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Ehen in der Sowjetunion

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Die Ehesoziologie gehört zu den neuesten Forschungsgebieten in der sowjetischen Soziologie. Damit beschäftigt sich in Moskau vor allem Irina Chorunshaja: „Der Charakter des Ehestandes und folglich auch aller ehelichen Beziehungen hängt in mancherlei Hinsicht von den Motiven ab, die zu einer Eheschließung führen.“ Ein Forschungsgebiet ist der Altersunterschied der Jungvermählten. In verschiedenen Gegenden der Sowjetunion gibt es gewisse Tendenzen zu einer Änderung des durchschnittlichen Heirat3alters. In den baltischen Republiken, zum Beispiel, ist dieser Altersgrad wesentlich zurückgegangen und beträgt heute im Durchschnitt bei Männern 25 Jahre, und bei Frauen 21 bis 23 Jahre. In Usbekistan hingegen ist das durchschnittliche Helratsalter der Männer verhältnismäßig stabil geblieben, während es bei den Frauen ständig zunimmt. Die Zahl der Eheschließungen von Mädchen bis zu 18 Jahren ist fast um 60 Prozent gesunken. Worauf ist das zurückzuführen? — fragen sich die sowjetischen Soziologen.

In den einst bürgerlichen baltischen Republiken, insbesondere auf dem Land, hing die Heirat erstens davon ab, wann der Sohn den Besitz oder seinen Anteil übernahm, und zweitens, wann die Aussteuer fertig war. Taglöhner wieder schoben die Heirat gewöhnlich hinaus, um eine bestimmte Summe für den Ankauf von Boden und Hausrat zu ersparen. Das erhöhte die Zahl der Spätheiraten. Der umgekehrte Prozeß zeugt folglich davon, daß die erwähnten Ursachen ihre Gültigkeit verloren haben, und die Eheschließung von derartigen materiellen Hemmnissen frei ist. Im vorrevolutionären Usbekistan war es gang und gäbe, noch nicht volljährige Mädchen zu verheiraten. In dem Maße aber, wie sich die Gleichberechtigung der Frauen festigte, wie sich die wirtschaftliche Unabhängigkeit und das kulturelle Niveau der Frauen hoben, zeigt diese Tendenz eine rückläufige Entwicklung.

Der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern ist in den meisten Fällen nicht größer als sechs Jahre. Ehen gleichaltriger Partner oder mit nur ganz geringem Altersunterschied (bis zu drei Jahren) machen mehr als zwei Drittel aller Eheschließungen aus, während solche mit einem maximalen Altersunterschied (zwanzig Jahre und mehr) praktisch fehlen. Sogar Ehen, in denen der Mann um zehn Jahre und mehr älter ist als die Frau, kommen verhältnismäßig selten vor.

Im zaristischen Altrußland wurde die Freiheit der Ehe In wesentlichem Maße durch nationale und religiöse Schranken begrenzt. In welchem Maße wirken sich diese Faktoren heute auf die Eheschließungen in der UdSSR aus? — stellen sich sowjetische Soziologen die Frage.

Die in Taschkent, Samarkand und Leningrad geführten Untersuchungen zeigten, daß sich die Zahl der nationalen Mischehen in Taschkent und Samarkand auf mehr als 20 Prozent aller geschlossenen Ehen belief. Davon entfielen sechs bis sieben Prozent auf Eheschließungen zwischen Vertretern einheimischer Nationalitäten und „Zugereisten“ aus europäischen Gebieten der UdSSR. In Leningrad waren 1964 17 Prozent aller Eheschließungen nationale Mischehen. Obwohl also die Einwohnerschaft Leningrads in nationaler Hinsicht bedeutend homogener ist als die von Taschkent und Samarkand, ist der Prozentsatz der nationalen Mischehen nur wenig kleiner als in den usbekischen Städten.

Ursachen der Eheschließungen

Um die Ursachen der Eheschließungen zu klären, wurden viele soziologische Untersuchungen angestellt, die auch eine schriftliche Umfrage an 500 Jungverheiratete und mündliche Stichfragen an einige von ihnen beinhalteten. Die Frage „Was betrachten Sie als Hauptbedingung einer stabilen und glücklichen Ehe?“ beantworteten 75,2 Prozent folgendermaßen: „Liebe mit gemeinsamen Anschauungen, Vertrauen, Freundschaft.“ 18,2 Prozent sehen das Unterpfand in Gleichberechtigung und Achtung, 4 Prozent nur in der Liebe, 1,6 Prozent in der Liebe und im materiellen Wohlstand, für 0,6 Prozent sind es die Kinder, 0,2 Prozent sagen, es seien die realen Lebensanschauungen, 4,2 Prozent gaben keine Antwort. Überwiegend ist somit die moralische Basis. Materielle Gründe als Ursache der Eheschließung werden fast überhaupt nicht genannt.

