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Ein Comeback für Bucharin?

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VICTOR ADLER REDAKTION ARBEITERZEITUNG WIEN + + ZUERICH 317323 17 24 g 6h 25 SCHICKEN DURCH GREULICH ACHTHUNDERT MARK FÜR LENIN + + BITTE SOFORT WEITERSCHICKEN SKOWNO BUCHARIN

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Dieses Telegramm wurde im Archiv der Wiener Arbeiterkammer gefunden, als buchstäblich einzige aktenkundig festgehaltene Spur, die Nikolai Bucharin in Wien hinteriieß. Aufgegeben wurde es am 25. August 1914 in Zürich. Der russische Emigrant und Revolutionär war kurze Zeit vorher in Lunz am See verhaftet und nach einigen Tagen Haft in der Melker Kaserne auf Grund von Interventionen befreundeter österreichischer Sozialistenführer in die Schweiz abgeschoben worden.

Bucharin hat eineinhalb oder zwei Jahre in Wien gelebt, man weiß es nicht genau. Zahllose Einzelheiten seines Lebenslaufes sind kaum mehr rekonstruierbar. Den Großteil dessen, was man weiß, weiß man aus Briefen, vor allem aus Briefen Lenins. In Wien gelebt, das heißt vor allem: gelesen, geschrieben, gehungert. Im legendären Cafe Central wurde oft über Bucharin, diesen „sonderbaren Heiligen der Revolution“, gesprochen, aber er hat dort nicht verkehrt, war hingegen Stammgast aller bedeutenden Bibliotheken.

Buchairin verfaßte in Wien eine grundlegende Kritik der Grenznutzenschule, beobachtete im Aufträge Lenins die gegen die Bolschewisten gerichtete Tätigkeit Trotzkis, hielt den Kontakt mit der österreichischen Sozialdemokratie aufrecht und unterstützte einen jungen, in theoretischen Fragen oft recht hilflosen Georgier namens Stalin bei seiner Arbeit an der Schrift „Nationale Frage und Sozialdemokratie“. Wenige Jahre später, als Bucharin von seinen Posten in den Sowjets und in der Partei zurücktrat, fragte Stalin, in taktischen Fragen niemals hilflos, ob dieser Rücktritt nicht gleichbedeutend sei mit dem Austritt aus der Partei. Lenin verneinte. Bucharin war einer der engsten Mitarbeiter und in einigen wirtschaftlichen Fragen der Anreger Lenins vor der russischen Revolution, nach 1917 eine Schlüsselflgur der Sowjetgeschichte und Stalins eigentlicher ideologischer Gegenpol. Es klingt geradezu unglaublich, daß sich dreißig Jahre nach dem Tod eitles

Mannes von solcher Bedeutung kein einziger Biograph gefunden hat — dies angesichts eines Lebens von außerordentlicher Dramatik, eines Menschen von ungewöhnlicher Faszinationskraft. Es gab eine Untersuchung über Bucharins ökonomische Anschauungen von P. Knirsch, einige amerikanische Dissertationen über seine Theorien, keine Biographie. Denn während Trotzki Rußland unter Mitnahme seiner Aufzeichnungen verließ und seinen Biographen die Arbeit auch sonst in jeder Weise erleichterte, blieb Bucharin, den Trotzki noch in der Opposition gemeinsam mit Stalin zu bekämpfen bereit war, in Rußland und das Material über ihn ist außerordentlich spärlich. Sein Name wurde in Rußland tabuiert, außerhalb Rußlands vergessen: So konnte Trotzki als Idol einer revolutionären Generation einen Platz einnehmen, der viel eher Bucharin gebührt hätte. Denn Bucharin hat, so erstaunlich es klihgerf mag, sowohl dem tschechoslowakischen Frühling als auch der chinesischen Kulturrevolution die grundlegenden Theorien geliefert, und er wurde auch zum Ahnherrn des liberalen italienischen Kommunismus,

Der Wiener Dr. Adolf Georg Löwy, Motivanalytiker, Werbefachmann, Nationalökonom und noch einiges andere mehr in einer Person, hat mit seiner Bucharin-Biographie „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ also begonnen, ein zeitgeschichtliches Vakuum zu füllen und verstand damit eine Ohance zu nutzen, die sich nicht alle Tage bietet. Doch dieses Buch verdankt seihe Entstehung offensichtlich nicht nüchternem Erfolgskalkül, sondern einer tiefen Sympathie, ja, wie streckenweise erkennbar wird, einer Identifizierung mit Bucharin — nicht die schlechtesten Biographien wurden so geschrieben. Löwy hat ein rundes Dutzend überlebender Freunde und Bekannter Bucharins ausfindig gemacht und interviewt und damit unschätzbares Material bewahrt. Die Liste der durchgeackerten Primärquellen ist beachtlich, leider auch die Liste der Flüchtigkeiten. Weitere Bucharin-Werke werden wohl folgen. Die Grundzüge eines neuen, auf die Zukunft eines humanistischen Kommunismus bezogenen Bucharin- Bildes hat, so scheint es, Löwy bis auf weiteres festgelegt.

Es ist das Bild eines Mannes, der, den einen ein „Linkester der Linken“, den anderen ein erbärmlicher Rechtsabweichler, einer, der „kein anderes Minimalprogramm als die totale Revolution“ kannte und Stalin entgegentrat, als dieser die Bauern unter das kollektive Joch zwingen wollte, immer sich selbst, seinen revolutionären und ¿einen humanistischen Idealen tieu geblieben ist.

Sein Denken war von einer starken Affinität zum esehatölogischen Ele ment im prophetischen Marxismus bestimmt, sein himmlisches Jerusalem die von der Ware, will sagen allen Tauschvenhältnissen befreite Gesellschaft. Die Klarheit und Folgerichtigkeit seines Denkens war nichtsdestoweniger bestechend.

Wenn überhaupt marxistische Zukunftsprojektionen Wert behielten, dann die Bucharins, seine Theorie von der Möglichkeit eines friedlichen Wettstreits alter und neuer Wirtschaftsformen im sozialistischen Staat, seine Theorie vom Bauern als Träger der Revolution im unentwickelten Staat (China!), vom Schwergewicht ökonomischer Parolen im entwickelten; außerökonomischer Parolen im unentwickelten Staat (Nationalkommunismus, Kulturrevolution!). Bucharin lieferte Mao Tse-tung das Stichwort zu seinem Kernsatz „Das Weltdorf wird die Weltstadt einkreisen!“

Er selbst wurde von Stalin eingekreist und am Tag des deutschen Einmarsches in Österreich erschossen. Hellmut Butterweck

A. G. LÖWY: DIE WELTGE

SCHICHTE IST DAS WELTGERICHT — BUCHARIN: VISION

DES KOMMUNISMUS. Europa-Verlag, Wien. 420 Seiten, Leinen, S 198.—

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