücklich untersagt.

Eine ähnliche Bereitschaft, aus den gemachten Erfahrungen die. entsprechenden Folgerungen zu ziehen, kam auch im sowjetischen Unterrichtswesen zur Geltung. Wie dringend es der sowjetischen Regierung auf diesem Gebiet erschien, von den einmal erkannten Fehllösungen zu den bewährten Nonnen einer früheren Zeit zurückzugehen, erhellt unter anderem daraus, daß mitten im Kriege, also im Augenblick größter materieller und personeller Schwierigkeiten,

die Koedukation im Prinzip abgeschafft

und mindestens in den wichtigsten Städten getrennte Schulen für Knaben und Mädchen eingerichtet wurden.

Zu dieser Maßnahme kam noch eine Reihe anderer, die alle den Zweck verfolgten, die vielfach unbefriedigenden Ergebnisse von Erziehung und Unterricht zu verbessern. Mit der seinerzeit gepriesenen Selbstregierung der Schüler wurde aufgeräumt und die geschwächte Autorität des Lehrers in vollem Umfang wiederhergestellt; an die Stelle der üblich gewordenen psychologischen Untersuchungen und Intelligenzprüfungen nach amerikanischem Muster setzte man wieder streng fachliche Prüfungen alten Stils. Indem man im Jahre 1940 die Unentgeltlichkeit des Unterrichts in den höheren Lehranstalten abschaffte, wurde ein neues Privileg für die wohlhabende Oberschicht geschaffen, zugleich versuchte man auch den Ehrgeiz der Unbemittelten anzuspornen, sich durch Erwerb eines Stipendiums auf Grund guter Leistung den Weg zu höherer Ausbildung und einer bevorzugten Lebensstellung zu eröffnen.

Die auf den Gebieten der Bevölkerungspolitik und Schule im Sowjetstaat gesammelten und genützten Erfahrungen verdienten im Westen mehr studiert und mehr genützt zu werden, als es bisher geschehen ist.

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