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Ein bahnbrechendes Werk der sozialen Gesetzgebung

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Vor vierzig Jahren, es war am 16. Dezember 1906, wurde das Gesetz, betreffend die PensionsversichenMxg der in privaten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, vom Kaiser Franz Joseph sanktioniert; im Reichsgesetzblatt Nr. 1 vom 1. Jänner 1907 wurde es kundgemacht. Damit hatte der Kampf der Privatangestellten um eine Institution, die als Rechtsgut bisher nar den Beamten des Staates vorbehalten war, seinen vorläufigen erfolgreichen Abschluß gefunden. Schon 1888 hatte der „Erste allgemeine Beamtenverein der österreichisch-ungarischen Monarchie“, die damalige Interessenvertretung jener Berufsschichte, die wir heute unter dem Begriff „Angestellte“ kennen, an beide Häuser des Reichsrates und an die Regierung eine Petition und im Jahre 1892 eine zweite und ein Promemoria an das Abgeordnetenhaus um eine Versicherungsgesetzgebung gerichtet. Diese Kundgebungen enthielten auch schon die Grundzügie eines • künftigen Gesetzes und verlangten die Durchführung der Alters-, Invaliditäts-, Witwen- und Waisenversorgung der Privatbeamten im Wege einer Zwangsversicherung mit Hilfe von Beiträgen, die 10 Prozent des Gehaltes nicht übersteigen und je zur Hälfte vom Dienst-geber und Versicherten aufgebracht werden sollten, ohne jede Zuschußleistung des Staates. Der Petitionsausschuß des Abfjord-netenhauses erstattete darauf in der Sitzung am 24. März 1893 dem Plenum Bericht. Dieses nahm den Antrag des Ausschusses einstimmig an, mit dem die k. k. Regierung zur eingehendsten Prüfung und Würdigung der in der Petition und dem Promemoria vorgebrachten Anregungen und Vorschläge und zur baldigsten Vorlage eines Gesetzentwurfes aufgefordert wurde.

Es begann die Vorberatung, Vorbereitung und Durchführung der notwendigen statistischen Erhebungen, deren Zählung und sonstigen Ergebnisse grundlegendes Material für den geplanten Entwurf bringen sollten. Eine der Hauptfragen, die durch statistische Erhebungen geklärt werden sollte, war die Untersuchung, ob und inwieweit rar Zeit der Zählung bereits Versorgungseinrichtungen für die Privatbeamten beständen. Das gesammelte Material, das dann in der Schrift „Ergebnisse der über die Standesverhältnisse der Privatangestellten im Jahre 1896 eingeleiteten Erhebungen“ niedergelegt wurde, ist sorgfältig und eingehend beraten worden. Von sämtlichen erfaßten Angestellten mit Einschluß der Privateisenbahnen und Seeschifffahrtsunternehmungen hatten am Z2h-lungstag 30,7 Prozent Versorgungsansprüche. Deren Form war verschieden. Die wichtigste Kategorie bildeten die bei den einzelnen Unternehmungen bestehenden Pensionsfonds, denen 282 gezäk worden, Hiem gehörten noch 63 Bergwerks-bruderladen. Es hatte also ein beträchtlicher Teil der damaligen Angestellten, insbesondere der Großunternehmungen, sich bereits vertraglich eine den Staatsbeamten ähnliche Versorgung gesichert. Immerhin warteten noch 70 Prozent auf das Zu-

Standekommen einer Pensionsversicherung. Die Regierung brachte wohl am 21. 'Mai 1901 einen schon in der Thronrede angekündigten Gesetzentwurf, „betreffend die -Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten“, im Abgeordnetenhaus ein. Aber erst nach Überwindung unzähliger Schwierigkeiten und vieler kritischer Augenblicke wurde der Regierungsentwurf am 20. Juli 1906 vom Plenum des Abgeordnetenhauses angenommen und an das Herrenhaus geleitet, das am 30. Oktober 1906 seine Zustimmung gab. Am 16. Dezember erhielt das Gesetzeswerk die kaiserliche Sanktion.

In 25 Kapiteln und 95 Paragraphen wurde in diesem Gesetze die Regelung der ganzen Materie der Angestelltenpensionsversicherung versucht, die zwar in den Pensionsinstituten der Zuckerindustrie, der Textilindustrie, den Pensionsfonds der großen Banken und anderer großen Unternehmungen Vorläufer gefunden hatte, aber für die Gesetzgebung doch vollständiges Neuland darstellte ohne Vorbilder in der ganzen Welt. Die Sprache des Gesetzes war einfach und klar, die Gliederung übersichtlich.

Diese Vorzüge österreichischer Gesetz-giebungskunst haben wir seit 1938, da wir als Teil des Dritten Reiches mit den Ergebnissen der reichsdeutschen Gesetzgebungsmaschine uns vertraut machen mußten — und zum Teil noch müssen —, besonders schätzen gelernt. Seither wurde das Pensionsversicherungs-gesetz durch das österreichische Angestelltenversicherungsgesetz 1926, das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz 1935 und schließlich das noch geltende deutsche Angestelltenversicherungsgesetz, das sozusagen der Reichsversicherungsordnung aufgepfropft ist, abgelöst.