Die Antworten auf die Frage nach der Rolle der Eltern bei der Eheschließung zeigten, daß direkte Konflikte zwischen Eltern und Kindern anläßlich der Heirat verhältnismäßig selten sind. Bei einem wesentlichen Teil dieser Konflikte haben die Eltern in dem Falle recht, wenn sie nicht gegen den künftigen Ehepartner als solchen Einspruch erheben, sondern gegen Leichtfertigkeit und ungenügende moralische Stichhaltigkeit der Wahl.

Die Industrialisierung des Landes führte au einer gewissen Verschiebung der Bevölkerung vom Land in die Stadt und in die Neubaugebiete, was bedeutend größere Möglichkeiten für die Wahl des künftigen Ehegatten bot. Rapid erhöht und erweitert haben sich auch die Kontakte der Bevölkerung durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Formen, der Freizeitgestaltung, des Urlaubs und der Massentouristik. In diesem Lichte gesehen, sind die Antworten auf die Frage „Wo haben Sie Ihren Ehepartner kennengelernt?“ von : Interesse. 9 Prozent der befragten Paare kannten sich s iit ihrer Kind- : heit, 21 Prozent haben sich bei der Arbeit kennengelemt, 17 Prozent während des Studiums, 27,2 Prozent bei Partys, 5 Prozent im Urlaub, :

5.2 Prozent über andere Bekannte,

3.3 Prozent durch Verwandte, 1 0,7 Prozent in Gemeinschaftswoh- : nungen, 1,6 Prozent auf der Straße, 10 Prozent — bei verschiedenen anderen Anlässen. Die Hälfte aller Eheschließungen ist also die Folge 1 von Bekanntschaften, die mit gemeinsamer Arbeit, gemeinsamem Studium oder Wohnort Zusammenhängen.

Der erwähnten Umfrage zufolge kamen die meisten Eheschließungen nach verhältnismäßig langer Bekanntschaft (mehr als ein Jahr) zustande. Es ist daher anzunehmen, daß sie das Ergebnis eines ernsthaften, moralisch fundierten Entschlusses waren. Nur weniger als ein Fünftel aller Eheschließungen fanden zu einem Zeitraum statt, da sich die künftigen Eheleute, wie anzunehmen ist, noch nicht richtig kennengelernt hatten. Die Umwandlungen der Ehe in einen auf persönlicher Wahl basierenden freiwilligen Bund zwischen Mann und Frau, in dem die moralischen Beziehungen dominieren, hat auch im Eheleben selbst Veränderungen hervorgerufen.

Eine große Rolle spielt in der Sowjetunion die ökonomische Selbständigkeit der Frauen. Eine Stichprobe in 300 Arbeiterfamilien, in denen die Ehefrauen arbeiten, zeigte, daß in 146 Familien der Verdienst des Mannes höher ist als der der Frau, in 54 Familien verdienen die Frauen mehr als die Männer, in 100 Fällen sind die Verdienste der beiden Ehegatten ungefähr gleich. Im Arbeitermilieu gibt es heute zwei Haupttypen der Familienstruktur.

Zum ersten gehören die Familien, in denen nach wie vor der Mann die erste Geige spielt, was aber schon nicht mehr auf dem gewissen Zwang, sondern eher auf der moralischen Autorität des Mannes beruht. Zum zweiten Typus gehören die Familien, in denen hinter dem formalen Vorrang des Mannes die faktische Gleichberechtigung beider Ehegatten bei der Lösung der Hauptfragen innerhalb der Familie steht. Von diesen beiden Typen der Familienstruktur ist die zweite bedeutend stärker verbreitet. Die ökonomische Selbständigkeit und die Arbeitserfolge der Frauen ziehen aber bei weitem nicht immer und nicht überall ihre Gleichberechtigung in der Familie nach sich. In einigen Familien nehmen die Frauen noch immer eine untergeordnete Stellung ein, wobei ihnen fast die ganze häusliche Last aufgebürdet ist. Sogar die berufstätige Frau wendet für die Hauswirtschaft zwei- bis dreimal mehr Zeit auf als der Mann.

„Die wichtigste soziale Funktion der sowjetischen Familie ist die Erziehung der Kinder. In dem Maße, wie sich die sozialistische“, das heißt: kommunistische, „Gesellschaft entwickelt, nimmt die Rolle des moralischen Faktors im Leben zu. Das heißt aber, daß sich die Rolle der Erziehung in der Familie erhöhen wird. Dafür ist die ständige Sorge des Staates um die Festigung der Familie, um die Schaffung besserer Bedingungen für ihr Leben und ihre Tätigkeit erforderlich“ (Irina Cho- runshaja).

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