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Ein Tor zur Welt

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DER FAHRER DES POSTKRAFTWAGENS von Bad Ischl nach Strobl weiß Bescheid auf die Frage, wo die Sommerhochschule zu finden sei. „Da drüben, wenn Sie zwischen den Bäumen durchschauen, sehen Sie ein Haus. Gehen Sie die Allee hinunter, über die Brücke und dann nach links... das Tor ist immer offen“, sagt er und fügt in dem Augenblick, da ich gegen die flimmernde Sonne hinüberspähe, ersichtlich stolz hinzu: „Das ist ein Tor zur Welt.“ Als ich zum Bürglhaus komme, sind seine Gäste eben beim Mittagstisch, aber das Sekretariat arbeitet noch immer, und auf einen telephonischen Anruf hin kommt sofort der Direktor der Sommerhochschule, Professor Doktor Willibald P 1 ö c h 1. In seinem Zimmer erfahre ich zunächst in großen Zügen die Geschichte und die Aufgaben der Sommerhochschule. Sie besteht seit dem Jahre 1949, ist also in ziemlich unsicheren Zeitläuften, wo Materialmangel, Schwierigkeiten der Beschaffung von Heizstoff, keineswegs leichte Aufstellung eines Küchenzettels und eine durchgehende Labilität der Denkweise weiter Bevölkerungskreise regierten, dank des bemerkenswerten Opfermutes von Gelehrten und nicht zuletzt des Vereins der Freunde der Sommerhochschule ins Leben gerufen worden. Nach dem verheerenden Krieg, der so viele Brücken zerstört hat, der unzählige Fäden von Mensch zu Mensch zerriß, setzte sich die neue Institution das Ziel, das Verständnis zwischen Europa und Amerika zu vertiefen, jenseits des Atlantiks das Wissen um die alten und neuen Probleme Europas zu erweitern. Darum wendet sich die Sommerhochschule hauptsächlich an englischsprechende Studenten. Sie sollen vor allem mit den erzieherischen und sozialen Werten Österreichs vertraut werden. Im besonderen will man den Hörern aus Übersee zeigen, was Österreich zur Wissenschaft und Kunst Europas beigetragen hat und welche Mittlerstellung es einnimmt.und wohldurchdacht sein^|f^^^^jSS

Aufgabe gerecht zu werden. Die^“Vorlesungen umfassen die Fachgebiete Rechts- und Staatswissenschaft, freie Künste (mit Vorlesungen über Musik und repräsentative Dichtung Österreichs im 20. Jahrhundert), Geschichte, Kunstgeschichte, Psychologie und deutsche Sprachkurse für alle Fortschrittsgrade. Das Schwergewicht liegt überall auf der Rolle Österreichs und seiner Funktion im mitteleuropäischen Raum, wobei, wie Gespräche mit einzelnen Studenten ergaben, auch die österreichische Geschichte und die Zielsetzung des alten Reiches vor 1918 sowie eine mögliche Erweiterung dieser Ziele unter den geänderten Voraussetzungen viel Interesse finden. Nur ein geringer Teil der Hörer kommt aus Österreich selbst. Im Sekretariat habe ich mir die Kartei zeigen lassen und über die zweite Hälfte des sechswöchigen Kurses, der am 27. August 1960 endet, erfahren, daß die USA 35 Männer und 25 Frauen hierher ■ entsendet haben. Unter den weiteren Nationen befinden sich: England, Kanada, Schweden, Dänemark, Ungarn und schließlich Österreich, bei dem die weiblichen Hörer überwiegen. Die Vorlesungen und Kurse (Seminare) werden in englischer Sprache gehalten, desgleichen die Diskussionen. Die Welterfahrung und Sprachgewandtheit der mit den Fragen in Übersee wohlvertrauten Professoren kommt dem Temperament aller gestellten Fragen mit Schlagfertigkeit nach. Die Sommerhochschule vereint die Grundzüge eines College mit jenen der Wiener Universität, sie steht unter der Oberaufsicht des Akademischen Senats dieser Hochschule. Um die Studenten mit dem Gastland, seiner Kultur und seinen Menschen näher vertraut zu machen, sind Ausflüge ins Salzkammergut (hier scheint Dr. Morton, der getreue Ekkehard Hallstatts, auf), und nach Salzburg (ein dreimaliger Besuch mit je einem Konzert, einer Opernaufführung und einer Vorstellung des „Jedermann“) vorgesehen — die Kosten sind in den Hörer- und Aufenthaltsgebühren inbegriffen. Ein viertägiger Sonderbesuch Wiens liegt außerhalb der Gesamtkosten. Für sechs Wochen sind 6250 Schilling (250 Dollar beziehungsweise 87.10 Pfund Sterling zw bezahlen. Studenten, die in den USA wohnen, melden sich beim Institute of International Education in New York, britische oder irische Studenten beim Österreichischen Kulturinstitut in London, Kanadier bei unserer Gesandtschaft in Ottawa. In Europa selbst erhalten Studenten Informationen beim Centre culturel Autrichien in Paris, im Österreichischen Kulturinstitut in Rom und anderwärts. Es gibt natürlich sowohl unter den Ausländern und verständlicherweise unter den Österreichern Stipendiaten, und in diesem Punkt hat der Verein der Freunde der Sommerhochschule viel geleistet.

UM ACHT UHR MORGENS finde ich mich im Hörsaal III des Seehauses ein, wo Professor Plöchl mit seiner aus der Atmosphäre der Rechtswissenschaft erwachsenen klaren und pointierten Ausdrucksweise über das englischrussische Verhältnis nach dem deutschen Einmarsch in Rußland 1941 und über die Rolle der polnischen Exilregierung sprach. Schicksalsschwere Wochen und Monate ... an der Wand hängen die Karten zum zweiten Weltkrieg ... vor den fünf Fenstern wiegen sich grüne Zweige und aus den Baumkronen dringt zuweilen ein Vogelruf. Die Gesichter der Hörerinnen und Hörer sind gespannt. Man schreibt wie in jeder anderen Hochschulvorlesung mit; das einzige Ungewohnte sind die Aschenbecher und etliche angezündete Zigaretten der Hörer. Wie wichtig es ist, wenn ein Österreicher zu diesem Thema spricht, entnehme ich der Schilderung der Persönlichkeit Sikorskis - da fällt der Ausdruck „Reichsrat“ (Sikorski war Mitglied des alten österreichischen Reichsrates), und wird Wiener Neustadt genannt, in dessen Militärakademie von Sikorski ausgemustert worden war — „Wiener Neustadt, the austrian Westpoint“ erläutert Professor Plöchl.

UNTER DEN VORTRAGENDEN befinden sich ferner bekannte und geschätzte Wissenschaftler: Professor Doktor Alfred Verdroß-Drossberg, Professor Doktor Karl Zemanek, Professor Doktor Richard Kerschagl, ferner die Professoren Benedikt Westphalen, Scheidl, Brezinka — dieser von der Universität Würzburg —, De-mus, Asperger, jlie Doktoren Zelzer, Fellner, .llirf*i Lill||il|4iiilli Puchwein (der dis P^min sechs Uktoren leitet), Pro, ressor Doktor Seidl-Hohenweldern von der Saar-Universität sowie die mit.der Aufsicht über die körperliche Ertüchtigung Betrauten. Zwischen Professoren und Studenten herrscht ein kameradschaftliches Einvernehmen. Wenn es Mittag wird oder die ersten langen Schatten fallen, sieht man auf den Wegen zwischen Bürgl- und Seehaus oft die Studenten in angeregter Konversation, wobei nicht selten aktuelle politische Probleme oder solche wie die jetzt vieldiskutierten Fragen um EFTA und EWG angeschnitten werden (am zweiten Tag meiner Anwesenheit sprach darüber Professor Kerschagl).

DAS MOTORSCHNELLBOOT läuft Parallelkurs zum „Bürglweg“. Die Gemeinden Strobl und St. Wolfgang sind hartnäckig bestrebt, diesen zum Grund der Schule gehörigen Privat-w-eg in einen öffentlichen umzuwandeln. Dadurch soll das Institut vom See abgeschnürt werden (man denkt an die Errichtung eines hohen Drahtzaunes, was die Amerikaner veranlaßte zu sagen, da würden sie nicht mehr kommen, sie würden sich zu sehr an ein KZ erinnert fühlen). Die vor einer Steinbank endende Promenade soll entweder um die Felsnase des Bürgl herum verlängert werden oder — man traut kaum den Ohren — es soll ein Tunnel durch den Felsen lesÄlägen “werden/ Am anderen* linde “will man diese öffentliche Promenade mjttels eitles die Nordostbucht des' Sees überbruclclnderi' Steges mit einem Campingplatz nächst der Straße nach St. Wolfgang verbinden. Das wäre ein Schlag ins Gesicht für alle kulturellen und humanitären Bestrebungen der Sommerhochschule und auch des in der übrigen Zeit hier arbeitenden Bundesstaatlichen Volksbildungsheimes.

MAN SOLLTE GLAUBEN, daß - wenn schon die Landeshauptmänner von Salzburg und Oberösterreich unter dem Druck der interessierten Gemeinden mit Seitenblicken auf die Wählerstimmen weich geworden sind —, daß wenigstens das Bundesministerium für Unterricht eine entschlossene (und ablehnende) Haltung vertrete. Aus einem Briefe aber, den der Bundesminister für Unterricht unter der Geschäftszahl 80.377-10/1960 vom 29. Juli 1960 ergehen ließ, ergibt sich dies keineswegs. „Beim Zustandekommen dieses Projekts“, so heißt es, „erscheint eine dauernde Einbeziehung der Bürglpromenade wohl kaum vermeidbar“. Da in diesem Briefe von einer „einsichtsvollen Stellungnahme“ des bei der kommissioneilen Verhandlung am 9. Februar 1960 in St. Wolfgang anwesenden Professors Zemanek die Rede ist, habe ich nicht versäumt, diesen selbst zu fragen. Er zeigte mir das Originalprotokoll der seiner-sertige'*V(erijandhing, ^aU8 dem eindöutifrühe-vorgeht, daß von einer „einsichtsvollen“ Zustimmung nicht gesprochen werden- - kann/ Ja> Professor Zemanek hat der Öffnung der Promenade und den unweigerlichen Weiterungen daraus unbedingt widersprochen. Hier klafft ein Widerspruch, der aufgeklärt werden muß: wie konnte ein Minister unrichtig informiert werden? Wer hat dafür verantwortlich gezeichnet? Was gedenken die Herren zu tun? Die Stellungnahme zum Brief des Bundesministers für Unterricht — deren Entwurf mir zu Gesicht kam — besagt denn auch: „Der Lehrkörper kann sich leider des Eindrucks nicht erwehren, daß die gegenwärtige Tendenz dahin geht, den Wert der kulturellen Einrichtung im Sinne einer mißverstandenen Förderung des Fremdenverkehrs ganz wesentlich herabzumindern.“ Das ist noch schonend ausgedrückt. Es gehört wenig Phantasie dazu, was sich mit diesem Einbruch in die Bereiche eines ernstem Lehrbetrieb dienenden Instituts künftig ergeben wird: der Rummel der Badegäste — wie jetzt auf den Straßen und öffentlichen Wegen rund um den See —. unkontrollierbares Einsickern von Fremden ins Schulgelände mit allen sanitären Fragezeichen (siehe die Epidemie vom Vorjahr in St. Wolfgang), Errichtung von Badehütten, Alkoholschenken und Kaffeehäusern entlang des durchgebrochenen Weges und. ganz selbstverständlich, eine Verunstaltung des Landschaftsbildes, wie das anscheinend bei uns langsam Mode zu werden scheint. Daß die Änderung des gegenwärtigen Zustandes eine ausgesprochene Wertverminderung des in Bundesbesitz befindlichen 65 Hektar großen Grundes und damit des Staatsvermögens bedeutet, kann ein einfacher Buchhalter ausrechnen.

DRAUSSEN AUF DER HÖHE VOR SANKT WOLFGANG dreht das Motorboot eine Schleife und richtet seinen Bug gegen Strobl. Da drüben, im Sonnenglast verschimmernd, liegen die Häuser des Ortes, liegt das „offene Tor zur Welt“ von Grün umgeben. „Die Studenten“, so hat mir ein Ortsbewohner nächst der Gendarmeriestation auf eine Frage gesagt, „sind ein Stück von Strobl, das nicht abbröckelt, wenn ein Regentag kommt, wie es heuer so viele gegeben hat. Dort drüben“ - und er deutet in der Richtung des Bürglhauses - „scheint immer die Sonne.“ Wird sie, ungetrübt von hektischer Betriebsamkeit, übers Jahr noch leuchten oder gibt es künftig Tor und Sonne nur durch das Temperament Hnes vergitterten Fremdenmanagertums zu sehen?

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