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Eichmann: gestern - heute

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Wer unsere Wochenzeitschrift in dem nun zu Ende gehenden Jahr und darüber hinaus zurückblättert, bis zu jenem Tage, an dem die Nachricht von der Festnahme des Adolf Eichmann die Weltöffentlichkeit traf, mag vielleicht erstaunen: Kein einziger Artikel ist diesem Fall gewidmet, nur kurze Randbemerkungen glossieren, vom Rande her, dieses Ereignis.

Wir hielten uns zurück. Nicht zuletzt auf Grund dieser Erwägung: Man kann nicht des öfteren, so auf and ab im Wellental der Tagesereignisse, mit ganzem Einsatz und mit der Hoffnung auf den entsprechenden Widerhall, von einem todernsten Fall sprechen, der so ins Mark uns alle angeht.

Nun ist es soweit. Kurz vor der Weihnacht 1961. Freunde und Nichtfreunde könnten da fragen: Wißt ihr in eurer letzten Nummer vor der Weihnacht wirklich nichts Besseres, Notwendigeres zu bringen auf der ersten Seite als eine Meditation über diese sattsam bekannte üble Geschichte? Wir antworten: Nein. Liebe Freunde und Nichtfreunde! Es ist die Zeit, heute davon zu sprechen. Aus zwei Gründen: Eben beginnt in Jerusalem die Verkündigung der Urteilsbegründung, der dann das Urteil, die Befindung über das Strafausmaß und die Auseinandersetzung mit der Verteidigung Und der Reaktion dir Weltöffentlichkeit folgt. Zum zweiten: der Fall Eichmann hat mit unseren Weihnachten und mit der ganzen Problematik unserer staatsbürgerlichen, freiheitlichen und christlichen Existenz, die, wie wir wissen, in diesem Jahr 1961 von innen und außen mehrfach in Frage gestellt wurde, vielfach zu tun.

Sprechen wir also von der Wirklichkeit. Tausende, hunderttausend

Sterne über unseren Geschäftsstraßen, in Auslagen, in den ganzseitigen Reklamen für das Weihnachtsgeschäft in unseren Zeitungen. Sterne des Geschäfts, der Werbung, der Propaganda.

Millionen Sterne über unserem

Weihnachtsrummel. Tausende Sterne über unseren Krippen. Die Millionen Kinder Israels, die von uns und unseresgleichen, von nahen, nächsten Verwandten, in den Tod gejagt wurden, wurden zuvor gezeichnet, gebrandmarkt mit dem Judenstern. Mit dem Davidsstern. Magen David: das Zeichen des Heilsführers, des Davidkönigs. Als „Sohn Davids“ geht Jehoschuah von Nazareth seinen Weg nach Jerusalem, seinen Weg nach Golgotha. In den schweren Stunden des Todeskampfes betet (wie die neuere Forschung einwandfrei nachgewiesen hat) Jesus von Nazareth die Sterbegebete der jüdischen Liturgie, vorab den Psalm 22. Die Zeugen von heute,

Männer der SS, berichten: Eben diese Sterbegebete singend, psalmodierend, traten aufrechten Hauptes Juden und Jüdinnen, Frauen, Kinder, Greise, Männer aus allen Landen Europas, über die Schwelle der Todeskammern.

Damit stellt sich uns die Frage: Was steckt hinter dem Antisemitismus? Eichmann gestern und heute, Eichmann in uns. Max Picard hat 1945 das Problem auf gerollt: Hitler in uns; Hitlers aggressive Anlagen und negative Potenzen — in jedermann. Heute ist es an uns, zu fragen: Wie steht es um Eichmann in uns?

„Im Gesamtzusammenhang der Dinge ist es auf alle Fälle zu beachten, daß es immerhin die Juden waren, die unseren Herrn Jesus Christus gekreuzigt haben.“ Aus hohem kirchlichem Munde, und abgewandelt in manchen Predigten, klingt uns heute wieder diese Legitimierung des Antisemitismus entgegen. Daß sie nicht stimmt, nicht richtig ist, haben christliche und jüdische Theologen nach 1945 nachgewiesen. Uns geht an diesem Legitimationsversuch hier eines an: Er verdeckt die Tatsache, daß in weit mehr als tausend Jahren Christen an Millionen Juden die Hinrichtung des Juden Jehoschuah von Nazareth „gerächt“ haben. Und dann das andere: unser Antisemitismus, in der von innen! und außen her in Frage gestellten Republik Österreich an der Jahreswende von 1961 zu 1962, ist ein staatsbürgerliches Problem, an dem intimste Schwächen unserer Existenz sichtbar gemacht werden können, wenn man sich nicht zu der gefährlichen Ansicht bekennt: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“

Genau das Gegenteil ist richtig: Was ich nicht wissen will, was ich in mein Unterbewußtsein verdränge, eben das fixiert mich und bestimmt, unkontrolliert, uneingesehen, unverstanden, mein Tun und Handeln, mein Denken und Lassen.

