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Ein Markstein auf dem Wege

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Wien wird in wenigen Tagen der Schauplatz einer bedeutenden Kundgebung des Gewerkschaftsbundes sein, des sechzigjährigen Jubiläums der „Gewerkschaftskommission Oesterreichs“, in der 1893 die völlig zersplitterte Gewerkschaftsbewegung zum erstenmal zusammenfand und aus der sich über viele Wechselfälle hinweg der Oesterreichische Gewerkschaftsbund entwickelte.

Bei diesem dritten gesamtösterreichischen Gewerkschaftstreffen wird am Sonntag, dem 6. September, im Dom zu St. Stephan vom Kardinal und Erzbischof von Wien ein Ponti-fikalamt zelebriert und die Festpredigt gehalten werden.

Ist dies der Markstein in einer Entwicklung, von dem aus der christliche Arbeiter sich als wirklich gleichberechtigtes Mitglied der gewerkschaftlichen Einheitsorganisation betrachten kann? Ihre Idee hat er gerade in kritischer und leidvoller Zeit hochgehalten und durchgesetzt, in der Erkenntnis, daß, zumal in so bewegten Zeiten, nur eine Einheitsgewerkschaft der Arbeiterschaft jenes feste Gefüge bieten kann, dessen sie im eigenen und im Staatsinteresse bedarf. Oder ist die Aufnahme des Pontifikalamtes in das Festprogramm bloß eine sympathische, aber zu nichts verpflichtende Geste, hinter der jene Kräfte wirksam bleiben, die es einst überzeugten Christen aus Gewissensgründen unmöglich machten, Mitglieder jener Gewerkschaften zu sein, die eine materialistische, glaubens- und kirchenfeindliche Ideologie vertraten?

Diese Lähmung der Gewerkschaftsbewegung durch Ideologien und politische Programme, die mit der Freiheit der religiösen Ueberzeugung und den Grundsätzen der freien Gesellschaft unvereinbar sind, hatte in der Vergangenheit zur Folge, daß sich neben den „sozialistischen“ Gewerkschaften, in denen der größere Teil der Arbeiterschaft organisiert war, kleinere Teile in „christlichen“ Gewerkschaften zusammenschlössen, und daß anderseits wieder im breitesten christlichen Raum die Gewerkschaftsbewegung an sich vielfach als etwas grundsätzlich Antichristliches angesehen wurde und heute da und dort noch angesehen wird.

Hier kann allerdings nicht verschwiegen werden, daß sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gegen die neue gewerkschaftliche Bewegung von deren frühen Anfängen an mit allen Mitteln zur Wehr setzte, sei es durch Praktiken, die den Arbeiter, sobald er sich einer Gewerkschaft anschloß, von seinem Arbeitsplatz ausschlössen, sei es selbst durch eine gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung. Für dieses Bürgertum, das dem 19. Jahrhundert sein Gesicht aufprägte, waren die Gewerkschaften der Feind an sich, und es mögen heute, da die Arbeitgeber die Existenz und Funktion der Gewerkschaft längst anerkannt haben, Erinnerungen an jene Zeiten noch weiter fortwirken.

Dabei wurde und wird übersehen, daß sich die marxistischen Parteitheoretiker und die Gewerkschafter nie gut verstanden haben. Als beispielsweise auf dem Internationalen Kongreß in Paris 1889 die Gewerkschaftsvertreter, unter ihnen viele Oesterreicher, gegenüber den revolutionären Marxisten unterlagen, jubelte Engels:

„Recht ist es unseren sentimentalen Versöh-nungsbrüdern geschehen, daß sie diesen derben Tritt auf den Allerwertesten erhalten haben. Das wird sie wohl auf einige Zeit kurieren.“

Und Lenin, der die marxistische Doktrin konsequent vertrat und weiterführte, konnte gewerkschaftliches Denken nicht heftig genug bekämpfen.

