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Eine „Achse“ Warschau—Prag?

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Wer die Entwicklung der letzten Monate in Moskaus europäischem Vorfeld genau beobachtet hat, der nimmt mit wachsender Deutlichkeit die Konturen einer neuen Gruppenbildung innerhalb des Ostblocks wahr, deren Ziel es allerdings ist, allmählich eine Art eigenständige Sonderrolle im Rahmen des sogenannten „sozialistischen Lagers“ zu spielen: eine „Achse“ Warschau-PragistimEntstehenl Noch vor einem Jahr — unmittelbar nach dem „polnischen Oktober“ — waren die Beziehungen zwischen Polen und der Tschechoslowakei so schlecht wie noch nie seit 1945: die damals strikt moskautreue CSR sah im gomulkistischen Polen einen neuen „Herd der Reaktion innerhalb des Lagers des Fortschritts“, während Provokationen verschiedener Art und Grenzzwischenfälle an der Tagesordnung waren. Prag ging somt soweit, mit Moskau und Pankow einen „Einkreisungsring“ um Gomulka-Polen zu bilden ...

Inzwischen hat sich die Lage grundlegend gewandelt. Gemeinsame Wirtschaftsunternehmungen, regelmäßige Konsultationen in vor allem außenpolitischen Fragen (ihre bekannteste Frucht ist bis jetzt der „Rapacki-Plan“ gewesen!) und ständige Kontakte zwischen den beiden Par teien und Gewerkschaften, die sich noch vor lahresfrist bis aufs Messer bekämpften, sine1 an die Stelle von Pressekampagnen und Grenzzwischenfällen getreten. Gegenwärtig kann man von einer Art Höhepunkt der pol-

nisch-tschechoslowakischen Allianz sprechen!

Der Gedanke engster polnisch-tschechoslowakischer Zusammenarbeit ist nicht neu. Nach Jahren der Feindschaft zwischen dem liberalen CSR-Regime Masaryks und Beneschs und dem konservativen Polen Pilsudskis in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen — der damalige Gegensatz erleichterte später Hitler den Griff nach Prag und Warschau erheblich —, folgte im Londoner Exil des zweiten Weltkrieges zunächst einmal eine Epoche, in der eine föderative Neuausrichtung der ostmitteleuropäischen Nachkriegssituation projektiert wurde, ausgehend von einer polnisch-tschechoslowakischen Union, die dann auch in den südosteuropäischen Donauraum erweitert werden sollte. Schon damals lag d.e Initiative zu jenem „Intermarium“-PIan bei den Polen (diese Föderation sollte schließlich — ausgehend vom polnisch-tschechoslowakischen Kern — von der Ostsee bis zur Adria und dem Schwarzen Meer reichen!), die darin eine zeitgemäße Wiederbelebung einer der Komponenten ihrer historischen „jagiellonischen Idee“ sahen. Dieses Projekt war nicht einmal so sehr „deutschfeindlich“, wie es in deutschen Kr-isen gern bis heute kommentiert wird, als ein Versuch, Zwischeneuropa als eine Art „drittes Europa“ zwischen Deutschland und Rjßlaid zu organisieren. Selbstv. '■ständlich waren natürVch

Die gegenwärtig sehr enge polnisch-tschechoslowakische Zusammenarbeit hat ihre wirtschaftliche Grundlage in Schlesien. Das schlesische Industriegebiet — nach der Ausschaltung Deutschlands aus jenem Raum heute etwa zu drei Viertel polnisches und einem Viertel tschechoslowakisches Hoheitsgebiet — sollte nach ursprünglichen Sowjetplänen, die ab 1954 bereits recht weit vorangetrieben waren, als „exterritoriales Wirtschaftskombinat“ zusammengefaßt werden,- wobei bereits Umrisse einer autono'men schlesischen Staatsbildung zwischen Warschau und Prag auftauchten. Seit Gomulkas Machtübernahme wurden diese Pläne schlagartig gestoppt. Neuerdings tauchen sie in einer neuen Form wieder auf: Schlesien als gemeinsames tschechisch-polnisches Wirtschaftskombinat und vielleicht sogar -Kondominium als Rückgrat der „Achse“ Warschau—Prag! Ein kürzlicher Bericht des polnischen „Wirtschaftsrates“ hatte den Titel: „Schlesiens Bedeutung für die polnisch-tschechoslowakische Zusammenarbeit“! Darin wird eine gemeinsame Investitionspolitik und die gemeinsame Entwicklung und Nutzung der schlesischen Industrie empfohlen . . .

