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Digital In Arbeit

Ein soziales Experiment

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Unter den mannigfachen Systemen, eine Beteiligung des Arbeitnehmers am Ertrag seiner Firma so zu sichern, daß gleichzeitig die Rentabilität des Unternehmens erhöht und die volkswirtschaftliche Produktivität („efficiency“) gesteigert wird, fällt der nun seit längerer Zeit bereits erprobte Versuch der französischen Firma „Telem^canique“ in Nan-terre (nächst Malrnaison bei Paris) auf.

Die „Tel6m6canique Electrique“ — zu deutsch etwa „Elektrische Fernmechanik“ — erzeugt elektrische Kontaktanlagen, deren technische Neuartigkeit darin besteht, daß sie es ermöglichen, jedes elektrische Gerät automatisch und auf große Entfernungen zu bedienen. Die Firma wurde 1924 gegründet und hatte damals 15 Arbeiter, heute sind es ihrer etwa 1500 in der Stammfabrik in Nanterre und den Zweigbetrieben in Rueil und Menille-sur-Eure.

Das Unternehmen fällt aber nicht sosehr durch seine gut absetzbaren Erzeugnisse auf, als vielmehr durch seine Sozialpolitik, die es ihm ermöglicht, eine in Europa bisher nur selten irgendwo verwirklichte Atmosphäre sozialen Friedens und relativen Wohlstandes zu schaffen. Von sozialem Wohlstand wird man wohl sprechen müssen, wenn man vernimmt, daß das monatliche Arbeitsentgelt, verglichen mit den Durchschnittslöhnen gleichartiger Arbeitnehmer in anderen Betrieben Frankreichs, im Frühjahr 1951 folgende Höhen erreicht hat *:

lohn und

Prämie sonstiger zusammen Durchschnitt

Franrrs Francs

Putzfrau 34.915 14.000 Hilfsarbeiter 35.595 18.000 angelernter Arbeiter 40.295 22.000— 25.000 Stenotypistin 41.470 15.000— 18.000 Facharbeiter 43.820 25.000- 32000 Verwaltungsangest. 53.605 40.000 Werkzeugmacher 57.640 34.000- 38.000 Werkmeister 110.250 45.000 Konstruktionszeichner 110.250 45.000— 50.000 Ingenieur im Vorrichtungsbau 131.340 60.000 Abteilungsleiter 209.440 70.000— 80.000 Chefkonstrukteur 243.330 100.000—130.000

(Zum Vergleich: für 100 öster. Schilling erhält man ungefähr 1280 Francs, der Kaufkraft nach entsprechen 100 Schilling aber nur ungefähr 950 bis 1000 Francs.)

Man muß sich fragen, wieso es möglich ist, daß ein einzelner Betrieb so abnormal hohe Löhne zahlen kann. Dies hängt zunächst einmal mit folgenden Grundsätzen zusammen, nach denen in der Telemecanique Electrique gearbeitet wird: Herstellung von Bedarfsgütern, die absetzbar sind; Erhaltung der Unabhängigkeit des Unternehmens; Herstellung sozialer Gerechtigkeit im Betrieb; Unterordnung des natürlichen Gewinnstrebens unter den Gedanken des christlichen Gemeinwohls; Verantwortungsfreudigkeit jedes einzelnen Arbeiters und Angestellten; die Sozialpolitik darf die Entwicklung des Unternehmens nicht stören und die Autorität der Direktion nicht beeinträchtigen.

Das sind natürlich theoretische überleyungen, die in dem einen Betrieb realisierbar sind, im anderen nicht. Die praktische Verwirklichung sieht — nach den vorliegenden detaillierten Arbeitsberichten — wie folgt aus:

Jeder Arbeiter und Angestellte hat seinen Grundlohn. Dieser Grundlohn ist der Normallohn, wie er in jedem anderen Unternehmen gleicher Art und Beschäftigung auch gezahlt wird. Zu diesem Grundlohn, auf den jeder Arbeitnehmer Anspruch hat, kommt eine variable Prämie (sie muß also nicht in jedem Monat zu einem so hohen Lohn führen, wie er oben angegeben ist). Dieser Leistungslohn entspricht etwa dem in der Vorarlberger und Tiroler Textilindustrie seit 1946 angewendeten und hervorragend bewährten System der Arbeitskategorien mit Leistungspunkten. Die Leistungspunkte werden nach folgenden (auch in der Vorarlberger Textilindustrie ganz ähnlich aufgestellten) Kriterien gewährt: geforderte Ausbildung für die betreffende Arbeit, geforderte Erfahrung, Kompliziertheit der Arbeit, erforderliche Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit, Wichtigkeit beziehungsweise Gefährlichkeit begangener Fehler (Ausschußware) für den Betriebsablauf, Menschenführung und Zusammenarbeit mit anderen, Verschwiegenheitspflicht, Arbeitsbedingungen, Verantwortlichkeitsgrad usw.

Schon das Leistungslohnsystem setzt eine enge Zusammenarbeit zwischen der Betriebsführung und dem Betriebsrat voraus. Diese Zusammenarbeit geht aber noch viel weiter. Da in Frankreich, ähnlich wie in Österreich, eine ständige Kaufkraftentwertung der Währung vor sich geht, wurde eine gemischte Kommission aus Vertretern der Direktion und des Betriebsrates gebildet, die alle Vierteljahre die Preislage studiert. Sind die Lebenshaltungskosten um mehr als 10 Prozent gestiegen, so wird der Grundlohn in gleichem Maße erhöht. Im Zusammenwirken mit dem Betriebsrat wurde auf Kontrolluhren (Stechuhren) verzichtet. Man hat also Vertrauen in die Pünktlichkeit und den Fleiß des Arbeiters. Dieses Vertrauen ist bisher nicht enttäuscht worden.

Das Unternehmen ist eine Aktiengesellschaft, die in der Hauptsache den Brüdern B 1 a n c h e t gehört. Die Aktionäre erhalten 50 Prozent des Reingewinnes. Ausgehend von dem Gedanken, daß die Arbeiter und Angestellten zwar kein

Geldkapital einbringen, wohl aber das Kapital ihrer Arbeit, erhalten sie, gewissermaßen ebenfalls als Aktionäre, die anderen 50 Prozent des Reingewinnes, wobei die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die fachlichen Anforderungen der Tätigkeit, die Verantwortlichkeit im Betrieb und die betriebliche Wichtigkeit der Arbeitsfunktion berücksichtigt werden. Dadurch ist auch größerer Spielraum nach dem Führungsgrad der Leistung gegeben.

Selbstverständlich müssen bei einem solchen System die Arbeitnehmervertreter Einblick in die Jahresbilanz haben, und zwar schon in die Kalkulationsgrundlagen der Nachkalkulation. Außer den Arbeitnehmervertretern erhalten die Arbeiter und Angestellten selbst turnusweise in Gruppen von 15 Mann Einblick in die betriebliche Kostenrechnung, die Verkaufsverhandlungen usw.

Von Bedeutung ist auch, daß im Gegensatz zu der sonst üblichen 14tägigen Lohnzahlung in Nanterre der Arbeitslohn auch der manuellen Arbeiter monatlich errechnet und bezahlt wird. Der (bezahlte) Urlaub umfaßt einen Monat im Sommer und je acht Tage zu Weihnachten und zu Ostern. Der betriebliche Ausgleich wird dadurch geschaffen, daß wöchentlich über die 48-Stunden-Woche hinaus um zwei Stunden mehr gearbeitet wird selbstverständlich ohne Überstundenentgelt). Von Wichtigkeit sind auch die betrieblichen Erholungseinrichtungen, wie überhaupt der Versuch unternommen wird, saubere Arbeitsstätten inmitten von Grünanlagen nach dem Pavillön-system zu schaffen.

Ob andere Versuche, die in Nanterre zur Schaffung der „sozialen Industrieunternehmung“ gemacht wurden, richtig waren, muß sich wohl erst entscheiden. Zum Beispiel hat man kürzlich beim Bau eines neuen Zweigbetriebes in Rueil zur Selbstfinanzierung durch die Arbeiter gegriffen, indem man es den Arbeitern ermöglichte, die erforderliche Kapitalerhöhung mit eigenem Geld in Form von neuen Aktien mitzufinan-zieren. Davon haben 1100 Arbeiter Gebrauch gemacht, auch die Kommunisten. Ob dies aber generell zu empfehlen wäre, muß noch dahingestellt bleiben.

Immerhin hat sich der soziale Versuch von Nanterre bisher bewährt. Der Betrieb ist rationell gestaltet, die Produktivität gestiegen, die Produktion beträgt das Sechsfache der von 1938. Im Jahre 1950 haben Arbeiter und Angestellte um 48,6 Prozent höhere Bezüge gehabt als solche in anderen vergleichbaren Firmen. Dabei ist der Betrieb bilanzmäßig sehr aktiv gewesen. Zu klären wäre noch, wie weit eine derartige Einzellösung den Arbeitsfrieden des ganzen Landes gefährden kann. Wenn Arbeiter und Angestellte anderer Firmen sehen, daß rund die Hälfte der Arbeiter von Nanterre ein eigenes Auto hat, kann sich bei den anderen leicht Neid und Eifersucht erheben. So schön also eine solche Einzelinitiative ist, so kann sie nur als Beispiel dienen und wird nur bei allgemeiner Durchführung ihr Ziel erreichen.

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