„Die meisten sozialistischen Führer in Europa“, so schreibt er zum Baispiel 1919, „stecken in den rein spießbürgerlichen, trade-unionistischen (gewerkschaftlichen) Vorurteilen, beten die bürgerliche Demokratie sklavisch an und verstehen nicht die historische Wendung zur proletarischen Diktatur. Das Proletariat ist außerstande, seine weltgeschichtliche Mission zu erfüllen, wenn es nicht diese Leute davonjagt und aus dem Wege räumt.“ Diese extreme Gewerkschaftsfeindlichkeit kommt in den wilden Beschimpfungen, wie „rechtssozialistische Arbeiterverräter“ oder „Lakaien des Kapitals“ zum Ausdruck, mit denen die sozialistischen Führer von den Kommunisten bedacht werden.

Tatsächlich entsprang der erste Zusammenschluß der vielen kleinen Gewerkschaften vor sechzig Jahren, wie in einem Beitrag der Festschrift des diesjährigen Gewerkschaftstreffens hervorgehoben wird, keineswegs dem Bedürfnis, die Kräfte im Kampf gegen die Unternehmerschaft zu konzentrieren, sondern vielmehr dem Wunsch, eine gemeinsame Einstellung zur internationalen Arbeiterbewegung zu erzielen, als 1892, zum tiefen Befremden und heftigen Unwillen der freien Gewerkschaften, in Glasgow der Versuch unternommen wurde, die Sozialisten von den „Nur-Gewerkschaftern“ abzuspalten. Die Antwort darauf war die Gründung der „Gewerkschaf tskommission Oesterreichs“.

Die Entfaltung der Gewerkschaftsbewegung und ihre Ordnungsfunktion auf dem Arbeitsmarkt bildete den Kapitalismus und sein Gesellschaftssystem weitestgehend um. Dem Konkurrenzmechanismus der individualistischen Wirtschaft wurde an einem entscheidenden Punkt eine Schranke gesetzt.

Dieser Wandel des Kapitalismus und seiner antagonistischen Struktur, der erst zum Abschluß zu bringen ist, erweist aber auch die Unhaltbarkeit einer der Grundlagen der Marxschen Theorie: der Behauptung, daß die Arbeiter zum Verkauf ihrer Arbeitskraft und durch ihre Konkurrenz zu gegenseitiger Lohnunterbietung gezwungen seien; die Folge davon werde eine wachsende Verelendung der Arbeiterschaft und ihre Entwicklung zu einer einheitlichen, mit revolutionärer Dynamik geladenen Masse sein.

Die Gewerkschaftsbewegung zeigt an unleugbaren Tatsachen, daß ein solcher „naturgesetzlicher“ Determinismus der sozialen Entwicklung von der Wirklichkeit selbst widerlegt wird. Im Gegenteil: der wachsende Erfolg der Gewerkschaften zeigte, daß die Arbeiter ihr soziales Schicksal selbst in die Hände zu nehmen und dem anarchischen Kapitalismus ein ordnendes Prinzip • aufzuerlegen vermochten. Die Arbeiter sind nicht mehr Strandgut, Randerscheinung der Gesellschaft, von deren Privilegien sie grundsätzlich ausgeschlossen sind, sondern Träger der gesellschaftlichen Ordnung. Das hat sich im Oktober 1951 eindrucksvoll erwiesen und darf nicht übersehen werden. Die Gewerk-

schaften wurden die Vorkämpfer jener starken Bewegung innerhalb des Sozialismus, die nicht an die unausweichliche deterministische Entwicklung zur Diktatur des Proletariats — ein Dogma des kommunistischen Bekenntnisses — glauben; Gedanken, die sich auf die Wirtschaftsdemokratie hin bewege, also g e-

mischtes Wirtschaftssystem, das teils auf dem Privateigentum, teils auf Staatseigentum unter demokratischen Kontrollen und teils auf genossenschaftlicher Organisation begründet ist.

