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Eine Idee erobert Europa

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Man kann geteilter Ansicht darüber sein, ob die bisher erreichten bescheidenen Ansätze zur Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, wie Montanunion, Europarat, Euratom, Gemeinsamer Markt, je zustande gekommen wären, wenn nicht die ständig drohende Gefahr aus dem Osten den freien Gliedern unserer Völkerfamilie die dringende Notwendigkeit eines engeren Zusammengehens mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt hätte. Die geschichtliche Erfahrung spricht eher dagegen. Das vermindert aber in keiner Weise die historische Bedeutung des Mannes, der vor 3 5 Jahren, nach einem Völkerringen, das die Glut des Nationalismus zur verzehrenden Flamme entfacht hatte, als erster und zunächst einziger in seiner Zeit mit seltenem Mut und unbeirrbarer Zielsicherheit den Gedanken eines gesamteuropäischen Zusammenschlusses über alle nationalen und politischen Grenzlinien hinweg zu einer Devise formte, die überraschend schnell bei Ungezählten einen freudigen Widerhall fand. Wie immer sich das europäische Schicksal weiter gestalten mag, dem Namen Richard Graf C o u d e n-h o v e - K a 1 e r g i s, des Begründers der Paneuropa-bewegung, ist in der Geschichte der supranationalen Einigungsbestrebungen auf unserem Kontinent ein ehrenvoller Platz gesichert. Schon deshalb kann die Autobiographie dieses Bannerträgers einer großen Idee die Aufmerksamkeit weiter Kreise beanspruchen. Der Sohn eines hochgebildeten, typisch österreichischen Aristokraten, auf dessen Ahnentafel nur wenige europäische Nationen nicht vertreten sind, und einer noblen Japanerin, schildert hier, von der frühesten Jugend beginnend, sein persönliches Leben und den Werdegang des Werkes, dem er sein Leben gewidmet hat; das Auf und Ab eines Weges, auf dem auch die schwersten Rückschläge und Enttäuschungen, wie sie das Steigen der nationalsozialistischen Flut und deren katastrophale Folgen mit sich brachten, seinem unerschütterlichen Optimismus nichts anhaben konnten. Fast unübersehbar ist die Reihe bedeutender Persönlichkeiten, die ihm auf diesem Wege begegnet sind; allein schon die Aufzählung der führenden Staatsmänner, mit denen er in Verfolgung seines Ideals Kontakt aufnehmen und in freundschaftliche Beziehungen treten konnte, füllt Seiten. Seine unermüdliche Initiative, sein ehrlicher Enthusiasmus, und nicht zuletzt sein persönlicher Charme haben eben manche Türen geöffnet, die ihm mangels soleher Gaben verschlossen geblieben wären. Um o erstaunlicher sind die Mängel an historischer Genauigkeit und Objektivität und an Urteilsfähigkeit gegenüber Menschen und Ereignissen, die in seinem Buch vielfach zum Ausdruck kommen.