Unser Antisemitismus? Es gibt keine Partei, keine Konfession, keinen Stand und Status, keine Altersgruppe in unserem Staat und Volk, die vom Antisemitismus ganz frei wäre. Sozialisten und „Bürgerliche“, Erben und Nachfolger der alten Christlichsozialen, Sozialdemokraten, Großdeutsche finden sich da und dort unisono und dissonant im Chor „kleiner" antisemitischer Stimmungsmache.

Akademiker, Professoren, Lehrer, Priester (ja, Priester auch), Manager der verstaatlichten Industrie und kleine Gewerbetreibende, Arbeiter und Angestellte, Greise, Burschen und Mädchen, Kinder: Antisemiten ohne Semiten, ein Antisemitismus von Menschen, die zeitlebens selten je einen luden gesehen, geschweige denn kennengelernt haben, macht auf die beiden wichtigsten Wurzeln des Antisemitismus in Österreich aufmerksam: dieser ist, zum ersten, ein nachchristlicher Antisemitismus. Wir leben in einem nachchristlichen Zeitalter. Große, lange Zeit mächtig die Seelen prägende Weltreligionen lassen in ihren Nachfahren lange Zeit noch Spuren zurück: nachchristliche Menschen, die kaum am Rande und eben zu den „heiligen Zeiten“, zur Weihnacht, sich ihrer christlichen Herkunft gefühlsam erinnern, haben von unserem mitteleuropäischen, kleinbürgerlichen Christentum nicht mehr ein strahlendes Christsein übernommen, wohl aber dieses Virus einer dekadenten, in Krisen sich verzehrenden Christenheit: den Antisemitismus den Haß, an Stelle der Liebe.

HaC, genau dort, wo Liebe not täte. Hier offenbart sich der zweite Hinter sinn Und Hintergrund des Antisemitism mus der Gegenwart: dieser ist eine Chiffre für die Liebesleere und Lebensr Ieere heutiger und gestriger Menschen. Angst, Enge, Leere, ein ungereiftes, unerfülltes Leben: Ungeheure Kräfte des Negativen stauen sich in hundert- tausenden, in Millionen Menschen in der industriellen Großgesellschaft, die im heißen, mörderischen Kreislauf /on Arbeit, Anstrengung, Sorge, Lust, Genuß sich nicht mehr recht befriedigen, nicht befrieden können. Da muß — das zeigt die neuere Psychologie und Soziologie an vielen Beispielen auf — ein Sündenbock her: eine möglichst handgreifliche Chiffre, ein Symbol, ein Prügelknabe, ein Teufel, an dem man sich abreagieren kann. Was uns „der Saujude“ ist (ein in den Straßen und in der Gesellschaft unserer Wienerstadt seit Jahr und Tag wieder zu vernehmendes Vokabel), ist dem anderen.

da drüben, sein „Neger“, sein „Kapitalist", sein „Roter“, sein „Schwarzer“.

Eichmann in Österreich heute: Unser Antisemitismus ist in seinem Wesenskern und seiner großen motorischen Kraft nichts anderes als ein signifikanter Ausdruck für die Liebesleere und Lebensleere, die in uns allen steckt. Wir wagen es nicht, in j e d e m Menschen das Gesicht des Menschen zu sehen und anzuerkennen. Jeder hat so. seinen Juden,’ seinen Teufel, einen Menschen, eine y Gruppe, die er für sich so im stillen, und bisweilen recht laut,;verteufelt.,Unser österreichischer Antisenitismus .von 1961/62 kann leicht in’diesem seinem Kern — der Daseinsverfehlung, der Nichtkommunikation mit der Menschheitsgesellschaft — erkannt werden, wenn wir beobachten, wie schnell bei unseren Antisemiten, gelegentlich blitzartig, an die Stelle des „Saujuden" (oder zumindest vor ihn) ein anderer „Todfeind“ tritt: der / Italiener (im Südtirolkonflikt), der Slowene (im Kärntner Schulstreit); nach 1918 war es noch „der Tscheche" usw.

