6541106-1946_41_09.jpg
Digital In Arbeit

Ein Schisma in der Ostkirche

Werbung
Werbung
Werbung

Nach dem ersten Weltkrieg hat sich in der russisdi-orthodoxen Kirche ein Schisma vollzogen. Die nach Hunderttausenden zählenden Emigranten aus dem russischen Reich, deren Mehrzahl sich in Paris niederließ, sagten sich schließlich im Jahre 1931 unter Führung des Metropoliten Eulogius vom Patriarchen von Moskau, der nach dem Sturze des Zaren n,aller Reussen“ das Oberhaupt der heiligen Synode der russischorthodoxen Kirche geworden war, los und unterstellten sich „provisorisch“ der obersten Gerichtsbarkeit de ökumenischen Patriarchen Photius II. von Konstantinopel (Pha-nar). Gegen diesen dem russischen Kirchenrecht widersprechenden Akt reagierte der Patriarch von Moskau mit Protest und Interdikt über den sdiismatischen Klerus der Emigration. Praktisch trat dadurch keine Änderung der Lage ein, zumal der ökumenische Patriarch von Konstantinopel seine neuen Diözesanen bereitwillig unter seinen Schutz nahm.

Dieser Zustand währte bis in die letzten Jahre des zweiten Weltkrieges, bis die

Normalisierung der Beziehungen zwischen der Union der Sowjetrepubliken und der russischen Kirche den Metropoliten Eulogius veranlaßte, diesem „provisorischen“ Zustand — sobald sich dies durchführen ließe — ein Ende zu setzen und seine und der Westemigration Unterwerfung dem Moskauer Patriarchen und Haupt der russischen Kirche anzubieten. Dieser Akt fand tatsächlich bald nach Kriegsende, im August 1945, in feierlicher Weise in Paris statt, wohin sich der russische Metropolit Nikolaus als Legat des Moskauer Patriarchen begeben hatte. Soweit schien das Schisma, das 14 Jahre gedauert hatte, eine Episode bleiben zu sollen.

Die Dinge nahmen aber eine unerwartete Wendung infolge der Haltung des ökumenischen Patriarchates in Konstantinopel, das auf mehrfache Bitten des Emigrationsmetropoliten Eulogius um amtliche Entlassung aus der „provisorischen“ Unterordnung unter den Phanar, Stillschweigen bewahrt. Der vor einigen Wochen eingetretene Tod des Eulogius bot nun dem Moskauer Patriarchen Alexis die erwünschte Gelegenheit, sein oberhauptliches Recht der Ernennung eines Nachfolgers auszuüben. In seinem Auftrag flogen der Metropolit von Leningrad, Gregor, und der Erzbischof von Orel-Brijansk nach Paris und überbrachten der Emigration am 9. August 1946 den Entschluß des Patriarchen, den Dekan der Metropoliten außerhalb der Sowjetunion, Seraphim, als Nachfolger des Verstorbenen zum Exarchen zu ernennen. Gleichzeitig ließ der Patriarch von Moskau seinem ökumeni-sdien Bruder im Phanar die Mitteilung zugehen, daß damit die kirchliche Organisation der russischen Emigration ihren alten gesetzlichen Lauf wiederaufgenommen habe und der russische Klerus in Westeuropa fortan ausschließlich der Jurisdiktion des Patriarchen von Moskau unterstehen werde. Auch auf diese Mitteilung .hat der ökumenische Patriarch Maximos bisher nicht reagiert. Somit scheint eine Spannung zwischen den zwei Patriarchaten eingetreten zu sein, die durch einen anderen Umstand verschärft wird.

Im Jahre 1943, zu einem Zeitpunkt also, da der Verkehr zwischen Konstantinopel und Moskau durch die Kriegslage unterbunden war, verfaßte der Metropolit Eulogius ein Testament, in dem er den emigrierten Erzbischof Wladimir zu seinem Nachfolger im Todesfalle designierte. Wladimir betrachtet sich nun als redit-mäß:gen Inhaber der Exarchenwürde. Daher bestehen zur Zeit zwei Exarchen der russischen Kirche in Paris, um die sich die Gläubigen scharen. Der Widerstreit der beiden Gruppen schlägt in den Kreisen der Emigration hohe Wogen. Der „legitime“ Exarch Seraphim richtete am 14. August dieses Jahres einen Appell an die Emigration zur Einigkeit und zum Gehorsam gegenüber der „alten russischen Mutterkirche, der geistigen Wiege aller gläubigen Russen“. Die Anhänger des Gegenexarchen Wladimir scheinen sich anderseits weder durch den Appell Seraphims, noch durch die telegraphische Zurechtweisung des ersteren von Seite des Moskauer Patriarchen irremachen lassen zu wollen, der das Testament des Metropoliten Eulogius als jeder Rechtskraft entbehrend bezeichnet und die Unterwerfung Wladimirs unter den „kanonischen“ Exarchen Seraphim begehrt,

Das Schisma besteht allem Anscheine nach, wenn auch in anderen Formen, weiter. Eine tatsächliche Lösung der Kontroverse ist angesichts der scharfen politischen Gegensätze in den russischen Emigrationskolonien des Westens) heute noch nicht abzusehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung