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Ein Staatsoberhaupt, das den „Irrtum” von 1938 legitimierte

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Karl Renner macht es einem Historiker mit Geschäftssinn, der seine Forschung auch verkaufen will und also darauf angewiesen ist, einen passenden Termin für die Präsentation seines Buches über diesen österreichischen Politiker zu finden, leicht. Da Karl Renner bei fast allen Eckdaten der österreichischen Zeitgeschichte eine wesentliche Rolle gespielt hat, mangelt es nicht an Anlässen, sich mit diesem „österreichischen Mythos” in Szene setzen zu können.

Daß der junge Historiker Walter Rauscher gerade rechtzeitig zum 50. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik seine politische Biographie über Karl Renner herausgebracht hat, bedeutet jedoch nicht, daß hier weiter unkritisch an diesem Mythos weitergearbeitet wird. Bereits der Beginn macht klar, daß hier die österreichische Geschichte mit einem scharfen Blick betrachtet wird, denn der Mythos Karl Benner steht bei Rauscher bis in die Gegenwart „im Zwielicht”, und nicht nur das: „Der Schatten einer nahezu grenzenlos anmutenden Anpassungsfähigkeit an die jeweilige politische Lage liegt über Renner.”

Der Entschluß, das Buch mit dem Tod Renners, seinem Begräbnis und der Würdigung durch Bundeskanzler Leopold Figl beginnen zu lassen, erlaubt es, die Thesen in Abgrenzung zur Interpretation des Lebens des Mitbegründers des Staates nach der Befreiung vom Faschismus durch das offizielle Osterreich zu formulieren. Denn bei Figl ist der Opportunismus Renners bloß die Fähigkeit, politische Notwendigkeiten zu erkennen. In Figls Totenrede ist Renner auch ein überzeugter Pazifist, und selbstverständlich bleibt der Sozialdemokrat, der 1914 für den „Verteidigungskrieg” eingetreten war, im Schatten der Vergangenheit. Gerade weil Renner in seinem Leben einige kapitale Fehleinschätzungen unterliefen, war er der Richtige, um an der Wiege der Zweiten Republik zu stehen, als „Brückenbauer über Gegensätze”, denn diese Fehler von 1914 und 1938 hinderten ihn, so Rauscher, daran, „die Bevölkerung für ihr Fehlverhalten zu tadeln”. Rauscher weiter: „Der große Irrtum von 1938 schien durch das Verhalten des späteren Staatsoberhauptes legitimiert, das Gewissen beruhigt. Selbst der weise, alte Herr, Vaterfigur vieler Österreicher, hatte sich eben damals getäuscht.”

Penibel zeichnet Walter Rauscher die Stationen des Lebens von Karl Renner nach, vom Sproß, dessen Eltern im Armenhaus enden, über den Schüler, der in Nikolsburg das Gymnasium besuchte und sich vom eifrigen Ministranten und Chorsänger zum Absolventen wandelte, der es in Latein selbst mit Cicero hätte aufnehmen können und jüdische Mitschüler gegen die Flegeleien von Mitschülern verteidigte. Als Student lebt er mit dem Leitsatz „Reich werden (...) galt mir als schmachvoll, als Verrat an meinen Brüdern und Schwestern.” Freilich, von Reichtum war in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch keine Rede, denn sein Inventar waren vier, fünf Hemden und der Rest fand in zwei Koffern Platz.

Daß er damals von der Geheimpolizei bewacht wurde, war wohl Zufall, und das Ergebnis sprach von einem „bescheidenen Menschen”, der ver-

Karl Renner 1919

Die Illustrationen dieser Seite stammen aus einer Wiener Privatsammlung: Renner-Karikaturen von Theo Zasche und Fritz Schönpflug, die 1919 in den „Wiener Stimmen”, dem Spätabendblatt der „Reichspost”, erschienen. Die Zeichnung rechts oben bezieht sich auf die bei der Ankunft der österreichischen Friedensvertragsdelegation bereits geschaffenen Tatsachen (der Text lautete: „Unseren Willkommgruß, meine Herren, haben Sie wohl schon während der Fahrt gelesen?”

dächtigem Treiben fernstehe. In der ersten Reihe marschierte er mit Freunden beim Maiaufmarsch 1893 und schrie nach der „Roten Republik”. Ein Jahr später schrieb er seinen ersten Artikel für die „Arbeiter-Zeitung”. Mit Eintritt in den Dienst des Staates als Bibliotheksbeamter im Parlament warf er seine ideologischen Bedenken erstmals über Bord und entschied sich für eine gesicherte Existenz. Der Weg zum „letzten Monarchisten Österreichs” war bestritten, doch bevor es soweit kam, schaffte es Karl Renner, den Ersten Weltkrieg mit marxistischer Ideologie zu rechtfertigen, denn der Sieg bringe auch dem Proletariat Vorteile nach dem Motto: Je reicher der Kapitalismus, desto mehr wird das Proletariat erben.

Fast wäre Karl Renner noch zum letzten Ministerpräsidenten der Monarchie geworden. Die Ironie der Geschichte spielt in Renners Leben, nachträglich betrachtet, eine der Hauptrollen. Um Kaiser Karl zum Rücktritt zu bewegen, eilte eine kleine Delegation - darunter Karl Renner - ins Schloß Schönbrunn und sah keine andere Möglichkeit, als dem Kaiser von Zimmer zu Zimmer nachzulaufen. Wenige Tage später war Karl Renner der erste Staatskanzler Deutschösterreichs, um nicht ganz ein Jahr später harte Worte gegen das Haus Habsburg parat zu haben.