Die sozialpolitisch entscheidenden Errungenschaften der Angestelltenversicherung waren seit ihrem Beginn vor vierzig Jahren

die souveräne Geltung des Versicherungsprinzips,

die ngeschrähkte Fassung des Invaliditäts-, beziehungsweise Berufsunfähigkeits-begriffes und

die uneingeschränkte Witwenversorgung.

Das Pensionsversicherungsgesetz wahrte streng das Versicherungsprinzip, das mit der versieh erungstechnisch untermauerten durch den obligatorischen Charakter der Versicherung verbreiterten Aas-wägung von Prämie und Leistung einen strengen Rechtsanspruch bei Zutreffen der Voraussetzungen verband. Das Finwnzsystem mußte infolge der Inflation nach dem ersten Weltkrieg geändert werden, der versiebenungs-rechtliche Anspruch i*t geblieben.

Der zweite bedeutsame Fortschritt lag in der Umschreibung der Invalidität. Im Pensionsversicherungsgesetz, also im Stammgesetz, erschöpfte sich der Begriff der Invalidität in der Berufsinvalidität. Es genügte also, um als invalid zu gelten, die Tatsache, daß der Versicherte seinen bisherigen Berufspflichten nicht weiter zu obliegen vermochte. Das spätere Gesetz von 1926 hat dann die Invalidität auf die sogenannte Standesinvalidität erweitert, also Invalidität nicht allein im letztausgeübten Beruf, sondern auch in einem sonst mit Rücksicht auf die bisherige Beschäftigung, praktische Ausbildung und Vorbildung zumutbare Betätigung, ohne ein bestimmtes perzentuelles Ausmaß der Invalidität als Grenze festzusetzen. Das deutsche, gegenwärtig noch in Österreich geltende Angestellten versicheru ngsgesetz generalisiert den Begriff der Standesinvalidität und verlangt eine mehr als fünfzigprozenrige Berufsunfähigkeit.

Der wichtigste sozialpolitische Fortschritt der Pensionsversicherung war und ist die Vorsorge für Witwen und Waisen nach versicherten Angestellten. In der Angestelltenversicherung hat jede Witwe Anspruch auf eine Rente, wenn nur die allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen für den Bezug der Rente durch den Gatten (Erfüllung der Wartezeit, Erhaltung der Anwartschaft) gegeben sind. Diese Vorrangstellung in der Angestelltenversicherung ist bereits im Motivenbericht zum Stammgesetz besonders hervorgehoben und ist kennzeichnend für die österreichische Sozialpolitik. In dieser Beziehung ist das österreichische Gesetz auch für das spätere reichsdeutsche Gesetz Vorbild gewesen. Die Bedeutung der Witwenversorgung wird blitzartig durch die Anzahl der Renten im Monat November der Wiener Angestelltenversicherungsanstalt erhellt. In diesem Monat gelangten von der Wiener Anstalt für den Bereich Wien, Niederösterreich und Burgenland 1 8.4 03 Ruhegelder wegen Berufsunfähigkeit und Alter und 1 9.9 93 Hinterbliebenenrenten (Witwen- und Waisenrenten) zur Anweisung. Die Anzahl der Hinterbliebenenrenten ist also größer als die Anzahl der Renten aus dem Grund der Berufsunfähigkeit und des Alters.

Diese ausgedehnte Witwenversorgung war, wie die geschichtliche Entwicklung in Österreich und Ieutschland beweist, nur möglich durch die gesonderte Behandlung der Pensionsversicherung. Sie ist nur solange zu halten, als die Angestellt e n ve r s i c h e ru n g s e 1 b-ständig bleibt. Wer die Selbständigkeit und Sonderstellung der Angestelltenversicherung angreift, greift damit zwangsläufig, ob er es will oder nicht will, die Haupterrungenschaft der Angestellten an.

Die Pensionsversicherung hatte seit ihrer Begründung schwere Schicksalsstürme zu bestehen. Kaum war sie angelaufen, kam der erste Weltkrieg, dessen Inflationsfolgen die Kapitalreserven dahinschmelzen • ließen wie Schnee in der Sonne. Trotzdem gelang es 1926 durch das österreichische Angestelltenversicherungsgesetz, die Versicherung wieder aufzubauen. 1938 brach der zweite Sturm herein, der an Stelle der österreichischen Pensionsversicherung das deutsche Gesetz in unseren Landen einführte. Die Verschlechterungen sind bekannt.

“Wieder sind wir im Begriffe, im mühsamen Ringen mit den täglich sich auftürmenden Schwierigkeiten die PensionsVersicherung der Angestellten aufzubauen. Den vielen Hunderttausenden österreichischen Privatangestellten, die mit Sorge den Schicksalsweg ihrer Versicherung verfolgen, sei zugerufen: Mit derselben inbrünstigen Zuversicht, mit der wir an das Gelingen des Wiederaufbaus Österreichs und seiner Wirtschaft glauben, glauben wir auch an den Wiederaufbau der österreichischen Pensionsversicherung Das große Erbe, das wir hier zu wahren haben, die stolze Tradition Österreichs auf dem Gebiete der Pensionsversicherung verleiht dem Dichterwort einen neuen aktuellen Sinn: „Was du ererbt tos deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen!“

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