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Ein österreichisches Memento

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Wir setzen im folgenden die 'Veröffentlichung der am 7. März 1938 überreichten Denkschrift Vizebürgermeisters a. D. E. K Winter an Bundeskanzler Schuschnigg fort.

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Wir setzen im folgenden die 'Veröffentlichung der am 7. März 1938 überreichten Denkschrift Vizebürgermeisters a. D. E. K Winter an Bundeskanzler Schuschnigg fort.

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Ist eine neue Arbeiterpolitik notwendig und möglich?

Die positivste Erscheinung der letzten drei Wochen ist, daß zweifellos Kernschichten der österreichischen Arbeiterschaft für Rotweißrot gewonnen worden sind, sofern die Regierung Widerstand gegen die Gleichschaltung leistet.

Diese Kernschfchten sind gerade die sozialistischen, die ganzen, nicht die halben. Gerade die geschulten Ver

trauensleute sind es, dieselben, die das Regime bisher nicht gerade in erster Linie gewinnen wollte. Diese Leute stehen fest, viele andere hingegen schwanken. Die bisherige Arbeiterpolitik in Österreich hat in systematischer Form den Einfluß dieser Kernschichten auf die Masse der Arbeiterschaft untergraben, statt ihn zu pflegen. Die bisherige Lieblingsidee war, an Stelle dieser geschulten sozialistischen Vertrauensmännerschaft die „verläßlichere“ christliche Garnitur zu setzen. Diese Bestrebungen sind auf der ganzen Linie gescheitert. Viele Kräfte, die bisher den sozialistischen vorgezogen wurden, erweisen sich als wenig verläßlich.

Niemand weiß allerdings, ob die Kemschichten heute noch in der Lage sind, die Massen der Arbeiterschaft wirklich zu beeinflussen. Die alte Arbeiterbewegung ist organisatorisch und geistig ein Chaos. Jetzt rächt sich die Schuld derer, die dieses Chaos vorsätzlich bewirkt haben! Österreich wäre sicherer und widerstandsfähiger, wenn es dieses Chaos in der Arbeiterschaft nicht geben würde und wenn die alten sozialistischen Vertrauensleute noch den alten Einfluß hätten. Niemand kann sagen, ob sie ;hn heute noch haben. Wenn aber irgend jemand noch positiven Einfluß auf die Massen der Arbeiterschaft hat, dann sind sie es. Sie sind auch diejenigen politisch geschulten Kräfte, die immer volles Verständnis für die Lage des Staates, für die Tragbarkeit ihrer Wünsche und für das, was politisch möglich ist, gehabt haben. In diesen Tagen zeigt es sich wieder, welches politische Kapital leichtfertig vergeudet wurde, als man den Stock dieser sozialistischen Vertrauensleute, statt für den Staat zu erhalten, auseinandersprengte! Heute zeigt es sich, daß der österreichische Katholizismus

zu schwach ist, diesen Staat alleine zu halten, wie er bisher nach der Theorie des Zweifrontenkrieges es versucht hat. Heute erweist es sich, daß die Politik des Antimarxismus, die Seipel auf seine Fahne schrieb, falsch war, daß die Politik der Ausschaltung der Demokratie, des Parlaments, der Parteien falsch war, wie sie Dollfuß betrieb. Ein Teil des intellektuellen österreichischen Katholizismus hat den Ehrgeiz, im österreichischen Raum die historische Rolle Papens zu spielen, der Steigbügelhalter für das Heidentum des Nationalsozialismus zu sein! Die Arbeiterschaft aber, die allein eine Gegenwehr gegen diese Intelligenzler abgeben könnte, ist unorganisiert,

ohne Führung, vor allem aber ohne Glauben, daß es dem Regime von heute wirklich um eine ehrliche Kooperation zu tun ist.

Die entscheidende Frage ist nunmehr: Kann die österreichische Regierung die neue Bereitschaft der Arbeiter, die in den Tagen zwischen dem 12. und 24. Februar in den besten Köpfen entstanden ist, verwenden: kann sie ihr gerecht werden oder muß sie dieselbe neuerdings versanden lassen?

Die Arbeiter in ihren besten Schichten sind nicht sehr empfänglich für bloße Gefühle. Das Leben m Lohnkämpfen, das sie führen, hat sie nüchtern gemacht. Die Kollektivverträge haben sie dazu bewogen, ihren Vorteil ruhig abzuwägen. Große Worte werden mit Sympathie registriert, aber, wenn ihnen nichts folgen würde, dann würden die kommenden Dinge wohl schlimmer werden, als es die vergangenen waren!