In Saint Germain mußte Renner die langwierigen Friedensverhandlungen bestreiten und das Ende der Bestrebungen eines Anschlusses an Deutschland und des Verlustes von wesentlichen mit Deutschen besiedelten Gebieten akzeptieren. Das war ein Schlag für Renner, der in „Reichsdimensionen” dachte und dem „das Österreichische bourgeois, katholisch, alpin, provinziell schien”. Mit dem Ende der Koalition im Juni 1920 scheiterte auch sein Regierungssozialismus”, der in der pragmatischen Erkenntnis gipfelte, „lieber auf Grundsätze zu verzichten als prinzipientreu in machtloser Opposition zu verharren”.

Nach den zermürbenden Jahren konnte Renner nun ein gemütlicheres Leben genießen, er liebte die „zutiefst bürgerliche Idylle”, spielte Tarock und schätzte die Hausmusik. Die Gründe, die 1938 zu Renners kapitalstem Fehler führten, kann auch Rauscher nicht klären: „Trotz der widrigen Umstände besann sich Renner neuerlich seiner Lieblingsidee, dem Anschluß Österreichs an das Deutsche

Reich.” Den Terror schien Renner nicht sehen zu wollen, obwohl ein Teil seiner Familie flüchten mußte. Mit der Schrift über die sudetendeutsche Frage, die 1938 nicht mehr gedruckt wurde, die Druckfahnen lagen bereits vor, hatte sich Renner, so Rauscher, zum „Handlanger des Dritten Reiches, zum unbekümmerten intellektuellen Schreibtischtäter degradiert”. Doch nicht nur das, er scheute auch nicht davor zurück, einzelne christlichsoziale Politiker der „landesverräterischen Umtriebe” anzuklagen. Während des Zweiten Weltkrieges gab sich Renner ganz den Musen hin, er dichtete, flüchtete in die Welt der Antike, baute Kohl an, reiste gelegentlich in der ersten Klasse nach Wien, damit er mit der Bevölkerung nicht in Kontakt komme, spielte Tarock mit Freunden im Cafe und freute sich an den populären Unterhaltungsfilmen.

Wie bei der Gründung der Ersten Bepublik schlägt die Ironie der Geschichte zu! Stalin kannte den Sozialisten Renner noch aus jener Zeit, als dieser mit seinen Ansichten zur Na-tionalitätenfrag e die Kritik russischer Kritiker vor der Revolution auf sich zog. Den Bolschewiken galt Renner damals als „sozialverräterischer Führer”, gegen den der „ Vernichtungs-kampf” eine „ernste und heilige Pflicht” sei. Renner trieb in diesen Tagen des April und Mai 1945 seine Unterwürfigkeit gegenüber den Sowjets „bis an die Grenze des Vertretbaren”. Im April sprach er von „Wiedergutmachung und Sühne” für die Opfer, aber im Mai desselben Jahres stellte er die Weichen für die Zukunft: „Es wäre doch ganz unverständlich, daß man jeden kleinen jüdischen Kaufmann oder Hausierer für seinen Verlust entschädigt, daß man aber einer ganzen Klasse ohne Ersatz das Ergebnis ihrer emsigen Sammeltätigkeit und ihrer Organisationsarbeit glatt wegnehmen kann ...” womit er

auf eine Wiedergutmachung des Unrechts von 1934 anspielte. Vom Staatskanzler wechselte der bereits 75jähri-ge ins Amt des Bundespräsidenten, der die Vergangenheitsbewältigung der Österreicher maßgebend beeinflußte und sich dabei als „Meister der Verharmlosung” (Rauscher) erwies, der keinen Grund sah, seinen Antisemitismus zu zügeln.

Die Verehrung für Karl Renner nahm kurz vor seinem Tod rund um seinen 80. Geburtstag unglaubliche Ausmaße an, die bislang nur Kaiser Franz Joseph zuteil geworden waren. Glückwünsche wurden ihm in Form einer Dr. Karl Renner Stafette quer durch Österreich übermittelt, neben einem Fackelzug' überreichten ihm nicht weniger als 108 Gemeinden Ehrenbürgerurkunden.

Der Anspruch des Verlages, „mehr Psychogramm als Biographie”, kann jedoch nicht eingelöst werden, da sich die Hauptperson in den Ereignissen zu verlieren droht und in einigen Fällen zu leichtfertig mit vorschnellen Schlüssen Vorlieb genommen wird. So im Fall der sogenannten „Selbstausschaltung des Parlaments” im März 1933, als Karl Renner mit der Zurücklegung seines Vorsitzes als Nationalratspräsident mit dazu beitrug, „den Parlamentarismus vollends in Verruf zu bringen”.

„Er nützte”, so der Autor, „damit

nicht nur Dollfuß und den Heimwehren, sondern auch dem Nationalsozialismus ...”, so daß es fast so scheine, „als ob er - dem aufreibenden Geschäft des Politikers überdrüssig geworden und mit der Aussicht, sich endlich der Schriftstellerei widmen zu können - über seine Rolle als bloßer Beobachter der Szenerie gar nicht so unglücklich war.”

Hier wie in anderen Fällen, in denen Renner geirrt hat, würde eine Thematisierung der nachträglichen Diskussion und des Verschweigens dem Anliegen des Buches nicht schaden und ihm den monomanischen Charakter nehmen. Da dies nicht geschieht und auch die Rolle Renners als Interpret seiner Handlungen zu kurz kommt, ist vielleicht bei diesem lesenswerten Buch auch von einer vergebenen Chance zu sprechen, mit dieser Biographie gleichzeitig Impulse für reinen Diskurs über die Geschichtsschreibung der Zweiten Republik zu setzen. Dies alles ist vielleicht zuviel verlangt, muß wohl aber angemerkt werden, weil der Autor Walter Rauscher durch die Fülle des aufbereiteten Materials nahe daran wäre, auch diesen Schritt zu schaffen.

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