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Ein Forum für die Minderheiten

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Die Pariser Vorortverträge 1919 schufen viele Nationalitäten, das heißt ethnische Minderheiten in den mittel- und osteuropäischen Staaten. Ein Teil dieser nationalen Minderheiten erhielt einen fragwürdigen Schutz in sogenannten Minderheitenschutzverträgen, die unter die Sanktion des Völkerbundes gestellt waren und so wenig wie dieser respektiert worden sind. Nachdem sich schon bald herausgestellt hatte, daß der' Völkerbund und sein Minderheitenschutz praktisch keinerlei Garantie für eine eigenständige Entwicklung der europäischen nationalen Minderheiten in ihren Wirtstaaten bot, versuchten sich die Minderheiten selbst zu organisieren und auf ihre Sorgen und Wünsche aufmerksam zu machen. So entstanden die „Europäischen Nationalitätenkongresse“, deren erster am 15. und 16. Oktober 1925 in Genf stattfand. Der eigentliche Organisator und Träger dieser Kongresse war der in Peking verstorbene Baltendeutsche Dr. Ewald A m-m e n d e, ein Idealist vom Range eines Albert Schweitzer. In späterer Zeit tagten die Europäischen Nationalitätenkongresse auch in Bern und in Wien. In Wien erschien auch im angesehenen Verlag Wilhelm Braumüller die Zeitschrift „Nation und Staat“ als Organ der Europäischen Nationalitätenkongresse unter Leitung des baltischen Soziologen Freiherr von Uexküll-Güldenband. Ihr Titel war den gleich bzw. ähnlieh betitelten berühmten Werken von Ignaz Seipel und Karl Renner aus der Zeit des untergehenden Habsburgerreiches entnommen. Präsident der Europäischen Nationalitätenkongresse war zuletzt der frühere slowenische Abgeordnete zur italienischen Kammer aus Triest, Dr. Jösip Wilfan.

Die Europäischen Nationalitätenkongresse haben teilweise große Wirkung und Bedeutung erlangt, sie mußtein aber mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland zusammenbrechen, da Hitlers Minderheitenpolitik nicht auf Erhaltung der Eigenständigkeit nationaler Volksgruppen in den Staaten Europas gerichtet war, sondern auf Bevölkerungsaustausch (siehe den tragischen Fall der Südtiroler Optanten), auf Gebietsannexion von konnationalen Grenzgebieten durch den Staat mit dem betreffenden Mehrheitsvolk und teilweise sogar auf Austilgung nationaler Minderheiten. So sind schließlich 1939 die Europäischen Nationalitätenkongresse verschwunden.

Nach dem Kriege sind sie, was der Öffentlichkeit vielfach unbekannt ist, wieder aufgelebt, wenn auch in wesentlich anderer Form, wobei aber bemerkenswerterweise statt des irgendwie diffamierenden Wortes „Minderheit“ wie auch des in romanischen und germanischen Ländern staatsrechtlich völlig anderes bedeutenden Wortes „Nationalität“ (ein Ausdruck aus der österreichischen Verfassung von 1867, Artikel XIX, StGG.) der Ausdruck „Volksgruppe“ gewählt wurde. Insbesondere auch im slawischen Raum wurde unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese sprachliche Neuformulier rung eine analoge Wortschöpfung vorgenommen, wie zum Beispiel durch den heutigen Laibacher Nat'onal'tätenrechtler Dr. Lavo Cermelj mit der Ersetzung des Wortes „narodna manjsina“ (nationale Minderheit) durch das Wort „narodna skupina“ (Volksgruppe). Auf der Grundlage der völkischen Eigenständlichkeit ethnisch besonders gearteter historischer Gruppen in ethnisch vorwiegend anders gearteten Staaten (auch Gliedstaaten, Bundesländern usw.) entstand nach dem zweiten Weltkrieg die „Föderalistische Union europäischer Volksgruppen“ (Union Federaliste des Communautes Europeennes) mit dem Sitz in Kopenhagen (Rolighed), wo sich ein dänischer Volksgruppenforscher, Ministerialrat Dr. Povl Skade-gard, der so sehr gewandelten Nationalitätenfrage annahm und zuwandte und als Vertreter eines absolut neutralen Landes zuwenden konnte, ohne von irgendeiner Seite Mißtrauen zu begegnen. (Dänemark hat aber seinerseits ein durchaus ernst zu nehmendes Volksgruppenproblem auf den Faröern und in Grönland sowie Nordschleswig, wofür Schulautonomiegesetze erlassen sind.)

