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Eine Milchmädchenrechnung

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Habe die Kirche in der Sowjetunion die Möglichkeit, ihre Lehren zu verbreiten, also das zu machen, was man hier wohl „religiöse Propaganda“ nenne? war unsere nächste Frage. Die Kirche könne Propaganda in der Kirche machen, nicht aber in der Öffentlichkeit. Und lächelnd fügte Herr Makarzew hinzu, in der Sowjetunion gebe es 20.000 Kirchen der verschiedensten Religionsgemeinschaften. Wenn in jeder dieser Kirchen täglich eine Predigt gehalten werde, dann ergebe dies ein Ausmaß an religiöser Propaganda, das die atheistische Propaganda der verschiedenen Organisationen um ein Vielfaches übersteige. (Wir haben Herrn Makarzew darauf nicht aufmerksam gemacht, daß wir dies für eine Milchmädchenrechnung halten. Abgesehen von der von uns nicht überprüfbaren Zahl von 20.000 Kirchen ist es bestimmt nicht so, daß dort täglich eine Predigt gehalten wird, und wenn am Sonntag gepredigt wird, dann sind das, wie wir uns erkundigt haben, reine äomilien, die sich auf die Schrift-juslegung beschränken, auf keinen ?all also Propaganda sind oder Abwehr der antireligiösen Propaganda.)

Auch Bücher und Zeitschriften cönne die Kirche herausgeben. Natürlich könnten sie nur in staat-ichen. Druckereien gedruckt und das ?apier müßte vom Staat gekauft werden. Vertrieben könnten sie nur n den Kirchen selbst, nicht aber in ler Öffentlichkeit werden. Tatsächlich haben wir in Zagorsk die Zeit-ichrift des Moskauer Patriarchats ;esehen, eine wissenschaftlich-theo-ogische Fachzeitschrift, und in dem Veuen Jungfrauehkloster in Moskau wurde uns ein orthodoxer Kirchen-salender für das Jahr 1967 als 3eschenk überreicht.

Wie steht es um den Religions-interricht? Die Religion, so werden wir nochmals belehrt, sei in der Sowjetunion die Privatangelegen-leit der Menschen. Es gebe keinen Religionsunterricht für Kinder, i weder in der Schule noch auch pri-■ vat. Die Eltern, und nur die Eltern.

haben das Recht, die Kinder religiös ; zu erziehen. Wer immer versuchen würde, Kinder, soferne sie nichl seine eigenen sind, religiös zu unterweisen, mache sich strafbar.

„Und warum?“ fragen wir. Weil dies eine Vergewaltigung des Gewissens der Kinder bedeuten würde. Also so ist das. Kinder den Glauben zu lehren, ist eine Vergewaltigung des Gewissens. Später sahen wir in Leningrad, wie zahlreiche Schulklassen ins Atheistenmuseum geführt wurden. Was ist dann das? Das ist „wissenschaftliche Aufklärung“, hätte man uns wahrscheinlich geantwortet.

Werden die Kinder in der Schule atheistisch beeinflußt? Es gibt keinen speziellen Atheismusunterricht in der Schule, aber natürlich werden die Kinder in den „wissenschaftlichen Fächern“ nach den Ergebnissen der Wissenschaft unterrichtet.

Wir erwähnten, daß wir schon in Kiew ein atheistisches Museum beim Höhlenkloster besucht hätten und daß uns die Gegenüberstellung von Religion und Wissenschaft nicht überzeugt hätte, ja daß wir die dort gezeigte atheistische Propaganda etwas primitiv fänden. Herr Makarzew ging sofort darauf ein. Das glaube er uns gerne. Die atheistische Propaganda sei sehr schwierig zu führen und in der Sowjetunion selbst werde diese Propaganda oft wegen ihrer Primitivität sehr stark kritisiert.

Wir haben auf unserer Fahrt nach Kiew und auch durch Moskau sehr große neue Stadtviertel gesehen, in denen es aber keine Kirchen gebe. Warum eigentlich nicht? Herr Makarzew meint, in Moskau gebe es 44 orthodoxe Kirchen, das würde genügen. Theoretisch wäre es aber auch möglich, neue Kirchen zu errichten. Es müßten sich nur 20 Gläubige finden, die ein entsprechendes Gesuch an die staatliche Behörde richten.

Wie viele neue Kirchen sind in den letzten zehn Jahren in der Sowjetunion errichtet worden? So genau könne er das nicht sagen, antwortet Herr Makarzew. Wir lassen nicht locker. „Und ungenau?“ Die Übersetzung dauert ein wenig länger als sonst, wir glaubten auch eine leichte Spur von Verärgerung in seiner Stimme zu entdecken: Soviel er wisse, zwei, eine in Riga und eine in Taschkent.

Wie steht es mit der Priesterausbildung? Es gebe keine staatliche Begrenzung für die Priesterausbildung, diese Frage gehe allein die Kirchen an. Auch die Neuerrichtung von Priesterseminaren sei Sache der religiösen Institutionen. Es sei aber in letzter Zeit kein Ansuchen für die Neuerrichtung eines Seminars an den Staat gerichtet worden. Die Katholiken hätten, wie wir wüßten, zwei Priesterseminare, die Orthodoxen drei. Die Juden hätten vor kurzem ein Ansuchen zur Errichtung einer Rabbinerschule gestellt. Dieses Ansuchen sei genehmigt worden, bisher aber hätten sich anscheinend keine Kandidatenn dafür gefunden. Die Baptisten würden wahrscheinlich jetzt ein Seminar für den Priesternachwuchs errichten.

Wovon erhält sich die Kirche? Nur durch freiwillige Spenden der Gläubigen. Es gehe ihr materiell gar nicht schlecht. Gibt es Steuern für die Kirche? Nein, von den Kirchenspenden werden keine Steuern eingehoben, wohl aber müßten die Kirchengemeinden für die vom Staat gemieteten Kirchengebäude eine Versicherungssteuer bezahlen. Die Kirchengemeinden müßten auch für die Renovierung dieser Gebäude aufkommen, auch die Bezahlung der Priester sei Angelegenheit der Kirchengemeinde. Die Gemeinde werde dann einen Priester haben, wenn sie ihn „standesgemäß“ erhalten könne. Auf den „standesgemäßen“ Unterhalt der Priester scheint also der Staat zu schauen.

Sie leben nicht schlecht, die Priester bei uns, meint Herr Makarzew. Sie verdienten zwischen 100 und 300 Rubel im Monat. (Offizieller Umrechnungskurs: ein Rubel — 29 Schilling). Und für all das muß die Gemeinde aufkommen, für die Miete und Instandhaltung der Kirchengebäude, für alle materiellen Erfordernisse des Kultes und schließlich auch für die „standesgemäße“ Bezahlung der Priester. Dafür müssen sich mindestens 20 Bürger mit ihrer Unterschrift verpflichten. Kann es da überraschen, daß nicht viele Anträge zur Neuerrichtung von Kirchengemeinden gestellt werden? Ja, daß viele sich auflösen, weil sie die steigenden Lasten nicht tragen können? Und dann wird eben wieder eine Kirche geschlossen.

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