"Ein kurzer, gewalttätiger Ausbruch"

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"Generell gilt es für Österreich, ein guter Nachbar zu sein, Verantwortung zu übernehmen, vielleicht auch zu warnen und kritisch zu sein gegenüber Tendenzen, wie wir sie etwa in Ungarn erleben."

Denkmal-Politik

Geschichtspolitik lässt sich durch das Aufstellen von Denkmälern betreiben: Auch Michail Kalaschnikow, der Erfinder des vollautomatischen Gewehrs AK-47, hat eines in Moskau erhalten.

Kerstin S. Jobst Seit 2012 Professorin für "Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa" am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.

Die Historikerin Kerstin Susanne Jobst lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Im Gespräch mit der FURCHE geht sie auf Hintergründe und Konsequenzen der Oktoberrevolution 1917 sowie auf deren Rolle im Geschichtsnarrativ des heutigen Russlands ein.

DIE FURCHE: Das Jahr 1917 brachte mit dem Eintritt der USA in das Kriegsgeschehen im Westen sowie mit der Oktoberrevolution in Russland im Osten entscheidende Weichenstellungen über den Ersten Weltkrieg hinaus. Welchen Stellenwert messen Sie diesem vermeintlichen oder tatsächlichen "Schlüsseljahr" für die weitere europäische, ja Weltgeschichte bei?

Kerstin Susanne Jobst: Zunächst ist festzuhalten, dass den Zeitgenossen 1917 selbstverständlich nicht klar war, dass sie sich in einem Scharnierjahr oder an einem Wendepunkt befanden. Ex post hat sich - nicht nur, was professionelle Historikerinnen und Historiker anbelangt -ein Verständnis dieses Jahres als Epochenwende durchgesetzt, zum Beispiel bei Jörn Leonhard. Es ist nicht als absolute Zäsur zu sehen, sondern in einer Linearität; es gibt Kontinuitäten. Die Ereignisse 1917 wären ohne viele Dinge, die vorher passiert sind, sicher nicht möglich gewesen. In Bezug auf das Zarenreich ist etwa die Revolution von 1905 zu nennen. Es ist auch nicht isoliert von 1918, dem Kriegsende, zu sehen. Sowjetrussland wagte ein bis dahin nicht vorstellbares Experiment - das ist auch systemisch eine neue Qualität.

DIE FURCHE: 1917 ist selbstverständlich auch im Kontext mit dem Kriegsbeginn 1914 zu sehen. Die Kriegsziele des Russländischen Reiches umfassten neben der ideologisch wichtigen Eroberung von Konstantinopel auch panslawistische Strategien mit Auswirkungen für die Habsburgermonarchie. Können Sie uns dazu mehr erzählen?

Jobst: Selbstverständlich spielte panslawistisches Denken -auch über den Umweg Serbien -eine große Rolle, vor allen in den slawisch besiedelten Peripherien, wie dem Kronland Galizien und Lodomerien, und dort wiederum vor allem im östlichen Teil mit dem Zentrum Lemberg. Die Vorstellung, dass es sich bei den Ukrainern -in der Habsburgermonarchie offiziell: Ruthenen - um einen Teil der drei ostslawischen Brüdervölker handelt, ist noch heute in Russland aktuell. Die Russen sahen sich als eine Art slawische Schutzmacht, vereinnahmten die Ruthenen als "Nasch" ("Unsere") und wollten sie möglichst auch staatsrechtlich inkludieren. Unter den ruthenischen Akteuren in Galizien gab es einen russophilen Flügel. Man darf aber nicht von einer allzu homogenen Gruppe ausgehen; es existierten unterschiedliche Richtungen. Zumindest ein Teil dieser Menschen empfand sich als Teil einer großen ostslawischen Gemeinschaft, weniger ethnisch, sondern vor allem bedingt durch den orthodoxen Glauben. Insbesondere in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine relativ große Konversionswelle griechisch-katholischer Ruthenen zur Orthodoxie. Dies geschah oft aus ganz pragmatischen Gründen, etwa weil manche Gläubige die doch starke Latinisierung des Ritus als fremd empfanden, aber auch, weil die Orthodoxie günstigere Angebote etwa bei der Taufe eines Kindes machte. Dazu kam Propaganda seitens der Russophilen, die auch von Russland gefördert wurde. Es fanden in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg einige Russophilen-Prozesse in Galizien statt. Sankt Petersburg erkannte die Glacis-Funktion des Kronlandes, wobei aber auch Wunschdenken im Spiel war. Nach der Besetzung Ostgaliziens gleich am Anfang des Krieges 1914 waren die Russen dann überrascht, dass sie nicht von allen Ruthenen mit offenen Armen empfangen wurden.

DIE FURCHE: Die Februarrevolution 1917 eröffnete Russland die Chance einer demokratischen Entwicklung. Woran scheiterten Ihrer Ansicht nach die demokratischen Kräfte und was begünstigte die Machtergreifung durch die Bolschewiki dann im Oktober des gleichen Jahres?

Jobst: Es gab die berühmten drei ungelösten Fragen: Brot, Frieden, Land. Die Provisorische Regierung beharrte auf dem Standpunkt, man müsste erst einmal den Krieg siegreich beenden, dann eine verfassungsgebende Versammlung wählen und alles Weitere würde sich dann finden. Diese Haltung war sowohl bei der Bauernschaft, aber auch in den Städten mit ihren Soldaten-und Matrosenräten höchst unpopulär. Die Versorgungslage war 1917 nicht nur in Russland dramatisch. Es herrschte massive Not, und dieses Vakuum füllte dann die Linke aus - nicht nur die Bolschewiki. Die erwähnten drei ungelösten Fragen waren sicher ganz entscheidend für den Vertrauensverlust in die Provisorische Regierung, hinzu kam, dass das Kriegsglück sich nicht wendete. DIE FURCHE: In welcher Weise gedenkt das heutige Russland der Ereignisse vor hundert Jahren? Unterscheiden sich die Narrative unter Putin stark von den Gedenken an die Oktoberrevolution in der Sowjetzeit? Jobst: Das ist eine sehr interessante Sache: Statt von der "Großen Oktoberrevolution" wird -unter anderem von Kulturminister Medinski -viel häufiger der Begriff "Große Russische Revolution" gebraucht, Februarund Oktoberrevolution werden also als Einheit gedacht, was letztlich nicht unlogisch ist. Jedenfalls kapriziert man sich nicht mehr so auf die Oktoberrevolution mit all ihren Verklärungen. Sie wird nun eher als ein etwas gewalttätigerer Übergang in einer insgesamt kontinuierlichen Entwicklung gesehen. Diese Zeit wird oft mit der "Smuta" verglichen, einem Umbruch zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit dem Übergang zur Romanow-Dynastie: ein kurzer, gewalttätiger Ausbruch einer im Grunde linearen Entwicklung. Auch die frühere starke Konzentration auf die Figur Lenins fällt weg -er kommt in dieser Erzählung gar nicht mehr richtig vor. Das geht sogar so weit, dass es auf Seiten des Kulturministers Überlegungen gibt, Lenin endlich aus dem Mausoleum am Roten Platz zu holen und zu beerdigen. Hinter diesem Narrativ steckt natürlich der Versuch, die verschiedenen Lager und die verschiedenen Brüche durch die Erzählung einer linearen Entwicklung miteinander zu versöhnen.

DIE FURCHE: Welche Akteure prägen das Geschichtsnarrativ im heutigen Russland?

Jobst: Das geht nicht nur über einen Kanal; da spielen zum Beispiel auch die Schule und Schulbücher eine sehr wichtige Rolle, natürlich auch der ganze Mediensektor. Wir wissen ja, dass die Meinungspluralität, was das Fernsehen anbelangt, in Russland in den letzten Jahren stark nachgelassen hat. Es existieren solche Formate, die sich auch bei uns einer großen Beliebtheit erfreuen, eine Art "History Channel" auf Russisch ist etwa "Istoriya". Eine wichtige Rolle spielt auch die Gestaltung des öffentlichen Raums, mit dem sich trefflich Geschichtspolitik machen lässt, ob das nun die Benennung von Plätzen und Straßen oder das Aufstellen von Denkmälern ist. Wir hatten in den letzten Monaten zwei öffentlichkeitswirksame Ereignisse: Zum ersten wurde ein Denkmal für Iwan IV.,"den Schrecklichen" - wobei "Groznij" eigentlich der Ehrfurcht Gebietende heißt -errichtet, was sogar in russischen Kreisen teils großes Befremden ausgelöst hat. Das zweite ist das Kalaschnikow-Denkmal für den Erfinder des vollautomatischen Gewehrs AK-47. Was die professionalisierte Geschichtswissenschaft anbelangt, ist mein Eindruck, dass in den Provinzen, wo es zum Teil auch sehr gute Universitäten gibt, noch mehr Pluralität vorherrscht als im Zentrum der Macht, wo die gewünschte Meistererzählung eine große Rolle spielt. Mit der Instrumentalisierung eines bestimmten Geschichtsbildes für politische Zwecke ist die Nomenklatura jedenfalls bestens vertraut, denken wir an die Annexion der Krim im März 2014.

DIE FURCHE: Die letzte Frage soll uns räumlich wie zeitlich ins Hier und Heute zurückführen: Welche Position könnte/sollte Österreich gerade in Konsequenz des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen heute in Mittelost-und Osteuropa einnehmen, auch aus einer geschichtspolitischen Perspektive?

Jobst: Nachdem in den 1920er-Jahren das Bild des "Völkerkerkers" Habsburg dominiert hatte, gab es beginnend in den 1960er Jahren mit Claudio Magris und dem "habsburgischen Mythos" eine ganz andere Sicht der Dinge. Das ging in den 1990er Jahren munter weiter, gerade in Galizien. Dort finden Sie Gaststätten, in denen überall ein Bild von Kaiser Franz Joseph hängt. Im Grunde sollten sich die Nachfolgestaaten insgesamt einfach einer gemeinsamen Geschichte bewusst sein, die nicht nostalgisch verschönert, sondern einfach nüchtern Gutes wie Schlechtes bilanziert. Generell gilt es für Österreich, ein guter Nachbar in dieser Region zu sein, Verantwortung zu übernehmen, vielleicht auch zu warnen und kritisch zu sein gegenüber Tendenzen, wie wir sie etwa in Ungarn erleben. Auch ökonomisch ist Österreich für diese ehemaligen Teile der Monarchie ein ganz wichtiger Partner: Wenn ich in der Ukraine unterwegs bin, sehe ich überall Schilder der Strabag, der OMV und anderer österreichischer Unternehmen.

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