Auch ist im Laufe der letzten Wochen aufgefallen, daß bei sämtlichen zwischenstaatlichen Wirtschaftskonferenzen des Ostblocks — vor allem bei den Tagungen de: COMECON - die Wirtschaftsvertreter Warschaus und Prags stets gemeinsam operierten und oft gemeinsame Pläne

vorbrachten, die den Ansichten und Vorschlägen der Sowjetunion zuwiderliefen, dafür aber immerhin die Interessen der Donaustaaten mitberücksichtigten. Weil die COMECON-Tagun-gen alle hinter verschlossenen Türen stattfinden, weiß man leider zuwenig darüber I

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Sogar die politischen Linien der KP Polens und der CSR haben sich inzwischen genähert: für Polen bedeutete dies natürlich gewisse A b-striche vom ursprünglichen Oktober-Programm Gomulkas, für die CSR allerdings ebenfalls ein Abweichen von ihrem bisher stur stalinistischen Kurs, was in Prag vor allem der Wirtschaftsexperte und Planungsfachmann Nr. 1, Jaromir D o 1 a n s k y, befürwortet. Hat man Dolansky schon lange von orthodoxer tschechischer KP-Seite her vorgeworfen, er wolle in der CSR-Wirtschaft den „Titoismus durch die Hintertüre“ einführen, so schreitet jetzt die KPC im Rahmen der neuen tschechisch-polnischen Annäherung sehr behutsam auf eine Art „gomul-kistisches Ziel“ zu. Natürlich spricht man in Prag nicht von „revisionistischen Bestrebungen“ wie in Polen, aber man betont auch dort neuerdings auffallend eifrig die „Notwendigkeit gewisser Korrekturen, die auf die nationalen Eigenheiten und Erfordernisse der gegenwärtigen Zeit besser abgestimmt sind“. Eine gemeinsame Opposition gegen Schukow, dessen militärisch-

Kfrff (“tl“ +*tni*i0 fs*.or f„*-.-M

machtpolitische Pläne in Ostmitteleuroria Polen und Tschechen gleich lästig waren, brachten in letzter Zeit Warschau und Prag noch enger zusammen. An Stelle der Schukowschen These von der östlichen „Politik der Stärke“ stimmten die Tschechen der polnischen Ansicht von der „Notwendigkeit einer verdünnten Zone in Mitteleuropa“ zu, auf der dann der Rapacki-Plan aufgebaut wurde. Polen und Tschechen stimmten darin überein, daß alles getan werden müsse, um die Politik der absoluten Dominanz der sowjetischen Armee und ihrer Waffen bis an die Elbe-Werra-Linie aufzuweichen ... Der Mann, der diese polnischen Gedanken, den Tschechen plausibel machte und von dem ursprünglich auch die eigentliche Grundidee zum gegenwärtigen Rapacki-Plan stammte, ist doch der gegenwärtig als Rapackis Stellvertreter tätige selbe Josef W i n i e w i c z, der schon seinerzeit im Londoner Exil eifriger Befürworter einer polnischtschechoslowakischen Union als Kern eines zwischen den Weltmächten neutralen „dritten Europa“ war.

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Und nun stimmte endlich auch der Erste-KPC-Sekretär und gegenwärtige Staatspräsident der CSR, Novotny, zu, der bis dahin immer noch der neuen polnisch-tschechoslowakischen Annäherung verhältnismäßig skeptisch gegenübergestanden war. Wenn er nämlich in diesen Tagen von der dadurch möglich werdenden „Bildung eines mächtigen Dammes gegen die Ausbreitung des deutschen Militarismus“ sprach, so mögen in diesen Worten zunächst einmal zwar alte „Cordon-Sanitaire“-Gedanken mitklingen und die in Warschau und Prag nach wie vor bestehende Angst vor einer Wiederkehr des deutschen politischen und militärischen Faktors in die Weltpolitik. Mögen nun viele auch der Ansicht sein, daß Prag und Warschau derzeit — wie schon einmal im Londoner Exil des letzten Kriegest — durch ihre gemeinsame Furcht vor den Deutschen wieder einmal zusammengebracht wurden. Noch wichtiger wird jedoch vielleicht sein, darauf hinzuweisen, daß man in Warschau und neuerdings auch schon in Prag zwar gern gegen die „deutschen Imperialisten“ polemisiert, dabei aber im stillen vielleicht noch mehr als diese d i e Sowjetsmeint! Aus diesem Gesichtswinkel heraus bekommt sowohl der „Rapacki-Plan“ als auch die neue polnisch-tschechoslowakische Allianz einen ganz anderen Aspekt, dessen Mitklingen man im Westen nicht überhören sollte.

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