Zwei Formen von positiven Maßnahmen in der Arbeiterpolitik sind zu unterscheiden: langfristige und kurzfristige. Auf lange Sicht gilt es der organisierten NSDAP in der VF ein Gegengewicht zu bieten. Viele zweifeln, ob das überhaupt möglich ist. Jedenfalls wird es auf keinem anderen Wege gehen, als eben der Arbeiterschaft zu diesem Zwecke mindestens dieselben Entfaltungsmöglichkeiten zu gewähren, die der NSDAP zwar offenbar nicht zugestanden, jedoch von ihr kurzerhand ergriffen wurden. Wenn es „österreichische Nationalsozialisten" gibt, wird es unvermeidlich sein, auch „österreichische Sozialdemokraten" zuzulassen, falls es nicht nur eine Frage kurzer Zeit sein soll, bis aus den „österreichischen Nationalsozialisten" der Gau Deutsch Österreich der NSDAP wird.

Das Gegenprogramm auf längere

eine Selektion der Führung zu organisieren, die den Leuten das Gefühl gibt, daß sie selbst sich ihre Führer bestellen. Dies wird nicht möglich sein, wenn man den Gewerkschaften nach wie vor die christliche Führung aufzwingt. Es handelt sich vielmehr darum, einen Nachwuchs aus sozialistischen Kräften heranzuziehen. Dieser soll nicht ernannt, sondern gewählt werden. Andere Kräfte jedoch sollen nicht gewählt werden. Die Wahlen sollen eine Auswahl aus ausgesuchten Kandidaten sein, wobei allerdings von nun ab die besten Köpfe auszusuchen wären.

Eine ähnliche Demokratisierung würde auch die Autorität der SAG sehr stärken. In der SAG wäre es zum Beispiel auch heute noch möglich, in vorbereiteten Urversammlungen die Ausschüsse wählen zu lassen. Stimmberechtigt in diesen Urversammlungen aber wären nur diejenigen, die sich zuerst in schriftlicher Form zur Mitarbeit in den SAG und zur Verteidigung der Unabhängigkeit Österreichs verpflichtet hätten. Ein Mehr an Verpflichtungen sollte man jedoch in Erklärungen dieser Art niemals hineinzupfropfen versuchen!

Es bliebe schließlich wohl erwägenswert, ob nicht auch in der unteren Stufe der VF eine analoge Demokratisierung versucht werden sollte. Es wird wohl nötig sein, in Hinkunft gegenüber volksdeutschen Referaten und SAG stärker als bisher die Gesamtorganisation der VF zu forcieren. Das überwiegende Gros der bisherigen Funktionäre ist für einen politischen Kampf wie den bevorstehenden absolut ungeeignet. Vielleicht würde eine Demokratisierung zuerst der Bezirksleitung (wieder Auswahl aus vorbereiteten Listen) den Funktionärstock wesentlich verbessern. Dies würde zweifellos dann geschehen, wenn man sich entschließen könnte, in den vorbereiteten Listen eine große Anzahl von Arbeitervertrauensmännern aufzunehmen.

In allen drei Fällen — Demokratisierung des Gewerkschaftsbtfndes, der SAG und der Bezirksleitungen der VF — darf man sich jedoch nicht darüber täuschen, daß alle diese Maßnahmen auf längere Sicht berechnet sind und daß daneben dringendst kurzfristige Maßnahmen notwendig bleiben. Das kurzfristige Programm der Arbeiterpolitik liegt in folgendem:

Es gibt in ganz Österreich sicher 50 Funktionäre der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die nicht der ersten, sondern der zweiten, dritten, vierten Garnitur angehörten, die längst einsatzbereit wären, auf deren Einsatz das System aber bisher verzichtet hat und die nach wie vor Symbole in ihrem regionalen. Bereich geblieben sind. Diese 50 Leute wären nicht schwer zu finden und auszuwählen. Wer könnte die VF hindern, diese 50 Leute zu einer Tagung nach Wien

einzuberufen? Was könnte schon geschehen, wenn dann aus dieser Tagung eine Dauereinrichtung würde, eine Art „Verfassungskonvent“ für die Arbeiterschaft, wenn man diesen Begriff (aus dem amerikanischen Verfassungsleben) nicht mißversteht, jedenfalls ein Ersatz für die verlorene Partei in psychologischer und organisatorischer Hinsicht? Dabei könnte diese Körperschaft in aller Öffentlichkeit funktionieren und in der SAG (oder noch besser: direkt in der VF) verankert werden. Die entscheidende Frage wäre die Auswahl dieser 50 Personen, denn in ;hr würde die Kreation einer neuen Führung der Arbeiterbewegung liegen, gleichzeitig allerdings auch das historische Eingeständnis, daß es doch vermutlich falsch war, die alte Führung auseinanderzujagen.

Daneben müßte ein Nachrichten- und Verbindungsdienst organisiert werden. Jedes autoritäre Regime braucht verläßliche Sendboten, die für objektive Berichte sorgen. Insbesondere kann die notwendige Verbindung zwischen Regierung und Arbeiterschaft heute am besten durch einen solchen Nachrichten- und Verbindungsdienst hergestellt werden, der neben Gewerkschaft und SAG funktionieren müßte.

Drittens braucht die Arbeiterschaft eine echte Führung. Dieselbe kann nicht aus einer Einzelperson, sondern nur aus einem kollegialen Organ bestehen, einem Ausschuß, in dem alle Richtungen der Arbeiterpolitik Platz haben und durch entsprechende Personen vertreten sind. Hier liegt zweifellos das schwierigste Problem. Die Arbeiter sind nicht führergläubig, sie brauchen jedoch eine Instanz, die für sie diese Führungsfunktion erfüllt. Die NSDAP steht heute dem Staat durchorganisierter denn je gegenüber. Will der Staat darauf verzichten, Gegengewichte zu schaffen?

„Soziale Arbeitsgemeinschaften" in der Vaterländischen Front.

(Die Veröffentlichung wird int nächsten Blatt abgeschlossen.)

Sicht, das das Eindringen der Nazi in die VF und in die anderen Organisationen verhindern soll, erheischt: Ausbau der Autonomie des Gewerkschaftsbundes auf der einen Seite und Ausbau der SAG in der VF auf der anderen Seite.

Wenn oft gesagt wird, ein stärkeres Heranziehen der linken Kräfte sei vielleicht in Wien möglich, hingegen in der Provinz aus optischen Gründen undurchführbar, so ist darauf zu antworten, daß es in Wien wünschenswert, aber in der Provinz schlechterdings notwendig ist, daß die VF mit der Arbeiterschaft kooperiert. Jetzt erweist es sich auf der ganzen Linie, daß die VF bisher keine politische Organisation war, sondern bestenfalls ein Kataster. Jetzt zeigt es sich, daß die bisher in der VF führenden Kräfte, vor allem aus dem alten christlichsozialen Lager, der Situation keineswegs gewachsen sind, wenn sie nicht aktiven Sukkurs von linker Seite erhalten. Jetzt braucht auch niemand mehr zu fürchten, daß durch das Heranziehen linker Kräfte andere Schichten den Nazi zugetrieben werden. Das hat die Politik von Berchtesgaden bereits gründlichst besorgt, so daß heute Intelligenzler, auch Staatsund Landesangestellte, Gewerbetreibende und andere Mittelständler in hellen Scharen der NSDAP, nicht bloß den volksdeutschen Referaten, zuströmen. Gewiß wird jedes Heranziehen linker Kräfte den Vorwurf der Volksfrontpolitik und des Bolschewismus auslösen. Aber dieser Vorwurf kommt auf alle Fälle. Wer vor ihm Angst hat, der muß eben auf Widerstand verzichten!

Ganz gefährlich wäre es, der NSDAP auf dem Boden des Gewerkschaftsbundes Konzessionen zu machen. Dagegen werden sogar diejenigen nationalen Gewerkschafter rebellieren, die seit 1934 bei der Stange sind. Eher ist es an der Zeit, die NŠDAP-Zellen im Gewerkschaftsbund ernsthafter unter die Lupe zu nehmen als bisher. Wenn die Regierung die NSDAP-Propaganda im Gewerkschaftsbund (unter den Öffentlich Angestellten der Bundesländer) weiter wuchern läßt und hier nicht radikal eingreift, wenn sie in der Beschwichtigung dieser Dinge und gleichzeitig ihrer Weitertreibung den volksdeutschen Referaten selbst eine Chance gibt, dann wird die innerpolitische Gleichschaltung auch ohne Eroberung der VF rapide Formen annehmen.

Die Autonomie des Gewerkschaftsbundes kann ein starkes Gegengewicht werden, wenn sie richtig gemacht wird. Natürlich handelt es sich um keine uferlose Demokratisierung. Wahlen können nur den Zweck einer Demonstration vor dem Ausland und einer moralischen Stützung der gewählten Vertreter bedeuten. Nur gewählte Vertreter sind zu Kompromissen in Lohnverhandlungen fähig! Entscheidend ist somit nach wie vor,

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