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Ein Lehrbuch der Geschichte

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DURCH DIE VERGANGENHEIT ZUR GEGENWART. Ein Lehrbuch der Geschichte. Von Prof. Dr. Roderich Geyer. Österreichischer Agrarverlag, Wien — Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1962. 324 Seiten. Preis 72 S.

Der Verfasser, der an der Höheren Bundeslehranstalt für landwirtschaftliche Frauenberufe in Sitzenberg bei Reidling unterrichtet, hat es unternommen, die Geschichte der Menschheit, angefangen von der Steinzeit bis zur Gegenwart, in großen Linien für die studierende Jugend, aber auch für erwachsene Freunde der Historie auf rund 300 Seiten, unterbrochen durch den Text veranschaulichende Bilder und beschlossen mit einigen Stamm- und Herrschertafeln, darzustellen, ein gewiß nicht leichtes Unterfangen. In dem gut gegliederten und schön auf Glanzpapier gedruckten Buch werden die tragenden Ideen der verschiedenen Zeitalter mit anerkennenswertem Geschick dargelegt, wobei die enge Verbundenheit der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Kräfte klar gemacht wird. Auch für religiöse Werte zeigt sich das Werk aufgeschlossen, und der katholische Standpunkt erscheint gebührend berücksichtigt. Als besonders gelungen muß die Kennzeichnung geistiger und politischer Bewegungen, wie der Renaissance, des Barocks, der Aufklärung, der Klassik, des Biedermeiers, des Materialismus, Marxismus und Stalinismus, der allerdings seitens Geyers eine viel nachsichtigere Behandlung erfährt als seitens der jetzigen Machthaber Sowjetrußlands, endlich des mit Recht scharf angeprangerten Nationalsozialismus erwähnt werden.

Etwas schwächer ausgefallen ist das Schlußkapitel über „Kultur und Kunst der letzten hundert Jahre”. Es wird hier nicht nur das ganze Kunstschaffen zwischen Romantik und Impressionismus mit einigen wenigen kleingedruckten Zeilen geringschätzig abgetan, sondern man gewinnt auch von diesem keine richtige Vorstellung, wenn es heißt, der Impressionismus habe „die akademische Malerei durch das Malen des Sonnenlichtes und der Natur überwunden”. Auch die abstrakte Kunst ist wohl nicht ganz zutreffend charakterisiert durch den Satz: „Immer aber reduziert er (der Maler) auf das Wesentliche, auf einfache Farben und Formen, um den Gedanken um so klarer darzustellen.” Auch an einigen anderen Stellen des Werkes ist die Formulierung keine glückliche. So wird zum Beispiel auf Seite 121 von der „Mission Österreichs” statt von dessen Missionierung oder Christianisierung gesprochen, und im Abschnitt über die Verwaltungsreform Maria Theresias lesen wir den Satz: „An der Spitze stand die Krön e.” Auf Seite 77 soll es „Allmende” statt Almende”, „Bann.tajding” statę „Pantaiding”, und auf Seite 126 „Kornmesserhaus” statt ,rKor - meßfiaus1’ Reißen.’

Die Notwendigkeit, den riesigen Stoff zusammenzudrängen und auf nähere Ausführungen und Einschränkungen zu verzichten, führten zu etlichen irreführenden Verallgemeinerungen und Übertreibungen. Dazu gehören die Angaben, daß die Rechtsprechung während des ganzen Mittelalters auf Grund des germanischen Gewohnheitsrechtes erfolgt sei (Seite 82), daß der Bauernstand seit seiner mißglückten Erhebung von 1525 „im Stande der Leibeigenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dem Gutdünken des Grundherrn überlassen” gewesen sei (Seite 146), und daß die von Rußland beanspruchte Schutzherrschaft über alle Slawen von diesen „meist begeistert” begrüßt worden sei (Seite 243). Es stimmt glücklicherweise auch nicht, daß von der romanischen Wandmalerei „fast nichts” (Seite 88) erhalten geblieben sei. Die negativen Eindrücke Roms auf Luther werden überschätzt, wenn auf Seite 143 gesagt wird, daß ihn die „Wallfahrt” dorthin — es handelte sich in Wirklichkeit um eine Reise im Auftrag seiner Ordensobern — am Papsttum irrewerden habe lassen. Auf den Seiten 200f. Ludwig XVI. dreimal als unfähig zu bezeichnen, ist zuviel.

Dort, wo konkrete Tatsachen unter sparsamer Verwendung von — nicht immer zutreffenden — Jahreszahlen angeführt werden, hat sich in die Darstellung mancher Irrtum eingeschlichen. So ist es nicht richtig, daß man in Italien erst im Spätmittelalter wieder mit dem Studium des römischen Rechtes begonnen habe (Seite 82). Es geht nicht an, in der Schilderung des Feldzuges Napoleons gegen Rußland von 1812 vom „neuen” Zar Alexander zu sprechen, da dieser doch schon seit 1801 regiert hatte. Die Schlacht bei Leipzig führte nicht zur „Vernichtung” des französischen Heeres, und Radetzky war damals kein Stabsoffizier, sondern FML. und Chef des Generalquartiermeisterstabes. Nicht nur Engländer und Preußen wurden mit der „Exekution” gegen Napoleon nach dessen Rückkehr nach Frankreich im März 1815 betraut, sondern an dem neuerlichen Krieg gegen ihn nahmen auch Österreich, Rußland und süddeutsche Staaten teil. Im Abschnitt über den Balkan (Seite 231) werden die „Bosnier” neben Kroaten und Serben als ein eigenes Volk angeführ1- und wird irrigerweise bemerkt, daß im 19. Jahrhundert auch Albanien seine Freiheit erhalten und Rußland 1878 Bessarabien bekommen habe. Im Absatz über den Beginn des ersten Weltkriegs werden der entscheidende Anteil des Zarenreiches an dessen Ausbruch und in jenem über die durch den Vertrag von St.-Germain Österreich gezogenen Grenzen die weitgehende Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes verschwiegen.

Im übrigen wird die Geschichte Österreichs in begrüßenswerter Weise viel ausführlicher als die des Auslandes, aber leider auch nicht fehlerfrei behandelt. Die diesbezüglichen Mängel einzeln anzuführen, ist hier nicht möglich. Vermerkt sei nur, daß die im Kapitel über die Regierung Kaiser Franz Josephs vorkommende Behauptung „Vor allem als Kulturgemeinschaft ist Österreich von unvergleichlicher Eigenständigkeit (österreichische Gotik, österreichisches Barock: österreichische Dichtung und Musik)” bei allem sonst erfreulichen Österreichbewußtsein des Verfassers doch über das Ziel schießen dürfte.

Im Hinblick auf das gute Gerüst des Werkes und viele vortreffliche Ausführungen wäre eine einwandfreie Neuauflage zu wünschen.

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