Im totalitären Staat, welchen Vorzeichens immer, entstand den Gewerkschaften der ge-

fährlichste Gegner. Die Vereinigungsfreiheit der Arbeiter wird praktisch aufgehoben, das mächtigste Mittel der Selbstverteidigung in der Hand der Arbeiterschaft, der Streik, wird untersagt, an die Stelle von mit Selbstverwaltung und Handlungsfreiheit ausgestatteten Selbsthilfeorganisationen zum Schutz und zur Förderung der Arbeiterinteressen tritt die Mono-pol-„gewerkschaft“, die von der Monopolpartei nach dem Willen der Staatsführung zur Beherrschung der nationalen Wirtschaft eingesetzt wird. Freilich darf nicht übersehen werden, daß zwischen diesem Gewerkschaftsmonopol der totalitären Staat en und den gelegen t-lichenVersuchensozialistischer Gewerkschaftsführer, in einzelnen Betrieben für ihre Mitglieder ein echtes Monopol durch terroristische Methoden zu erzwingen, ein grundsätzlicher Unterschied nicht besteht. Eine ungehemmte Verpolitisierung der Gewerkschaftsbewegung kann nur im Gewerkschaftsmonopol der Monopolpartei und damit in der Unterdrückung der gewerkschaftlichen Freiheit enden. Das lehrt die Erfahrung.

Der unge?' ttc Aufstieg der Arbeiterschaft zeichnet sich im Leben des großen Gewerkschaftsführers Anton H u e b e r ab, der alle typischen Bitternisse eines vaterlosen Arbeiterkindes, eines Lehrlings mit einer Arbeitszeit von 5 Uhr früh bis 11 Uhr nachts durchmachte und an den wechselvollen Kämpfen der Arbeiter auf ihrem Weg zur Sonne aktiv beteiligt war. Wer hätte an seinem Beginn vorausgesehen, es werde sich in der Gewerkschaftsbewegung einmal die Ueberzeugung durchsetzen, daß die Verbesserung der Lage der Arbeiter nicht bloß die Frage einer für sie günstigeren Verteilung des Sozialprodukts, sondern auch eine solche der Produktionssteigerung ist! Bei der Wahrung ihrer Sonderinteressen gewinnt die Rücksicht auf das staatliche und wirtschaftliche Allgemeininteresse immer mehr an Raum. Das war nur möglich, weil die Gewerkschaften eine ungeheure Erziehungsarbeit unter der Arbeiterschaft geleistet, qualifizierte Funktionäre und Beamte sowie eigene wirt-schafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsstätten entwickelt haben, aus denen sie die wissenschaftlichen Waffen für den Kampf um den gesellschaftlichen Aufstieg bezogen.

Ueber die Aufgabe, die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft zu schützen und zu fördern, ist die gesellschaftliche Funktion der Gewerkschaft weit hinausgewachsen und gipfelt in der Begründung und Sicherung des sozialen Friedens.

Wenn der Arbeiter sicherlich vieles erreicht hat, wenn er satt wird und nunmehr die Begeisterung, mit der er einst an die Umgestaltung der Gesellschaft heranging, heute

vielfach eher eine Sache der Erinnerung und der Tradition ist als der Lebenshaltung — besteht da nicht die Gefahr der Ver-spießerung? Ihn vor einem solchen Abgleiten zu bewahren, ist heute mit die Sendung und die Chance der christlichen Kräfte innerhalb der Arbeiterschaft, soweit sie sich ihre Handlungsfreiheit nach allen Seiten hin sichern.

So sei der Gottesdienst im Dom zu St. Stephan ein Symbol dafür, daß sich die heutige Arbeiterschaft jenem Geist nicht verschließt, der einst Europa geformt und damit auch der übrigen Welt die Möglichkeiten des Aufstiegs aufgezeigt hat, jenem ewig jungen Geist des Evangeliums, der mitten in den schweren Krisen unserer Tage die große Hoffnung ist.

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