Eichmann gestern und heute in Österreich: Kleinbürger an Geist und

Leib und Seele, die nicht durchblutet werden vom großen Blutkreislauf des Alten Reiches, des Zwölfvölkerstaates und eines weltoffen europäischen altösterreichischen Katholizismus: „Gegen Juda, Habsburg, Rom bauen wir Germaniens Dom“: Dieser Sang der Schönerianer verdichtet drei Symbole für die Feindschaft dieses Kleinbürgers gegen Weltkommunikation; Kleinbürger, die sich absperren und einhausen, die seit 1918 frohlockend und grimmig in sich den Eisernen Vorhang gegen Slawen, Romanen, „Nicht- deutsche“, Juden herabgelassen haben, um sich, trist und überheblich, als Neogermanen eigener Art aufzuspielen.

Kleinbürger, die zu Unrecht nach 1945 begonnen haben, sich Österreicher zu nennen, da sie gar nicht bereit waren, materiell, geistig und mitmenschlich die Kosten für die Kommunikation, für beginnende Weltkultur zu bezahlen: diese Eichmänner sehen uns an. Menschen, die im anderen, den sie nicht „riechen" können, nicht das Antlitz des Bruders zu sehen und anzuerkennen vermögen. Es ist derselbe Tenor, dieselbe Mentalität, die uns in antisemitischen, antiitalienischen Äußerungen und Taten „anspricht". Heute noch lächeln selbst Parlamentarier über unseren Antisemitismus — und übersehen dabei, daß dieser nur eine Chiffre für jene ewig pubertäre Haltung zum Mitmenschen ist, die heute bereits beginnt, unsere Demokratie in Frage zu stellen und von den Wurzeln her aufzulösen. Es ist nur ein Schritt von antisemitischen Pöbeleien, von den Schändungen von Grabsteinen, von der weitverbreiteten subkutanen Mentalität gegen diese „anderen“, zur Erklärung des Parlaments als einer „Schwatzbude“, zur Denunziation der Regierung als einer volksverräterischen Systemregierung, welche die wahren Interessen des Volkes verraten In Ermangelung von Juden wendet sich die antisemitische Mentalität eben anderen „Juden“, „Todfeinden“ zu ᾠ

Eben dieser Schritt wird heute, in aller Öffentlichkeit und unter Duldung mancher Behörden, bereits vollzogen. Da man der Inhumanität und Illiberalität in den Anfängen, in den breiten Grundlagen, auf deutsch: in den Gefilden des Antisemitismus, nicht gewehrt hat, wird man es morgen schwer haben, aufrechte Kämpfer für Mitmenschlichkeit, demokratische Zusammenarbeit in den Nachwuchsmännern in Politik, Heer, Partei usw. zu finden. Gnade uns, Gnade uns allen, wenn der Ungeist über uns kommt, den man augenzwinkernd und falsch tolerierend in unseren Schulen und Ämtern, in der Gesellschaft des österreichischen Volkes aufkeimen und ins böse Kraut schießen ließ!

Gnade uns, wenn die neuen Eichmänner aller Farben über uns kommen.

Gnade, die Gnade Gottes, des Vaters aller Menschen, jedoch auch dem Leben des Mannes, der mit dem Namen „Adolf Eichmann" in Jerusalem im Gefängnis sitzt. Er und wir brauchen vor allem diese Gnade, die härteste Gnade: die Gabe der Einsicht. Der Einsicht in unsere Mitverantwortung für das Leben und Sterben jedes Menschen, der ie in unserem Lande lebte, neben uns. Nach diesem Bruder ‘ fragt uns der Herrgott nicht erst beim Letzten Gericht, sondern in jeder Stunde dieses Lebens.

Unheimlich leuchten, in diesem Lichte, die Weihnachtssterne von 1961 über „unsere Wienerstadt“. über unser Volk und Land: hinter ihnen steht der Davidstern. Magen David: der Stern, der die Geburt des Sohnes Davids anzeigt. Stern des Gerichts, der zum Selbstgericht einlädt, zur Selbsterhellung, zur Auftauung der Geister und Seelen (tauet Himmel, den Gerechten), Stern der Erlösung.

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