6685784-1962_16_07.jpg
Digital In Arbeit

Ein Volk von Mandolinenspielern?

Werbung
Werbung
Werbung

Viele politische Äußerungen und Reaktionen Italiens müssen unter dem Gesichtswinkel des sehr lebhaften Bedürfnisses nach internationalem Ansehen beurteilt werden. Der Italiener erfährt täglich aus den Zeitungen, daß sein Land wenig anderen nachsteht, diese oft auch übertrifft, und auf der anderen Seite erfährt oder erkennt er, daß seine Beurteilung im Ausland auf überholten Begriffen beruht. Es ist merkwürdig, wie hartnäckig sich dort die Anschauungen von dem „Volk der Mandolinenspieler“ (übrigens spielt in Italien niemand mehr die Mandoline) halten, obwohl Italien zu einem der wirtschaftlich und kulturell lebendigsten Staaten Europas aufgerückt ist.

Mit seiner Flächenausdehnung und seiner Bevölkerung von 50 Millionen steht Italien innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der es angehört, an zweiter Stelle. Aber natürlich genügt dies nicht, um seine wirkliche Position abzuschätzen. Es ist jedoch das Land, das in den letzten Jahren den größten Produktionszuwachs zu verzeichnen hat. Nimmt man für das Jahr 1958 100 als Grundlage an, dann beträgt der Index für 1960 129 für die industrielle Produktion und 119 für die landwirtschaftliche. In der gleichen Zeit hatte die Deutsche Bundesrepublik 121 und 106, Österreich 105 und 113 als entsprechende Indexziffer. Wenn man schon das Schlagwort vom Wirtschaftswunder gebrauchen will, dann ist Italien das Land, wo es in erster Linie angewendet werden dürfte. Dazu hat es einen ganz anderen Ausgangspunkt und ganz andere Widrigkeiten zu überwinden als etwa Deutschland, Frankreich und Belgien mit ihren reichen Mineralschätzen.

Nur als Streiflichter mögen einige Tatsachen festgehalten werden: Italien steht, was die Ausnützung der Wasserkräfte anbelangt, unter den Ländern der EWG und der EFTA an erster Stelle und übertrifft darin auch die Sowjetunion; es steht an der Spitze in der Erzeugung von Wollgespinsten und -geweben sowie in der Rayonproduktion; es besitzt unter den EWG-Ländern die größte Handelsflotte und steht an vierter Stelle unter den seefahrenden Mächten. Den zweiten Platz in der EWG nimmt Italien ein in der Erdölraffination (hinter Frankreich), in der Produktion von Zement, Ziegeln, Zeitungspapier, Zigaretten. Der Energie- und Stahlverbrauch hat sich seit 1937 beziehungsweise 1950 verdreifacht. Die Gesamteinfuhr ist ^von 2424 Milliarden Lire im Jahre 1953 auf 4715 Milliarden im Jahre 1960 angestiegen und in der gleichen Zeit die Gesamtausfuhr von 1507 auf 3650 Milliarden.

Auf den Weltmärkten ist Italien allgegenwärtig. Vor dem Krieg waren italienische Werkzeugmaschinen unbekannt, heute machen sie den traditionellen Produzenten in England und Deutschland starke Konkurrenz. Italien hat im. abgelaufenen Jahr 30 Millionen Ausländer beschuht: Der Wert seiner Schuhausfuhr belief sich auf 70 Milliarden. Ebenso tonangebend ist Italien nach dem Krieg in der Frauenmode geworden. Ob es Paris den Rang abgelaufen hat oder nicht, ist nur noch Geschmacksache, aber keine Frage der Handelsstatistik mehr. Die Espressomaschine für Kaffee hat die Welt erobert.