Die vertrautesten Ratgeber des Erzherzogs Franz Ferdinand sind sich nie klar darüber geworden, welchem der verschiedenen mit ihm besprochenen Projekte für eine Neugestaltung des Reiches er den Vorzug gab, und ob er überhaupt einen bestimmten Plan im Sinne hatte, den er nach seiner Thronbesteigung in Angriff nehmen wollte. Coudenhove ist besser informiert. „Es war bekannt“, so schreibt er, „daß der intelligente und energische Thronfolger die Reichsreform (welche? Der Ref.) unmittelbar nach seiner Thronbesteigung durchführen wollte, noch bevor er durch seinen Krönungseid gebunden war. Er war entschlossen, einen eventuellen ungarischen Widerstand mit den Waffen niederzuschlagen . ..“ Ebenso zuverlässig ist die Auskunft, die uns da über die inneren Verhältnisse der Habsburgermonarchie erteilt wird. „Diese Völkergemeinschaft war brüchig geworden... Die westliche Reichshälfte (wurde) vom deutschsprachigen Adel Oesterreichs geführt. Die Slawen, die eine Mehrheit der Bevölkerung bildeten, waren theoretisch gleichgestellt, aber praktisch Staatsbürger zweiten Ranges. Dieser Zustand konnte nicht andauern...“ Man könnte diese Zeilen als eine Jugendtorheit übersehen, hätte Coudenhove sie vor vierzig Jahren geschrieben, zu einer Zeit, da es als fortschrittlich galt, das versunkene Reich als einen „Völkerkerker“ zu verunglimpfen und Wilsons vierzehn Punkte mit ihrem fiktiven Selbstbestimmungsrecht der Völker als der Weisheit letzten Schluß zu preisen. Das Buch führt aber bis in unsere Tage und es enthält keine Andeutung, daß der Autor irgendwann sein damaliges Urteil revidiert hätte: etwa damals, als er während des zweiten Weltkrieges an der Universität von New York einen Lehrauftrag — man denkt nicht gerne daran — für neue europäische Geschichte erhielt. Ob er seinen Hörern die Wahrheit mitgeteilt hat, daß im alten Oesterreich die „theoretische“ Gleichstellung der verschiedenen Nationalitäten mit geradezu haarspalterischer Gewissenhaftigkeit in der Praxis verwirklicht worden ist, und daß, wie allein schon die Ministerlisten des Kaisers Franz Josef, die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Landtage und die Schematismen der Beamtenschaft und des Heeres beweisen, die behauptete Führerstellung des „deutschsprachigen Adels Oesterreichs“ ein Märchen war? Man muß es bezweifeln. Unzweifelhaft hingegen ist die Bedeutung des Stillschweigens, mit dem er in seinem Buch über die Behandlung der Nationalitätenfrage in einem Lande hinweggeht, wo man mit ungleich mehr Recht als im alten Oesterreich die Lage der Bevölkerungsmehrheit, in diesem Falle bestehend aus Deutschen, Slowaken, Magyaren und Ruthenen, als die von Staatsbürger zweiten Ranges bezeichnen konnte; in der tschechoslowakischen Republik. Freilich, nichts konnte Coudenhove ferner liegen, als ein Wort der Kritik an der Schöpfung des „Präsident-Befreiers“. Seine Verehrung für Thomas G. Masaryk, „diesem Weisen auf dem Königsthron“, wie er ihn nennt, war bedingungslos und unbegrenzt. Von der entscheidenden Rolle, die Masaryk bei der Zerstörung des Vielvölkerreiches, zum Unheil gerade auch des tschechischen Volkes, gespielt hat, ganz zu schweigen — selbst sein Verhalten gegenüber den Slowaken, denen die von ihm gebildete Exilregierung im Vertrag von Pittsburgh gleichberechtigte Partnerschaft mit den Tschechen in der zu gründenden Republik zugesichert hatte, nur um mit diesem Abkommen dann ebenso zu verfahren, wie zu Kriegsbeginn Bethmann-Hollweg mit dem „Fetzen Papier“ der belgischen Neutralitätsakte, selbst das konnte Coudenhove nicht veranlassen, seine Begeisterung für „die größte moralische Autorität unter den Staatsmännern Europas“ ein wenig zu sordinieren.

Damit ist die Liste der, gelinde gesagt, fragwürdigen Punkte in diesem Erinnerungswerk noch lange nicht erschöpft. Sie werden den aufmerksamen Leser weniger stören, wenn er sich vor Augen hält, daß da nicht ein ernster Historiker zu Worte gekommen ist noch auch ein gewiegter weltpolitischer Beobachter, dessen Prognosen Beachtung verdienten, sondern ein routinierter und überaus eifriger Propagandist, der im Dienst seiner Sache sorgsam bemüht war, mit einem deutlichen Seitenblick namentlich auf sein amerikanisches Publikum, in keinen Konflikt mit landläufigen Meinungen oder Vorurteilen, wie irrig sie auch sein mögen, zu ge

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