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Ein Jahr nach Adenauers Tod

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Ein Jahr nach Konrad Adenauers Tod hat sich manches in Deutschland verändert. Aber so merkwürdig es scheint: Selbst die Erinnerung an den Altbundeskanzler ist noch ein Teil des politischen Lebens. Vieles, was heute geschieht, wird noch an ihm gemessen. Oft wird gefragt: Hätte er dies oder jenes anders und — besser gemacht? Nicht wenige klagen: Ja, er hätte einen anderen Weg gefunden — obschon auch dies immer nicht sicher ist.

Die berufsmäßigen Vereinfacher wollen Adenauer und seinen Schatten, der bis in diese Tage reicht, als ein Sinnbild deutscher Nation verstanden wissen. Aber fälschlicherweise als ein Sinnbild dafür, daß die Deutschen stets in einem Mann gedacht und es geliebt hätten, in seinem Faltenwurf zu leben. Mit anderen Worten: Im allgemeinen seien sie zu unselbständig gewesen und in der Mehrzahl eigentlich Untertanen im polemischen Sinne von Heinrich Mann.

Bismarck, Wilhelm II., Hitler und selbst Ulbricht werden als Beispiele dafür angeboten. Jedoch die Bilder stimmen nicht. Sie gleichen sich nicht einmal. Außerdem haben die Franzosen in Napoleon und de Gaulle gedacht und gelebt und tun es noch heute. Die Engländer sprechen mit melancholischer Liebe von der viktorianischen Epoche, die durch eine kleine, unscheinbare Königin geprägt wurde, die eine große Persönlichkeit war.

Die Amerikaner haben ihren Washington gehabt, ihren Lincoln und ihren Eisenhower. Die Sowjets hatten ihren Lenin und Stalin, selbst ihren Chruschtschow. Die Polen, die Ungarn: Helden und Heldenverehrung hat es zu allen Zeiten und in allen Völkern gegeben, obgleich jeder Held seine eigenwillige und manchmal fragwürdige Färbung hatte. Der Begriff ist nicht in Deutschland erfunden.

Die Deutschen vor und nach Adenauer sind in der Bundesrepublik nicht bloß ein Volk, das sein Schicksal einzig einem Manne in die Hand gegeben hätte. Sie haben ihn nur führen lassen. Aber sie haben ihm — gute Demokraten, die sie geworden waren — seine Arbeit oft sehr sauer gemacht. Eine weniger souveräne Natur hätte es zuweilen schwerlich durchgestanden.

Bedingungslos gefolgt

Dennoch haben sie mit Adenauer zugepackt und vom Tage Null an aus dem Nichts in Gestalt der Bun- dessepsubUk die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt zustande gebracht. Das Ganze war ein Teamwork erster Ordnung, die Leistung einer ganzen Nation. Daß dies politisch in die richtige Linie kam, haben sie allerdings weitgehend Adenauer überlassen.

Doch wußten sie — bis auf wenige — auch, daß der Kanzler gar keine Wahl hatte, als die Bundesrepublik zu einem getreuen Mitglied der freien Welt zu machen. Einen Abmarsch nach dem Osten hätten sie ihm nicht gestattet. Auch die Bevölkerung in der Zone hätte sich für den Westen, für den „Kapitalismus” und gegen den östlichen Sozialismus entschieden, wenn sie es gedurft hätte.

Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg aus Niederlage und Trümmern nahm alles Augenmerk und alle Kräfte in Anspruch. So wurde das Staatsbildende in der Bundesrepublik vernachlässigt. Die Männer am Steuer hatten ihre gefestigten, auch im Widerstand erhärteten Überzeugungen, und das Volk war nach 1945 in seiner großen Masse bereit, ihnen bedingungslos zu folgen.

Schwankt das Schiff?

Aber dann kam die Versuchung der Leichtfertigkeit im Vollgefühl des Aufstiegs, der Kraft und der Mächtigkeit, und manches wurde faul im Staat. Die Hauptsache für viele war, daß die Bilanzen stimmten. Aber die junge Generation kam mit zahlreichen Fragen. Sie verstand nicht, wieso sich ihre Eltern und Voreltern derart von Hitler hatten blenden, terrorisieren und in die unsagbare Katastrophe hineinreißen lassen. Die Jungen trauten den Alten nicht. Die Alten wieder wollten von der schaurigen Vergangenheit nichts mehr hören. Sie wurde ihnen fatal und blieb von vielen unbewältigt. Dutschke und die Blutrünstigen, die hinter und neben ihm stehen oder ihm bloß aus Lust am Geschrei und an der Auflehnung gegen jegliche Obrigkeit und das Establishment nachziehen, sind die Folge davon.

