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Ein Jahrhundert nach Karl Marx

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Auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz, die in den ersten Julitagen die Delegierten von 34 sozialistischen Parteien in Frankfurt am Main vereinigt hatte, ist die Erneuerung der II. Internationale einstimmig beschlossen worden. Eine Massenversammlung von 12.000 Menschen, die von einer starken Emotion ergriffen waren, gab diesem Beschluß, der ihnen eine große Tradition wieder ins Bewußtsein hob, den Nachdruck ihrer Zustimmung.

Und in der Tat ist die Sozialistische Internationale, mag sie auch immer wieder gescheitert sein, aus der Geschichte unseres Kontinents nicht hinwegzudenken. Es soll dabei nicht übersehen werden, daß sozialistische Autoren, die die an Wechselfällen reiche Entwicklung der Sozialistischen Internationale darstellen, die ersten internationalen Gedanken, die in der neueren Geschichte wirksam wurden, auf christliche Friedensbestrebungen zurückführen, die im 17. und 18. Jahrhundert die Menschheit von der Geißel des Krieges befreien wollten. Ihre eigentlichen Vorläufer sind aber wohl im Mutterland des industriellen Kapitalismus, in England, zu suchen, wo 6'ch in der vormarxistischen proleta-r sch-demokratischen Arbeiterbewegung Cir dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts schon frühe das Be-C irfnis nach internationaler Zusammenfassung regte und die Sympathien mit den Freiheitskämpfen anderer Länder in der Industriearbeiterschaft ihren besonderen Charakter entwickelten. Die 1838 gegründete „Democratic Association“ knüpfte mit den in London wohnenden ausländischen Flüchtlingen die engsten Beziehungen an, und es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Flüchtlinge aus den verschiedensten Ländern, die hier ein Asyl gefunden hatten, viel zur Entwicklung des internationalen Gefühls beigetragen haben. So kam es schließlich 1845 zur Gründung des Vereines der „Fraternal Democrats“, wohl der ersten internationalen Arbeiterorganisation, die als die eigentliche Vorläuferin der Internationale gelten kann. Ihr Motto Alle Menschen sind Brüder“ dürfte sie von dem 1840 gegründeten Deutschen Arbeiterbildungsverein übernommen haben. Bereits 1847 war der Ruf der „Fraternal Democrats“ weit über die Grenzen Englands hinaus gedrungen, ihre Aufrufe und Proklamationen wurden in allen demokratischen Blättern des Auslandes abgedruckt und zu einer von ihnen im Spätherbst 1847 veranstalteten Gedächtnisfeier des polnischen Aufstandes von 1830 begab sich Karl Marx, um für den Gedanken eines internationalen demokratischen Kongresses der Arbeiter Propaganda zu machen.

Diese Blütezeit war von kurzer Dauer. Der Juni 1848 brachte eine Krise für die ganze europäische Arbeiterbewegung. In

England kehrten sich die Massen von dem politischen Kampf ab, der Chartismus begann zu erlöschen, die Arbeiter wendeten sich der genossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Bewegung zu (Trade Unions).

Es gab bis 1864 eine ununterbrochene Kette von Bemühungen, die immer nach derselben Richtung gingen und schließlich die historische Internationale hervorbrachten. So das „Internationale Komitee“, das „die vollständige Befreiung des Volkes, die sozialen Rechte der Arbeiter und die Verbrüderung der Nationen unter der Fahne der europäischen Demokratie“ verwirklichen wollte und die Organisationsformen der geschichtlichen Internationale vorwegnahm. In einem großen Meeting in St .Martins Hall stellte es sich 1855 der Öffentlichkeit vor. Das Meeting war gut besucht, endete aber mit einem Fiasko. Es war die Zeit des Krimkrieges.

In der gleichen St. Martins Hall in London wurde am 28. September 1864 die Erste Internationale gegründet. Sie war aus einer Sympathiekundgebung für das unterdrückte polnische Volk hervorgegangen, das sich 1863 gegen den Zarismus erhoben hatte und blutig niedergeschlagen worden war. Karl Marx war der leitende Kopf der neuen Gründung. Sein Geist spricht aus den Ausführungsbestimmungen der Statuten.

Nur in England gab es damals eine ausgedehnte Arbeiterbewegung. Auf dem europäischen Festland bestanden nur zahllose kleine Klubs und Vereine, die der Geselligkeit, der Bildung, der gegenseitigen Unterstützung dienten und dabei gelegentlich auch mehr oder minder verstohlen Politik von kaum mehr als lokaler Bedeutung trieben. Dazu kam, daß gerade die vorgeschrittensten Teile der Arbeiterschaft in zahlreiche einander befehdende Sekten zerspalten waren.

