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Ein sozialwirtschaftlidies Experiment

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Noch nie in der Menschheitsgeschichte '..md die soziale Frage so im Vordergrund ?.ie seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Seitdem ist die Forderung nach ihrer Lösung nicht mehr verstummt. Die Ursache lag vor allem darin, daß die Gemeinschaften, die bis dahin bestanden haben, wie die Zünfte, die Gilden oder ähnliche Verbände, zerfielen, und der Mensch ohne Bindung ziellos und unsicher im Leeren umherirrte. Aber auch die Bindungen zu Kirche und Staat wurden lockerer oder hörten ganz zu bestehen auf. Der kleine Handwerksbetrieb, der ehedem noch'das Rückgrat der wirtschaftlichen Ordnung neben dem Bauernhof bildete, wich immer mehr zurück und verlor an Bedeutung gegenüber dem Großbetrieb. Damit gewannen auch die Beziehungen des Menschen zum Betrieb einen ganz anderen Inhalt. Früher war der Betrieb wirklich ein Lebensinhalt, eine Gemeinschaft, nunmehr aber wurde er eine fremde, ja geradezu feindliche Größe, zu der der Mensch oft nur in zufälliger Beziehung stand. Wenn auch im Laufe der Entwicklung durch die soziale Gesetzgebung die Spannungen innerhalb der Volksschichten ausgeglichen und die Klassengegensätze überbrückt wurden, so steht diese Frage trotzdem auch im 20. Jahrhundert noch immer ungelöst vor uns.

Wir bemühen uns heute um die Lösung der Kernfragen: Wie kann der Mensch im Betrieb des 20. Jahrhunderts wieder seinen Lebensinhalt finden, auf welche Weise kann die Struktur unserer Industriebetriebe geändert werden, wiefindet vor allem der arbeitende Mensch wieder die Beziehung zum wirtschaftlichen Geschehen im Betrieb und letzten Endes:

wie kann sich seine derzeit abhängige Stellung, die durch das Wesen unseres Dienstvertrages begründet ist, ändern?

Vor uns liegt der Bericht über ein Experiment, welches das Land Tirol im März 1946 durch die Vergenossenschaftung eines Kohlenbergwerks in Häring geschaffen hat. Am 1. April 1946 gingen die Kohlengruben in Form einer Genossenschaft in den Besitz der Bergknappen über. Die Häringer Kohlengruben haben eine wechselvolle und schicksalsschwere Geschichte. Oft stand es so schlecht um den Betrieb, daß die Gruben geschlossen werden mußten, weil sie einfach nicht mehr rentabel waren. Vor 1938 war das Kohlenbergwerk Häring der weitaus passivste Staatsbetrieb in Österreich. Nach der Besetzung war es der Häringer Betrieb, der mit dem größten Defizit arbeitete und daher aufgelassen wurde. Als nach Kriegsende die Produktion wieder aufgenommen wurde, arbeitete man wieder mit Verlust *. Die amtliche Montanstatistik weist für das Jahr 1937 für den staatlichen Glanzkohlenbergbau Kirchbichl, das ist der Vorgängerbetrieb, eine Gesamtförderung von 44.440 Tonnen pro Jahr auf. Das ergibt eine durchschnittliche Monatsförderung von 3703 Tonnen. Diese Förderung wurde bei einer Belegschaft von 450 Mann erzielt, so daß pro Kopf dieser Belegschaft im Monat durchschnittlich 8,2 Tonnen gefördert wurden. Die amtlichen Förderungsziffern waren vor der Vergenossenschaftung im März 1946: 1790 Tonnen im Monat. Fünf Monate nach Übergang des Werkes in eine Genossenschaft war der Betrieb bereits aktiv. Nach einem Jahr genossenschaftlich geführten Betriebes wurde die Kohlenförderung im Vergleich der Monate März 1946 zu März 1947 um 60 Prozent gesteigert, noch dazu mit einer geringeren Belegschaftszahl, und zwar mit 150 Mann.

Interessanter als die Förderungsziffern ist die Einstellung der Arbeiterschaft zum Betrieb. Diese zeigte sich besonders, als in letzter Zeit der Betrieb sehr stark unter Grubenbränden zu leiden hatte. Der Einsatz des einzelnen Arbeiters war unter Hintansetzung seiner persönlichen Sicherheit so musterhaft, wie er in einem kapitalistisch geführten Betrieb niemals denkbar wäre. Als die Leitung des Betriebes den Arbeitern für diesen Einsatz , danken wollte, antworteten sie: „Unsere Leistung ist ja ganz selbstverständlich, denn es ist unser Betrieb.“ Diese Vergenossenschaftung hat in der Tat die Einstellung der Arbeiter zum Betrieb von Grund auf geändert. Der einzelne Genossenschafter sieht nicht wie ehedem im Betrieb eine feind-- liehe Größe, der er alle Bedingungen des Arbeitsvertrages unter schweren Kämpfen abringen muß, sondern dieser Betrieb ist sein eigener geworden, in dem er nicht mehr für einen fremden Unternehmer, sondern für sich und seine Familie arbeitet. ■Interessant ist auch die Einstellung der Arbeiterschaft zu wirtschaftlichen Fragen. Der Betriebsleiter von Häring erzählt, daß auch der einfachste Arbeiter sich für die Monatsbilanz — im Betrieb wird die Bilanz monatlich erstellt — interessiert und man aus seiner Fragestellung sieht, daß er wirtschaftlich zu denken gelernt hat. Seine politische Einstellung kommt so gut wie gar nicht zum Ausdruck. Immer wieder hört man von Seiten der Arbeiterschaft aussprechen, daß sie mit Politik im Betrieb nichts zu tun haben will. Die vielen politischen Plakate, die zu Beginn des genossenschaftlichen Betriebes angeschlagen waren, sind verschwunden, ohne daß die Betriebsleitung darauf Einfluß genommen hätte.

Der Betrieb heißt: „Kohlenbergbau Häring, registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung“ und wurde auf Grund des Gesetzes vom 9. April 1873 über Erwerbs- und Wirtsdiaftsgenossensdiaften gebildet. Im Genossenschaftsvertrag kommt zwar noch die Bezeichnung „Arbeiter — Angestellter“ vor, aber sie ist nicht mehr am Platze. Die Arbeit im Betriebe ist a n die Mitgliedschaft bei der Genossenschaft gebunden, also es kann nur der Mitglied der Genossenschaft sein, der im Betrieb arbeitet. Es enthält der Genossenschaftsvertrag zwar noch die Bezeichnung „Dienstverhältnis“, aber auch dieser Begriff ist überholt, denn der Genossenschafter steht zur Genossenschaft nicht im Dienst-, sondern im Gesellschaftsverhältnis. Es hat also tatsächlich in diesem Betrieb das abhängige Dienstverhältnis aufgehört. Im Sinne des § 1175 ABGB ist eine Erwerbsgesellschaft durch Vertrag entstanden, und zwar in dem Sinne, daß sich mehrere Personen zusammengeschlossen haben, um „ihre Mühe allein oder auch ihre Sachen zum gemeinschaftlichen Nutzen zu vereinigen“. Unsere Rechtsordnung bietet durchaus die Möglichkeit, den bisherigen abhängigen schuldrechtlichen ■ Dienstvertrag in einen Gesellschaftsvertrag umzuwandeln. Der Arbeiter in Häring ist Mitbesitzer des Betriebes. Er ist im Verhältnis zu seiner Arbeitsleistung am Ertrag des Unternehmens beteiligt. So kommt es auch, daß sich jeder Arbeiter auf Gedeih und Verderb mit seinem Betrieb verbunden fühlt, da er weiß, daß die Höhe seines Gewinnanteiles ausschließlich von seiner eigenen Leistung und der seiner Arbeitskameraden abhängt. Daraus läßt sich auch die vollkommen andersgeartete Einstellung zum Betrieb erklären. Die Folge ist die erwähnte Produktionssteigerung, die den Mitgliedern der Genossenschaft zugute kommt, aber auch der gesamten Wirtschaft.

In den Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften wird die Gewinnbeteiligung nach der vorhandenen Anzahl von Anteilscheinen bestimmt, so daß derjenige, der viele Anteile kaufen kann, auch einen höheren Anteil am Gewinn erreicht. Nicht so aber in

Häring. Dort erhält jeder Arbeiter nur einen einzigen Anteilschein. Der Gewinn aber wird nicht nach Anteilen, sondern nach Leistung und Verantwortung verteilt. Auf •diese Weise hat der Steiger und Obersteiger für seine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe tief unter der Erde einen höheren Anteil am Reingewinn als der Hilfsarbeiter. Wie wird nun der Ertrag der Leistung bestimmt? Als die Genossenschaft gebildet wurde, haben die Arbeiter selbst ihre neuen Löhne beschlossen. Die Höhe dieser Löhne bildet den Schlüssel für die Errechnung der Lohnprämien, also des Gewinnanteils.

Man wäre versucht, daran zu zweifeln, ob dies möglich ist; und doch zeigt die Erfahrung, daß die Löhne und damit auch die Gewinnanteile richtig berechnet wurden, da sich keine nennenswerte Differenz im Betrieb ergeben hat. Denn der einfache Hilfsarbeiter sieht eben ein, daß zum Beispiel die Leistung eines Obersteigers höher gewertet werden muß als seine eigene. Der Betrieb selbst wird, wie der Bericht zeigt, auf demokratischer Grundlage geführt. Freigewählte Arbeiter sind es, die im Genossenschaftsvorstand die Geschäftsführung überwachen. Es ist gewährleistet, daß der Tüchtigste in diesen Vorstand gewählt wird, abseits von Partetpolitik. Freigewählte Arbeiter sind es, die im Aufsichtsrat entscheiden. Alle drei Monate findet eine Generalversammlung statt, in der jeder seine Wünsche äußern und zur Abstimmung bringen kann. Jederzeit kann eine Neuwahl des Vorstandes und des Aufsichtsrates beantragt und durchgeführt werden. Die Bergknappen von Häring haben alle Rechte und Pflichten eines Besitzers und fühbn sich daher für ihr Eigentum verantwortlich.

Es kann daher nicht vorkommen, daß der Anteil am Gewinn auf Kosten der Leistung eines anderen geht. Die Genossenschafter sorgen selbst untereinander dafür, daß Disziplin und Ordnung im Betrieb herrschen. Sie sehen auch darauf, daß ihre Produktion nidit verwirtschaftet wird, wie es ehedem war. Im Bericht ist dafür ein bezeichnendes Beispiel angeführt: Man konnte früher feststellen, daß die Leute an der Waage bei der Kohlenabgabe etwas großzügig waren. Man pflegte reichlich gutes Gewicht zu geben. Wenn ein Kohlenhändler zum Beispiel drei Tonnen Kohle abholte, bekam er meistens einige hundert Kilogramm dazu. Nach der Genossenschaftsgründung hat sich dieses „gute Gewicht“ aufgehört, das nicht weniger als 2000 Tonnen im Jahr ausmachte. Diese 2000 Tonnen sind dem Betrieb Jahr für Jahr verlorengegangen, trotz Kontrolloren, trotz Inspektoren, trotz hoher Verwaltungsbeamter. Bei einer Begehung des Betriebes konnte die Beobachtung gemacht werden, wie genau die Knappen beim Abstützen eines Bruches arbeiteten, wie gut sie überlegten, ehe sie einen Balken einsetzten, und wie sorgfältig sie mit dem Bauholz umgingen. „Ja“, meinte einer, „das Grubenholz ist teuer, und wenn wir einen Balken verschneiden, dann müssen wir ihn praktisch aus der eigenen Tasche bezahlen, er geht ja auf Rechnung unseres Betriebes.“

Der Bericht gibt zu denken und läßt den Gedanken nahekommen, ob man nicht dieses Experiment auch anderwärts versuchen soll und ob nicht dieses Experiment« den Schlüssel zu bilden vermag, um jene neue Betriebsform zu finden, die dem Menschen eine vollkommen andere Einstellung zur Arbeit und auch einen neuen Lebensinhalt zu geben vermag, also geeignet ist, zur Lösung der sozialen Frage beizutragen.

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