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Eine Gesellschaft im Fieber

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Der Karneval in Rio kann nicht verdecken, welch ungeheuren sozialen Sprengstoff die Millionen hungriger Straßenkinder in Brasilien bedeuten.

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Der Karneval in Rio kann nicht verdecken, welch ungeheuren sozialen Sprengstoff die Millionen hungriger Straßenkinder in Brasilien bedeuten.

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Die pulsierenden Samba-Rhythmen vor der malerischen Kulisse von Zuckerhut und Co-pacabana prägen europäische Fernwehträume vom Urlaubsland Brasilien. Unter dem Schleier der Exotik verbirgt sich der Überlebenskampf von fast 100 Millionen Menschen (bei einer Bevölkerung von insgesamt 159 Millionen) in einem Land von der hundertfachen Größe Österreichs.

Im Schatten des rauschenden Karnevals leben allein 32 Millionen brasilianische Kinder in Armut. Mit einem Thermometer, welches das Fieber der Gesellschaft anzeigt, vergleicht ein Schriftsteller das Los dieser Kinder, die zu harter Arbeit auf Zuckerrohrplantagen oder in Holzkohlemeilern gezwungen werden oder dem Überlebenskampf auf der Straße ausgesetzt sind. In den Millionenstädten schlittern viele in die Kriminalität, landen in überfüllten Gefängnissen oder sterben eines gewaltsamen Todes. Auch von seiten der Staatsgewalt: Unter den 7.000 Menschen, die im Jahr 1993 von der Polizei in Säo Paulo getötet wurden, waren 2.000 Jugendliche. Im Durchschnitt werden in Brasilien täglich vier Straßenkinder ermordet. Waffengewalt ist mit 36 Prozent die häufigste Todesursache unter Kindern und Jugendlichen.

Die strukturelle Gewalt von seiten der Gesellschaft schürt das Aggressionspotential innerhalb der „massa sobrante”, der Masse der Übriggebliebenen. Unübersehbar ist auch die öffentliche Präsenz der Gewalt. Auf Drogenhandel und Baubüberfälle spezialisierte Gruppen gehören zum Alltagsbild auf den Straßen. Bewaffnete Wächter und scharfe Hunde bewachen Banken und Geschäfte. Mit Stacheldraht und hohen Mauern schirmen sich wohlhabende Bürger von der Außenwelt ab.

Die Wurzeln der sozialen Misere liegen zu einem großen Teil in der Konzentration des fruchtbaren Landes in der Hand weniger Großgrundbesitzer. Ackerland von der 22fachen Größe Österreichs liegt brach, während 12 Millionen Bauern kein Stück Boden besitzen. Kolonnen verarmter Tagelöhnerfamilien strömen auf der Suche nach Arbeit in die Industriestädte des Südens. Dort zerplatzt die Illusion eines neuen Lebens zur Bealität der Favelas, der Elendsviertel, die sich wie Binge um die Städte legen.

Eine weitere Ursache sind die extrem niedrigen Gehälter. Beinahe ein Drittel der Bevölkerung verdient nur bis zu einem staatlichen Min-desllohn in der Höhe von 65 US-Dollar, bei nahezu österreichischen Lebenskosten. 21 Prozent verdienen ein bis zwei Mindestlöhne, während acht Prozent überhaupt kein Einkommen haben. Das bedeutet, daß insgesamt 61 Prozent der Brasilianer zwischen null und maximal zwei Mindestlöhnen zum Leben haben. Ihnen gegenüber steht die schmale Spitze der Einkommenspyramide jener zwei Prozent, die mehr als 20 Mindestlöhne verdienen.

Wiederholt forderten die katholischen Bischöfe Brasiliens eine politische Ethik, die Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption und die Einhaltung der Gesetze. Die Durchführung der verschleppten Landreform, gerechte Löhne und soziale Leistungen für die Familien sollen den verarmten Massen ein menschenwürdiges Leben sichern. Zur Ausbildung christlicher Politiker wollen die Bischöfe heuer im Bundesstaat Bio Grande do Sul eine Schule für Politikwissenschaft, basierend auf der katholischen Soziallehre, gründen.