Die Erste Internationale konnte also nicht auf bereits bestehenden umfassenden Organisationen aufbauen, sondern hatte vielmehr die Zusammenfassung der Arbeiterschaft der einzelnen Länder in solche Organisationen zu fördern. Marx hütete sich davor, die Internationale zu benützen, um an Stelle der alten Sekten eine neue, marxistische zu setzen. Er sowie Engels haben stets sehr streng über solche ihrer Schüler geurteilt, die das notwendige Streben nach marxistischer Klarheit zu einem Streben nach marxistischer Ausschließlichkeit in der Arbeiterbewegung zu erweitern suchten.

Sechs Jahre nach der Begründung brach der deutsch-französische Krieg 1870/71 aus. Die Internationale war zu schwach, ihn zu verhindern. Als die Deutschen vor Paris standen, errichteten die Arbeiter die Kommune. Deren blutige Niederlegung überlebte die Erste Internationale nicht. Die anarchistische Kritik des feurigen Bakuninismus der

Russen, Spanier und Italiener und des friedlicheren Proudhonismus der Franzosen trug über den Marxismus den Sieg davon, als die englischen Gewerkschaften von der anderen Seite gegen Marx Front machten. Mit dem Haager Kongreß von 1872 kann man das Ende der Ersten Internationale ansetzen.

Erst 1889 gelang es, die Zweite Internationale zustande zu bringen. Nun sind es nicht mehr kleine Gruppen, nicht mehr einzelne, sich in theoretischen Diskussionen verlierende Vereinigungen, sondern politische Parteien, die um die politische Macht und den Einfluß auf die Verwaltung ihrer Länder als Mittel zur ökonomischen Befreiung der Arbeiterschaft kämpfen. Ihren Ausgangspunkt bildete der internationale Arbeiterund Sozialistenkongreß, der vom Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie zusammen mit den Sozialisten Frankreichs zur Jahrhundertfeier der Französischen Revolution nach Paris einberufen worden war. Schon auf diesem ersten Kongreß kam einer der folgenschwersten Beschlüsse der Arbeiterschaft zustande: Der 1. Mai wurde zum Weltkampftag der

Arbeiterschaft um den Achtstundentag erhoben.

Die ersten Jahre der neuen Internationale waren gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung und Trennung vom Anarchismus, die letzten Jahre vor dem ersten Weltkrieg durch eine Spaltung in eine rechte Mehrheit — zu ihr gehörte der größte Teil der deutschen Sozialisten —, die unter Führung Jaures für nationale Verteidigung eintrat, und eine linke Minderheit unter Lenin und Rosa Luxemburg, die die Losung „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ vertraten. Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914 stimmten nur die russischen Sozialdemokraten gegen die Kriegskredite. Die II. Internationale brach auseinander. * .

1919 wurde in Moskau auf kommunistischer Grundlage die Dritte Internationale gebildet, die von Lenin auf den internationalen Treffen in Zimmerwald (1915) und Kiental schon während des Krieges vorbereitet worden war.

Im Mai 1923 fanden sich die Vertreter des Weltsozialismus in Hamburg zusammen, um die Sozialistische Arbeiter-

internationale neu zu errichten, sie hatte bis zum zweiten Weltkrieg Bestand. Die Situation hatte sich wieder geändert: Ihr gehörten jetzt Parteien an, die führend am Aufbau ihrer Staaten beteiligt waren, die an der Verwaltung der europäischen Städte einen Teil der Verantwortung, wenn nicht , die Alleinverantwortung trugen.

In der jetzigen wiedererstandenen Sozialistischen Internationale, der sechs Jahre tastender Wiederherstellung der internationalen Beziehungen vorausgingen, von den ersten von der britischen Labour-Party einberufenen Treffen bis zum Komitee der sozialistischen Konferenzen („Comisco“) verkörpert sich also zum viertenmal die internationale Idee des demokratischen Sozialismus.

Ein nicht übelwollender Kommentar der Konferenz von Frankfurt stellte die Frage, was denn, wenn man von den Emotionen und der Begeisterung absehe, die bei keiner internationalen Gründung fehle, was denn dieser Kongreß in Anbetracht der geänderten Weltlage Neues gebracht habe, und er verweist auf die Notwendigkeit einer klaren und überzeugenden Ideologie sowie einer echten Ubereinstimmung in den Aktionen. Es ist begreiflich, daß diese Frage nicht leicht zu beantworten war.

Die Tradition der Sozialistischen Internationale weist auf Karl Marx zurück, den Begründer des sogenannten Wissenschaftlichen Sozialismus“. Dieser hat alle anderen sozialistischen Richtungen überholt oder in sich aufgesogen. Es ist dem Marxismus in manchen Punkten Wahrheitsgehalt nicht abzusprechen. Seine Analyse des Manchester-Kapitalismus ist außerordentlich gründlich und packend; ein Christ könnte stolz darauf sein, sie geschrieben zu haben, wie P. L. J. Lebret O. P. kürzlich erklärte.

Das Werk von Karl Marx ist wesentlich ein kritisches und entwickelt kaum ein System, wie der Aufbau einer neuen Welt konkret zu verwirklichen wäre. Dieser negative Charakter hat viel zum Erfolg und zur Dynamik des Marxismus beigetragen, der eher eine Anweisung zum Handeln als eine Doktrin ist; wer ein positives System aufstellt, läuft ja laicht Gefahr, es von der Erfahrung und der Wirklichkeit widerlegt zu sehen. Es war ein Verhängnis, daß Marx ganz und gar unter dem Einfluß der philosophischen Strömungen seiner Zeit stand, die seinen antimetaphysischen und materialistischen Ausgangspunkt bestimmte und ihn zu Abenteuern drängten, wie dem Abenteuer des Atheismus.

Auf christlicher Seite hat man das Werk von Marx lange Zeit zu wenig ernst genommen und es manchmal auf eine zu bequeme Art widerlegt; statt die Spreu vom Weizen zu sondern, statt seiner Dialektik zu entnehmen, was sie an unleugbar Richtigem enthält; statt am Ursprung des Marxismus das große Anliegen der in Vergessenheit geratenen sozialen Gerechtigkeit zu erkennen; statt die Dynamik des Marxismus mit der Dynamik der christlichen Lehren von der Würde des Ebenbildes Gottes, vom Gemeinwohl und vom Heil der ganzen Welt zu überholen, wie sie in der Frohbotschaft enthalten sind.

Dieser Marxismus, ein typischer Erbe des Abenlandes, wurde in jenes riesige Gebiet des Ostens verpflanzt, das durch die Kirchenspaltung des 9. Jahrhunderts von der Entwicklung des Abendlandes ausgesperrt blieb; Rußland kannte nicht die grandiose Entfaltung des Hochmittelalters, keine Renaissance, keine Reformation; Begriffe von Freiheit, Recht, menschlicher Person, um die hier Jahrhunderte gerungen wurde und die heute zum unveräußerlichen Bestand des Westens gehören, blieben ihm bis hoch ins 19. Jahrhundert fremd.

Rußland amalgamierte den Marxismus und schuf aus seiner eigenen Mentalität und Tradition die neue Heilslehre. Der Riß zwischen; Orient und Okzident besteht unerbittlich weiter.

In diesem Augenblick, da sich vor allem Europa in seinem materiellen und geistigen Bestand bedroht fühlt, legte der demokratische Sozialismus bei der Wiedererrichtung seiner Internationale ein Bekenntnis zu Europa und seinen

Lebensformen ab. Das soll nicht überhört werden...

In der Prinzipienerkl&rung der wiedererstandenen Internationale heißt es: „Der demokratische Sozialismus ist eine internationale Bewegung, die keineswegs eine starre Gleichförmigkeit der Auffassungen verlangt. Gleichviel, ob Sozialisten ihre Uberzeugung aus den Ergebnissen marxistischer oder anders begründeter sozialer Analysen oder aus religiösen oder humanitären Grundsätzen ableiten, alle erstreben ein gemeinsames Ziel: eine Gesellschaftsordnung der sozialen Gerechtigkeit, der höheren Wohlfahrt, der

Freiheit und des Weltfriedens.* — All dieses Beginnen wird so viel Erfolg haben, als Erfolg den Bemühungen beschieden sein wird, Marx an dem Punkt abzulösen, wo er aufgehört hat, theoretisch und praktisch die Strukturen der Zukunft herauszuarbeiten, in der vor allem jedermann die Befriedigung seiner lebensnotwendigen Bedürfnisse gesichert sein muß.

Damit sie eine menschenwürdige sei, wird der Christ aus der tieferen Einsicht und den stärkeren Impulsen seines Glaubens seinen eigenen entscheidenden Beitrag für die Zukunft unserer gemeinsamen Welt zu leisten haben.

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