Die Europäische Volksgruppenunion kann daher auch ethnische Gruppen umfassen, die bei der früheren Verengung des Begriffes „Minderheit“ nicht erfaßbar gewesen wären. Seit dem Kongreß in Cardiff, Wales, vom 5. bis

7. Mai 195 5 umfaßt die Union folgende ordentliche Mitglieder: 1. Die Union Valdo-taine, des Aostatales (französisch sprechende Bewohner Italiens im Aostatal). 2. Parti natio-naliste Basque (baskische Nationalpartei des französischen Baskenlandes bei Hendaye). 3. Al-Liamm und Ker Vreiz (bretonische Volks-grüppenorganisationen der Bretagne, Frankreich). 4. Mebyori Kernow, Cornwall (Gälische Volksgruppe in England). 5. Macedonian Political Organization of LISA and Canada (hierbei handelt es sich um eine Organisation von Exilmazedoniern aus dem jetzigen Jugoslawien sowie aus Griechenland, einer Gruppe, deren ethnische Besonderheit in. der volkskundlichen Literatur seit jeher umstritten ist, jedoch immer wieder von Emigranten leidenschaftlich behauptet wurde, zwischen den beiden Weltkriegen vor allem in der Zeitschrift „La Mäcedoine“ in Genf, und die wie alle Emigrantenorganisationen gewisser Vorsicht in der Beurteilung begegnet). 6. Föriining for Nationale Frashe (Nordfriesische Volksgruppe in Nordfriesland). 7. Bund Deutscher Nordschles-wiger (Deutsche Volksgruppe in Dänemark).

8. Scottish National Congress, Scottish National Party und Scottish Patriots (drei Vereinigungen schottisch-nationalbewußter Zielsetzung, deren ethnische Andersartung innerhalb des Vereinigten Königreiches klar zum Ausdruck kommt).

9. Sydslesvigsk Forening (Organisation der dänischen Minderheit in der Deutschen Bundesrepublik). 10. Südtiroler Volkspartei. 11. Wal-lönie Libre (Wallonen in Belgien. Hier kann ■jemand von einer „Minderheit“ sprechen, denn die Wallonen sind in Belgien Staatsvolk, sogar vorläufig noch das erste Staatsvolk, wenn quch allmählich in die Defensive gedrängt).

12. Swyddfa Plaid Cymru (Volksgruppe der Walliser in Wales, Vereinigtes Königreich).

13. Fryske Foriening foar in Federael Europa (Westfriesland). 14. Lapin Svistysseura (Volksgruppe der Lappen in Finnland). 15. Der Katalanische Rat der Europäischen Bewegung (um Aufnahme angesucht). 16. Die föderalistische bretonische Bewegung (Nantes). 17. Lia Ru-mantscha (Rätoromanen in der Schweiz, beigeordnetes Mitglied). 18. Slesvig-Ligaen (eine dänische Organisation in der Deutschen Bundesrepublik). 19. Rat der Kärntner Slowenen (katholische Slowenen in Kärnten, Richtung Tischler). 20. Zentralverband slowenischer Organisationen in Kärnten (Titokommunisten in Kärnten, Richtung Franz Zwitter), diese beiden vorerst beigeordnete Mitglieder. 21. Slowenische Volksgruppe aus Görz (Gorica, Go-rizia). 22. Kroaten aus dem Burgenland. 23. Donauschwaben. 24. Ungarndeutsche. 25. Deutsche Landsmannschaften. 26. Färinger (offiziell noch nicht Mitglied). 27. Ungarische Volksgruppe in der Tschechoslowakei. 28. Domowina (nationale Organisation der Lausitzer Sorben). Dazu kommen halboffizielle Mitglieder, die auch als „beigeordnet“ bezeichnet werder wie zum Beispiel die schwedischen Parlamentsmitglieder des finnischen Reichstages.

Die Europäische Volksgruppenunion will als internationales Sprachrohr der ethnischen Volksgruppen dienen, um als Verfechter von deren natürlichen Rechten auftreten zu können. Politische Aufgaben liegen ihr eher fern, sind aber nicht ganz abzuweisen. Vor allem unterbreitet die Union den europäischen Regierungen, auch den kommunistischen, Vorschläge zur Lösung der Fragen ethnischer Volksgruppen, zur Teilnahme der nationalen Minderheiten am Staat und zur Weiterentwicklung der ethnischen Gruppen in den Staaten Europas. Demnach ist die Union an und für sich keine ausgesprochen westliche Organisation, in Wirklichkeit aber ist es ihr noch nicht gelungen, bei den Volksdemokratien, wo die Volksgruppen- und Minderheitenprobleme heute so brennend sind wie nur je, Eingang zu finden. Da man sich nicht auf Exilorganisationen stützt und nur vereinzelt auch Exilvolksgruppen in der Union aufscheinen, ist es aber durchaus denkbar, daß gewisse Vorbehalte, die in den Oststaaten gegenüber der Union gemacht werden, wegfallen werden. Zu Jugoslawien haben sich die an sich nicht übermäßig gut gewesenen Beziehungen ein wenig gebessert. Vertreter der Union konnten sogar in Skoplje die mazedonische Frage unter relativ geringer Behinderung studieren. Mit der Deutschen Demokratischen Republik ist (hinsichtlich der Sorben in der Lausitz) eine Zusammenarbeit angeknüpft und möglich geworden.

Die Union hat verschiedentlich den Versuch gemacht, Regierungen europäischer Staaten auf Verletzungen von natürlichen Minderheitsrechten aufmerksam zu machen. So hat der Zentralausschuß bei der britischen Regierung sowohl gegen die Verletzung des englischschottischen Vertrages von 1707 wie auch gegen die Verletzung der Menschenrechte der Zyprioten protestiert.

Zu Pfingsten 1956 fand der sechste Kongreß der Union im Hotel Karnerhof in Egg am Faaker See (Kärnten) statt. Die Einladung dazu war von den Kärntner Slowenen, und zwar vom „Rat der Kärntner Slowenen“ (Narodni svet koroskih Slovencev), ausgegangen, der in der Union mitarbeitet, wenn er auch nicht Vollmitglied ist. Der Landeshauptmann von Kärnten, Ferdinand Wedenig, war sogar an der Spitze des Kongreßpräsidiums, während man sich seitens der in Betracht kommenden OeVP-Persönlichkeiten Kärntens für diesen Kongreß nicht interessierte. Das ist insofern bedauerlich, da der diesjährige Kongreß der Volksgruppenunion von den Kärntner Slowenen dazu benützt wurde, innen- und außenpolitische Ziele der Slowenen durch diese internationale Organisation voranzutreiben, wobei eine extrem jugoslawienfreundliche Haltung gewisser SPOe-Kreise diesem Streben nur förderlich sein konnte. Allerdings ist diesem Streben kein Erfolg beschieden gewesen, denn das Kongreßpräsidium hielt sich genau an die Satzungen der Union und ließ sich wohl informieren, hielt sich aber mit der seit nunmehr sechs Jahren bewährten

Objektivität von Stellungnahmen fern, die den Rahmen der Unionsaufgaben überschritten hätten. (Ehrenpräsident der Union war der verstorbene Südtiroler Volksführer Kanonikus Gamper und ist ferner der ehemalige dänische Außenminister Ole Björn Kraft.) Hingegen wurde manche sachliche Arbeit geleistet. So wurde die Gründung eines Europäischen Büros der Minderheiten (auf Vorschlag von Mr. James Dickson) mit entsprechenden Subkomitees beschlossen, dem das Studium des Minderheitenproblems innerhalb des allgemeinen Problems der ethnischen Volksgruppen überhaupt unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Gesetzgebung, die Uebereinstimmung der UN-Charta der Menschenrechte mit dem Minderheitenstatus und die Ausarbeitung von besonderen Minderheitendarstellungen an die Generalversammlung obliegt. Als ganz wesentlich erscheint uns die Ausarbeitung von „Hauptgrundsätzen eines Volksgruppenrechts“ an die Staatsregierungen.

Nicht unerwähnt sei der Beschluß, den Vereinten Nationen zu empfehlen, sie mögen den Volksgruppen ein Petitions- und Klagerecht vor der Generalversammlung der LIN gewähren und einen eigenen Gerichtshof zur Behandlung solcher Klagen einrichten. (Während das österreichisch-italienische Südtirolabkommen seiner völkerrechtlichen Struktur nach Oesterreich den Weg zum Internationalen Gerichtshof Im Haag wohl nicht unterbindet, vielmehr ermöglichen würde, ist ethnischen Gruppen, die nur innerstaatlich normierte Rechte genießen, ein solcher Weg verwehrt. Der im übrigen praktisch wertlos gewesene Minderheitenschutz des Völkerbundes ist nicht wieder aufgelebt.)

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