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Ein Mann flieht aus Polen

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Am Abend des 20. Oktober 1947 fährt ein nur mit einer dunklen Brille, mit Hut und Mantel ausgerüsteter Mann kreuz und quer durch die Ruinenschluchten von Warschau. Mehrmals vertauscht er das Taxi mit der Straßenbahn und umgekehrt. Es gilt die Spur zu verwischen, auf die sich die Jäger bald stürzen werden. Kurze Zeit darauf sitzt in einem schlecht beleuchteten Bahnabteil mitten unter Bauern, kleinen Beamten und Umsiedlern aus den abgetrennten Ostgebieten ein scheinbar in die Lektüre seiner Zeitung vertiefter Reisender. Langsam rattert der Zug durch die Nacht, nach “Westen.

Kurz vor Krotoschyn springt der Flüchtling im Morgengrauen aus dem Zug. Eine bekannte Gegend nimmt ihn auf. Hier war sein Vater geboren, hier war Stanislaw Mikolajczyk, der heute als ein Ge- hetzter zum zweitenmal sein Vaterland verlassen muß, aufgewachsen. Harte, ereignisschwere Jahre lagen zwischen der fernen Jugend und jenem nebeligen Herbstt morgen. Harte, ereignisschwere Jahre des Kampfes, zuerst als Wortführer der polnischen Bauernschaft, später als Ministerpräsident der Exilregierung seines Landes in London und zuletzt als Haupt und Hoffnung aller Polen, die gegen das volksdemokratische Regime der Bierut und Gomolka in Opposition standen. Die letzten Jahr aber wogen doppelt. Als die Westmächt dem Drängen ihres russischen Verbündeten nachgegeben hatten, die rechtmäßige polnische Regierung in London von ihrem politischen Konzept abschrieben und das Lubliner Komitee polnischer Kommunisten anerkannten, war Mikolajczyk auf Drängen seiner amerikanischen und englischen Freunde in die aus den Leuten von Lublin gebildete neue polnische Regierung ii Warschau eingetreten. Was er hier erleben mußte, zerstörte in kurzer Zeit selbst sein niedriggeschraubten Erwartungen. Von Monat zu Monat wurde die Position d Gegenspielers der kommunistischen Statthalter immer enger. Die Wahlen vom Jänt ner 1947, bei denen eine gutgeführte Regie einen überwältigenden Sieg der Regierung vortäuschen konnte, zeigten, daß es ein verlorener Posten war, den Mikolajczyk verteidigte. Als der Herbst 1947 gekommen war, hatte die Regierung alle Fäden in ihrer Hand. Der letzte Hemmschuh konnte fallen: Mikolajczyk. Am 18. Oktober erreichte den Bauernführer die Information, seine Immunität werde in der bevorstehenden dritten Session des Sejm aufgehoben werden, der Militärgerichtshof warte, über sein Urteil sei kein Zweifel. So fiel der harte Entschluß... EinMann wandert über die polnischen Landstraßen, ohne Plan, ohne vorher festgesetztes Relais. Der Zufall, die Fügung führt Regie. Mikolajczyk wagt den großen entscheidenden Wurf. Er gibt sich einem Waldhüter zu erkennen. Der Mann ist ein 1939 von den einmarschierenden Russen verschleppter Ostpole, ein geschworener Gegner des Regimes. Der feste Punkt ist gefunden, auf dem die Flucht aufgebaut werden kann. Die Verbindung zu einer der zahlreichen Schmu£r'banden, die über die offene Westgrenze paschen, wird gegen gutes Geld hergestellt. Auf einem Lastwagen geht es weiter. Die nächste Station ist das Haus des einflußreichsten Kommunisten eines Grenzdorfes, Stelldichein der Grenzwachen, die der Hausherr, wenn es sein ihm über jede Gesinnung gehendes nächtliches Geschäft erfordert, zu berauschen versteht. Während eines solchen Gelages kann Mikolajczyk die Flucht fortsetzen. Begleitet von einem bestochenen polnischen Soldaten marschiert er kilometerweit querfeldein, bis beide auf einen, von einem russischen Feldwebel gelenkten Jeep stoßen, mit dem es durch die Nacht weitergeht, einem unbekannten Ziel entgegen. Satyrspiel nach der großen Tragödie: Mikolajczyk auf der Flucht vor dn \on Moskau gezogenen Marionetten der polnischen Regierung wird von einem nichtsahnenden russischen Soldaten, der nur mit Schmugglern gute Geschäfte zu machen glaubte, über die Grenze gebracht. Doppelte Ironie: der Mann, der durch Jahre ein Führer seines Volkes im Kampf gegen Deutschland war, begrüßt an einem grauen Oktobermorgen di ersten deutschen Aufschriften als Signale seiner Rettung. Ähnliches mußten wohl auch die Männer des polnisdren Reichstages gefühlt haben, die sich vor mehr als hundert Jahren nach der mißglückten großen polnischen Erhebung, nach einem einzigen Jahr der Freiheit, mitten unter Jahrzehnten der Unterdrückung, am 25. September 1831, auf der Flucht vor den Henkern des Zaren nach der verzweifelten Verteidigung von Modlyn, in preußische Gefangenschaft „retteten“. Deutschland bedeutet auch für Mikolajczyk nicht die Freiheit zumindest nicht Ostdeutschland. Auch hier gibt es eine NKWD, hellhörige Agenten und eine wachsame kommunistische Polizei. Auch bringt schon der Rundfunk die Nachricht über 6eine Flucht und die Zeitungen zeigen sein Bild. Am 25. Oktober geht es weiter. In zerlumpten Bauernkleidern, auf einem Leiterwagen, mit der Bahn, zu Fuß. Hierauf drei Tage und Nächte Wartezeit in einer Bauern-kammer. Eine harte Probe für die mehr als angespannten Nerven. Die letzte Etappe beginnt. Wieder Schmugglern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, abermals ein nächtlicher Fußmarsdr. Stundenlang geht es durch ein dichtes Netz von Drahtverhauen. Äußerste Vorsicht ist geboten. Noch war gar nichts gewonnen, noch konnte alles verlorengehen. Endlidi, sehr spät zeigen sich von ferne die Umrisse einer kleinen Stadt. Der Druck aber weicht nicht von der Seele, im Gegenteil — die letzten Meter vor dem Ziel sind jedem Läufer die längsten. Als der Tag anbricht, klopft Mikolajczyk an die Tür eines ihm vorher bezeichneten Hauses. Das verschlafene Gesicht eines englischen Soldaten zeigt sich. Er fragt nach dem Begehren. „Ich bin Mikolajczyk“, ist die Antwort, „ich.. . Die Tür geht weit auf. Der Flüchtling ist gerettet!

Zwei Tage später saß Mikolajczyk in London den Vertretern der internationalen Presse gegenüber. Zwei Tage später war ein Kapitel Nachkriegsgeschichte zu Ende. Zerstoben waren die Reste der gFoßen Illusion von Teheran und Jalta, erledigt die letzte schwache Hoffnung, daß es einer klugen Politik möglich sein müßte, auch jenseits der großen Scheidewand der politischen Systeme und der Geister, die Spielregeln der Demokratie, die Freiheit und gleiches Recht auch für die Opposition fordern, hochzuhalten. „Finis Poloniae!“ Ein französischer Journalist war es, der an das Kosciuszko-Wort erinnerte.

Ein Oberst der Armee Anders, der bei Narvik und El Alamein, vor Monte Cassino und in der Normandie für die Freiheit eines andern Polen scheinbar sinnlos gekämpft hatte, widersprach. Er kannte die leidvolle Geschichte seines Volkes, jener Nation, der ein hartes Schicksal bestimmt, durch die Jahrhunderte einen Kreuzweg ohne End zu gehen — von Golgatha zu Golgatha. Weil er dies alles nur zu gut wußte, glaubte er aber auch felsenfest an die Auferstehung.

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