Zu Beginn dieses Verwirrens hat man von einer Verzerrung der Demokratie unter Adenauers autoritärer Politik gesprochen, ohne je den bündigen Beweis hierfür geführt zu haben. Heute, ein Jahr nach seinem Tode, steht es schlimmer. Ein Gefühl breitet sich aus, als ob das Staatsschiff schwanke und in seinem Gebälk nun schon das Ticken der Würmer zu hören sei.

Adenauer hat so etwas kommen sehen. Wenige Wochen vor seinem Tode hat er dies dem Verfasser nochmals aufs dringlichste nahegelegt. Andere teilten seine Unruhe. Gleichwohl blieb den Nachfolgern Adenauers ein Erbe hinterlassen, an dem sie schwerer und schwerer zu tragen haben.

Tatsächlich ist nicht abstreitbar, daß die Nation zu Adenauers Zeiten staatspolitisch nicht in Form gebracht worden ist. Wer mit aller Unbedingtheit verurteilt, wird nicht einmal gelten lassen, daß die Verantwortlichen der fünfziger Jahre für sich Überforderung beanspruchen könnten, weil sie nicht auch diese Aufgabe in Angriff genommen oder wenigstens die Weichen gestellt haben. Denn es handelte sich ja um eine Aufgabe für Generationen, eine Erziehungsaufgabe, die trotz aller anderen Arbeit nicht aufgeschoben werden durfte. Dieses Argument kann man nicht einfach zurückweisen.

In der Tat lassen sich wirtschaftliche Rückschläge überwinden. Wir haben es seit eineinhalb Jahren erlebt. Politische Machtkämpfe sind austragbar und beendbar ohne Schaden für das politische Gefüge, wenn die Staatsraison das letzte Wort behält. Aber im deutschen Volk kommt jetzt ein Fieber zum Durchbruch, das jahrelang erträgliche Temperaturen hielt, freilich ohne ausreichend bekämpft zu werden, nun aber in die Gefahrenzone geraten ist. Eine echte und tiefe Krise der Demokratie zeichnet sich ab.

Ein Jahr nach Adenauers Tod kann man — nicht zuletzt beim Rückblick auf das unglückselige Zwischenspiel Erhard — manches preisen, was in der jüngsten Vergangenheit geschehen ist (etwa die neue deutsche Ostpolitik). Anderseits kann man Adenauer für dieses und jenes verantwortlich machen, was heute das politische Fortkommen erschwert oder gar unmöglich macht. Aber: Was wäre geworden, wenn…?, das ist die Frage, auf die es nie eine genaue Auskunft gibt. Jede Antwort bleibt spekulativ. Zudem wiegt dies im Ablauf der Geschichte nicht entscheidend, schon gar nicht allein.

Die Aufgabe der Zukunft

Ein Jahr nach dem Tod des Altbundeskanzlers ist vielmehr mit erregender Deutlichkeit sichtbar geworden, daß das Schicksal einer Nation nicht allein von Politik und Wirtschaft bestimmt wird, sondern mindestens ebensosehr — wenn nicht noch mehr — von der geistigen, seelischen und moralischen Form, in der sich das Volk befindet. Das Moralische versteht sich, entgegen einem berühmten Wort, leider nicht immer von selbst. Die Regierung der Großen Koalition hat hier ihre größte Aufgabe vor sich.

Sie muß sich Zeit, Gedankenfreiheit und Kraft schaffen, um mit einer überzeugenden und umfassenden Konzeption, die sich auch organisatorisch verwirklichen läßt, diese sehr langfristige Aufgabe energisch anzupacken. Wenn überhaupt eine politische Konstellation, dann besitzt die Große Koalition die breite Plattform ein neues, verantwortungsbereites und zuchtvolles Staatsbewußtsein zu schaffen. Ulbricht lauert auf ihr Versagen gerade in diesem Punkt. Damit ist über die Schicksalsträchtigkeit dieser Aufgabe auch noch das letzte gesagt.

Es ist in Deutschland wieder eine Zeit gekommen, in der wahre Buß- prediger not tun. Man kann nur eindringlich darauf hoffen, daß sie laut werden und daß ihre Worte und Zeichen im allgemeinen Happening unserer Zeit nicht untergehen. Bei den alten Römern ertönte in solchen Stunden der Ruf „Videant consules”, um die Nation zum Bewußtsein ihrer Selbst zurückzubringen.

So weit hat die Stunde in der Bundesrepublik geschlagen. Kein Wunder, daß sich Kiesinger mit seinen Vertrauten überlegt, wie der Staat die Entwicklung in den Griff bekommen kann. Aber ohne Rückbesinnung, notfalls auch mit drastischen Maßnahmen, und Selbstdisziplin des ganzen Volkes aus Einsicht in den Emst des geschichtlichen Augenblicks, der nicht Tage und Monate, sondern Jahre und Jahrzehnte umfaßt, muß auch alles dieses Bemühen Stückwerk bleiben, und die allzeit unheilverkündenden deutschen Raben beginnen wieder ihren Flug.

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