Einen ständigen Zerfall der Familien in den Favelas durch Not, Gewalt und Alkoholismus konstatiert der seit 17 Jahren in Brasilien lebende spanische Salesianerpater Carlos Bey Estremera. Bereits Vierjährige betteln auf der Straße um Essen. Kinder im Volksschulalter streunen auf der Suche nach eßbaren Abfällen und Handlangerdiensten durch die Stadt. Die Anonymität der Straße läßt sie

Anschluß an Gruppen suchen, in denen sie mit Drogenhandel, Baub und Prostitution konfrontiert werden.

„Anfangs hatten wir große Probleme mit den Nachbarn und der Polizei”, beschreibt P. Carlos Rey den Start des Projektes des Salesia-nerordens im südlichen Bundesstaat Mato Grosso do Sul im Jahr 1988. In Campo Grande, der Hauptstadt mit 600.000 Einwohnern, leben geschätzte 1.000 Kinder auf der Straße. Kaum war die Casa Dom Bosco als offenes Haus für Straßenkinder mitten im Stadtzentrum eröffnet, randalierten Jugendliche im Haus und schlugen die Scheiben ein. Dem bärtigen Salesianer wurde vorgeworfen, Beschützer der Kriminellen zu sein. Tag und Nacht ist das Haus geöffnet, verwahrloste Kinder finden ein warmes Essen, Waschgelegenheit, medizinische Betreuung und einen sicheren Platz zum Schlafen. Und was noch mehr zählt: persönliche Anteilnahme, Verständnis und Geduld. „Es muß dir jemand die Tür aufmachen”, bringt der kleine Straßenjunge Joäo sein Schicksal auf den Punkt.

„Die meiste Zeit verbringen wir auf den Straßen”, umreißt der 38jährige Ordensmann die tägliche Arbeit, an der sich rund 50 Freiwillige beteiligen, „ständig versuchen wir, Kinder kennenzulernen, bevor sie in die Kriminalität schlittern.” Das Vertrauen der psychisch oft geschädigten Kinder zu gewinnen, ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte: Anmeldung in einer Schule, ständige Betreuung, Berufsausbildung bis zur Arbeitssuche und Kontakte mit den Arbeitgebern. Für 30 Jugendliche gibt es Plätze in den Lehrwerkstätten für Buchbinderei, Gläserverzierung, Tischlerei und Korbflechterei. „Aber wir brauchen viel mehr Ausbildungsplätze”, betont P. Carlos das dringendste Problem. Die Pläne für weitere Werkstätten - geplant sind Töpferei, Zuckerbäckerei, Schneiderei und Kurse in Maschinschreiben - liegen fertig in der Schublade. Die Kapazität soll auf 120 l>ehrplätze erhöht werden. Aber die Finanzierung ist ohne Hilfe von außen nicht möglich.

Die Redewendung „ein Kind ist ein Produkt, das kein Geld bringt” charakterisiert die verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Problemen. Schall und Rauch sind die Versprechen der Politiker in Vorwahlzeiten. Soziale Institutionen, mit viel Geld und Medienspektakel eröffnet, bringen wenig Erfolg. „In Campo Grande sind alle staatlichen Sozialeinrichtungen der letzten 15 Jahre wieder untergegangen”, bilanziert Rey die Erfolglosigkeit der Rehörden, „bloß zweitausend Dollar betrug die öffentliche Unterstützung der Casa Dom Rosco im vergangenen Jahr.” Um so wichtiger ist internationale Hilfe. In Österreich kann das Projekt über Missio Austria unterstützt werden.

Wie groß die Erfolgsschancen der Arbeit mit Straßenkindern sind? „80 Prozent der Kinder, die über die Casa Dom Bosco betreut werden, entkommen ihrem aussichtslosen Schicksal”, erzählt P. Carlos Rey mit leisem Stolz in der Stimme. „Aber jedes Kind, das der Gewalt der Straße zum Opfer fällt,” schlägt die Trauer über viel miterlebtes Leid durch, „ist eines zuviel.”

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