Die Aneinanderreihung ist eintönig, sie vermittelt jedoch ein im ganzen eindrucksvolles Bild des wirtschaftlichen Aufschwungs Italiens, ein Bild überdies, auf das weite Kreise im Ausland eher anzusprechen pflegen, als dies bei einem anderen, den kulturellen Aufstieg beleuchtenden, der Fall wäre. Denn während in anderen europäischen Ländern die kulturelle Entwicklung keineswegs mit der materiellen Schritt gehalten hat, so daß ganze Nationen an kulturellen Minderwertigkeitskomplexen zu leiden beginnen, war sie in Italien unzweifelhaft vorhanden, und zwar sowohl in „horizontaler“ wie in „vertikaler“ Hinsicht. Gemeint ist damit, daß das Bildungsniveau der Italiener durch die energische und erfolgreiche Bekämpfung des Analphabetentums, auch mit den Mitteln des Fernsehens, im ganzen erhöht ist und daß anderseits kulturelle Leistungen auf den verschiedensten Gebieten vorliegen, die allgemeine Anerkennung in der Welt gefunden haben. Zweifellos ist Italien ein führendes Filmland geworden, nicht hinsichtlich des Pro-duktionsumfanges (in Europa aber auch in diesem), sondern weil die vom italienischen Film zur Diskussion gestellte Problematik die ernsthafteste und interessanteste ist. Hier Namen von Regisseuren und Drehbuchautoren anzuführen, dürfte überflüssig sein. Doch auch die italienische Literatur macht eine fruchtbare Periode durch, noch niemals sind so viele italienische Schriftsteller und Dichter in andere Sprachen übersetzt worden wie nach dem Kriege.

Das Selbstgefühl des Italieners ist mit dem Wissen um die eigenen materiellen und kulturellen Leistungen stark gestiegen, und nicht zu Unrecht. Um so größere Enttäuschung und Verblüffung ruft es in ihm hervor, daß Italien dennoch nicht das seiner wirtschaftlichen und geistigen Potenz entsprechende politische Gewicht zuerkannt wird. In der jüngsten Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Amintore Fanfani finden sich mehrmals direkte oder indirekte Andeutungen in dieser Richtung. Er erklärte sich sicher, daß mit der neuen Wendung in der italienischen Politik — die beginnende Zusammenarbeit zwischen der katholischen und der sozialistischen Partei ist damit gemeint — die Modernisierung des Landes in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht noch größere Fortschritte machen wird, ja, daß die „Öffnung nach links“ eine ihrer stärksten Triebfedern in dem Wunsch hat, Italien zu einer der fortgeschrittensten Nationen der Welt zu machen, „um ein maßgeblicher Verbündeter unter den europäischen und westlichen Nationen zu werden, ein Leuchtturm der Hoffnung für die neuen Völker“.

Oder aber im außenpolitischen Teil seiner programmatischen Rede, wo Fanfani bemerkt, daß „das gewachsene Prestige unseres Volkes unsere Verantwortlichkeit und unsere Verpflichtung zur Initiative vermehrt hat“.

Aus diesem Grunde ist Italien heute wie gestern gegen alle Versuche innerhalb der NATO, ein „Direktorium“, eine Führungsgruppe, zu schaffen, aus der es natürlich ausgeschlossen bliebe. Darum besteht es darauf, daß zumindest eine intensive Konsultation zwischen den Bündnispartnern gepflogen wird. „Reicher an Erfahrung, an Verantwortung wegen des Bestehens von Raketenabschußrampen auf seinem Gebiet, an Kraft und an Prestige, hat Italien immer häufiger seinen Standpunkt bekanntzugeben und immer aktiver an der Diskussion der Probleme teilzunehmen gewünscht, besonders bei solchen, welche die eigene Sicherheit und unseren Frieden betreffen.“ Diese Wünsche sind durchaus legitim, wie niemand der italienischen Regierung das Recht absprechen dürfte, durch eigene Initiativen der Sache des Friedens zu dienen zu suchen, was bei einem positiven Ausgang wieder das nationale Prestige erhöhen würde.

Derlei Initiativen lösen aber merkwürdigerweise stets Verdacht, Mißtrauen und Polemiken aus, wie zum Beispiel Fanfanis Reise nach Moskau im Sommer 1961- oder Italiens Haltung bei der Genfer Abrüstungskonferenz. Die Welle der Entrüstung hat aber stets bei der innerpolitischen Opposition in Italien ihren Ausgang, sie wird durch die mächtige liberale Presse weitergetragen, die in Italien weitestgehend konservativen Finanzkreisen dient, und brandet dann erst gegen die öffentliche Meinung im Ausland, die ihren suspekten Ursp .ung nicht mehr zu erkennen vermag.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung