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Eine Schöpfung der österreichischen Medizin

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Mag es im allgemeinen zweckmäßiger sein, dei sich nicht der Tagespresse bei Erörterung ärzt- Ar licher Fragen zu bedienen, so soll doch ein Ti weiterer Leserkreis auch von den bereits fest- Inj stehenden Fortschritten der Medizin in großen ser Zügen unterrichtet werden. Dies trifft besonders als für Arbeitsgebiete zu, die in den Bereich der ma Gesundheitsbetreuung des ganzen Volkes fallen, de und vor allem dann, wenn gerade die öster- Mi reichische Medizin dabei auf eine besonders mi verdienstvolle Leistung hinweisen kann. pi

Impfungen sind eine Angelegenheit, die heut- zutage weiteste Volkskreise angehen. Haben de sich doch meist ganze Personengruppen wie vo Familien, Schulen usw. Impfungen zu unter- de; ziehen, die vielfach auf behördliche Anordnung P 1 unter Zwang durchgeführt werden. füi

Am meisten bekannt ist wohl die Blattern- M; impfung (Variola) vor Vollendung des dritten zu Lebensjahres, die in Oesterreich durch Gesetz und Verordnungen geregelt ist. In den letzten Dezennien wuchs die Zahl der Impfun- tu gen gegen die verschiedenen Infektionskrank- Se heiten infolge des rapiden Fortschritts der Im- an munitätslehre immer mehr an. Dazu kommt die Re politische Unruhe unserer Zeit, die ja in vieler de Hinsicht — es sei nur an die vielen Umsied- Er lungen und die damit verbundene Bevölkerungs- r’c Bewegung erinnert — geordneten hygienischen se Verhältnissen hinderlich im Wege steht. Aber au nicht nur der Krankheitsverhütung, also der vc Schutzimpfung, kommt eine besondere Bedeu- di tung zu, auch die therapeutischen Impfungen SP bei schon bestehender Erkrankung gelangen bei di vielen Krankheiten mit ausgezeichnetem Erfolg m zur Anwendung. Ti

Schon durch diesen doppelten Anwendungs- Zweck ist die weittragende Bedeutung der ‘ Impfung und ihre Auswirkung auf die Gesundheitsverhältnisse der Bevölkerung ersichtlich. e Die gesundheitliche Betreuung seiner Bürger, V( zu der auch die Impfungen zu rechnen sind, ist eine der wichtigsten Aufgaben jedes Kultur- ‘ Staates. Auch die Bereitstellung der Mittel — dazu zählen auch die verschiedenen Impfstoffe — ist staatliche Aufgabe. Ihre Erzeugung erfolgt j in den Impfstoffgewinnungsanstalten, die sowohl über die notwendigen Laboratorien, vor 1 allem aber auch über ausgedehnte Tierstallun- “ gen, teils für Kleintiere, teils für Pferde und d Kälber usw., verfügen müssen. Nicht nur aus Prestigegründen, sondern auch durch in den Krankheiten selbst gelegene Umstände, wie ihr plötzliches, oft explosionsartiges Auftreten und ihre außerordentlich rasche Ausbreitung, ist £ jeder größere Staat genötigt, um auf diesem Gebiete autark zu sein, sich eine eigene Produktionsstätte für Impfstoffe, eine Impfstoffgewinnungsanstalt, vielfach auch serotherapeutisches Institut genannt, einzurichten. Da sich auf dem Gebiete der Immunitätslehre, auf der ja die gesamte Impfkunde und ihre praktische Verwertung aufgebaut ist, immer Fortschritte auf Grund neuer Erkenntnisse ergeben, muß sich eine solche Anstalt auch gleichzeitig mit zahlreichen einschlägigen Problemen beschäftigen, also auch über einen wissenschaftlichen Betrieb in einer eigenen Forschungsabteilung verfügen.

Und so drängt sich für jeden, der die Bedeutung der Volksgesundheit erfaßt hat, die Frage auf: wie steht es auf diesem Gebiete in Oesterreich?

Darüber gibt eine Broschüre „Bundesstaatliches Serotherapeutisches Institut in Wien 1894—1954“ von Dr. Josef Teichmann, die vor kurzem als Jubiläumsausgabe erschienen ist und deren Kenntnis auch in Laienkreise gelangen sollte, einen genauen, jeden Oesterreicher auch aufrichtig erfreuenden Aufschluß. Dieses Institut, das in diesem Jahre seinen 60. Geburtstag beging, hat im Verlauf von sechs Dezennien vielfach seinen Namen geändert; es war und ist aber auch heute noch die das ganze Bundesgebiet — aber nicht nur dieses — betreuende Impfstoffgewinnungsanstalt.

Die Gründung dieses Instituts geht auf die Arbeiten des Begründers der Serumtherapie, E. v. Behring, zurück, der zusammen mit dem Japaner Kitasato Ende 1890 in einer Arbeit über Diphtherie- und Tetanusschutz bei Tieren berichtete, daß Tiere durch bestimmte Injektionen gegenüber einer Infektion mit diesen beiden Krankheitserregern geschützt waren, also nicht infiziert werden konnten. 1894 machte Behring auf der 60. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Wien Mitteilung über seine ausgezeichneten Erfolge mit der von ihm gewonnenen Heilserumtherapie bei Diphtherie, das sind Injektionen von Pferdeserum, das von Pferden stammte, die mit dem Diphtherieerreger oder seinen Produkten vorbehandelt wurden. Es ist das große Verdienst des österreichischen Forschers Prof. Richard P a 11 a u f, die Notwendigkeit und den Wert für die Volksgesundheit dieser therapeutischen Maßnahmen auch für Oesterreich sofort erkannt zu haben.

Paltauf hatte schon in den vorangegangenen Jahren die wichtigsten bakteriologischen Institute des Auslandes besucht und auf Grund der gesammelten Erfahrungen eine Schutzimpfungsanstalt gegen Tollwut — der außerordentlich gefährlichen, meist tödlich verlaufenden, nach dem Biß eines wutkranken Hundes auftretenden Erkrankung des Menschen — in Wien eingerichtet. Durch seine wiederholten Bemühungen setzte er es alsbald im Ministerium durch, daß auf Grund seiner Vorschläge mit der Gewinnung von Diphtherieheilserum begonnen wurde. Dazu diente einerseits die Prosektur des Rudolfspitals, die Paltauf leitete, anderseits wurden die zur Impfung notwendigen Pferde im damaligen k. u. k. Tierarznei-Institut, der späteren Tierärztlichen Hochschule, untergebracht.

Besonders der Kinderarzt und Leibarzt der kaiserlichen Familie, Professor von Wider- h o f e r, der damals das St.-Anna-Kinderspital leitete und sich von der „prompten und oft verblüffenden Wirkung" dieses neuen Diphtherieheilmittels selbst überzeugte, war ein Förderer des Paltaufschen Projektes. Mit Hilfe staatlicher und privater Mittel, wobei auch die Presse ihre Unterstützung lieh, wurde es möglich, an die Errichtung einer eigenen, bescheidenen Anstalt zu schreiten. Schon 1895 wurde mit einer Massenproduktion begonnen, und bereits 1897 sank die Sterblichkeitsziffer der an Diphtherie erkrankten Kinder von 48.26 Prozent auf 19.6 Prozent. Paltauf, dem dieses rasche Aufblühen des Instituts zu verdanken war, erkannte die Dringlichkeit der Erforschung weiterer wissenschaftlicher, vor allem chemischer Probleme, zu deren Bearbeitung er E. P. Pick — seit 1938 im Merckschen Insti tut in Amerika noch immer tätig — in den Kreis seiner Mitarbeiter aufnahm. Es folgte die Herstellung eines Serums gegen Tetanus (Starrkrampf) und eines Scharlachserums, das auf die Ideen des Kinderarztes Paul Moser zurückging und an dem die Kinderärzte, unter ihnen der später so berühmt gewordene Professor Clemens v. Pirquet, dann Escherich, Pospischil und Schick, der heute noch in Amerika lebt, interessiert waren. Die derzeit geübte Scharlachimpfung geht auf diese Forschungsergebnisse zurück.

Der immer mehr sich vergrößernde Umfang der Arbeiten verlangte auch einen räumlichen Ausbau. Für einen Neubau der Institute für Hygiene, dann für allgemeine und experimentelle Pathologie, die auch Räume für das Serotherapeutische Institut enthalten sollte, hatte Paltauf schon 1900 die Pläne vorgelegt. 1908 wurde der Neubau in Betrieb genommen und die Paltaufsche Gründung erhielt die Bezeichnung „Serotherapeutisches Institut". Seine Aufgabe war die Herstellung der verschiedenen Heilseren (Diphtherie, Dysenterie, Tetanus usw.), dann aber auch solcher für diagnostische Zwecke, ferner auch von Impfstoffen sowie die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete der Infektionskrankheiten und damit der Seuchenbekämpfung.

Den Beweis seiner Leistungsfähigkeit erbrachte das Institut im ersten Balkankrieg bei der Bekämpfung der Cholera im bulgarischen Heer Ihre Feuerprobe bestand die Anstalt im ersten Weltkrieg, als das Institut unter dei Leitung Professor Paltaufs, ¿er zum Generalstabsarzt ernannt wurde, im Winter 1914 15 den Kampf gegen die verschiedensten Infektionskrankheiten, vor allem Dysenterie, Cholera und Typhus, siegreich bestand. Iiotz dieser Leistungen, die es ermöglichten, die Dezimierung der Kampftruppen zu verhindern u d da Hinterland vor der Durchseuchung zu bewäu-en, brachte das Ende des Weltkrieges auch den 2 . sammenbruch des Instituts. Das so klein gewordene Oesterreich konnte die finanziellen Mittel nicht aufbringen. Abermals gelang es aber dem Gründer Paltauf durch Ueberführung der Anstalt in ein privates Unternehmen (Verpachtung an die „Oesterreichische Serumgesellschaft"), den drohenden Untergang abzuwenden; damit ging aber die kommerzielle und wissenschaftliche Leitung vom österreichischen Staat in private Hände über.

Paltauf verschied im folgenden Jahr nach einer außerordentlich erfolgreichen Tätigkeit, dreißig Jahre nach der Gründung. Das Institut blieb aber nicht verwaist zurück. Eine Schule von Fachmännern war unter Paltauf herangewachsen, unter ihnen vor allem Rudolf Kraus, der nach seiner Rückkehr 1924 — er war kurz vor dem ersten Weltkrieg (1913) nach Südamerika, und zwar zuerst nach Buenos Aires, dann nach Sao Paolo als Direktor serotherapeutischer Institute gegangen — die Leitung der Anstalt nach dem Tode Paltaufs übernahm. Von seinen Mitarbeitern wurde weiter an der Erforschung der Infektionskrankheiten gearbeitet und neue Gebiete, wie die Tuberkulose und auch die Syphilis, einbezogen. Die zahlreichen, aus dem Institut erschienenen Arbeiten und die großen wissenschaftlichen Werke schufen dem Institut einen Weltruhm. Mit dem neuerlichen Abgang Prof. R. Kraus’ nach Chile, 1929, führten seine Schüler die Anstalt bis 193 8, in welchem Jahr infolge der staatlichen Umwäl-zung die I. G. Farben-Industrie die Nachfolgerin der Serum-Union wurde und das Serotherapeutische Institut G. m. b. H. den Gesamtvertrieb der deutschen Behring-Werke übernahm. Damit hörte die seit der Gründung bestehende Selbständigkeit des Instituts auf, der Betrieb wurde wesentlich vereinfacht und ganz auf die momentan drohenden Kriegsverhältnisse eingestellt. Durch Bombentreffer schwer beschädigt, durch Kriegseinberufungen im Personalstand dezimiert, brach mit dem Ende des zweiten Weltkrieges die kritischeste Zeit für das Institut seit seinem Bestehen herein. Ohne finanzielle Mittel und ohne jede Unterstützung dastehend, galt es, den Betrieb wieder in Gang zu bringen. Durch die Zusammenarbeit von Arbeitern und Angestellten, soweit sie noch am Leben und an das Institut zurückgekehrt waren, konnte mit einem Notbetrieb begonnen und mit der Herstellung von Typhus-Paratyphus-Impfstoffen an die Gesundheitsämter auch Geld für die Lohnzahlungen beschafft werden. Unter verschiedener Leitung, wie Professor Kaiser, dann Professor Eisler, der ja zu den Veteranen des Instituts gehörte und schon unter Paltauf mit dem österreichischen Nobelpreisträger Landsteiner gearbeitet hatte, gelang zum zweiten Male der Wiederaufbau. Schon 1947 konnte das Institut bei der Bekämpfung der Choleraepidemie in Aegypten erfolgreich durch die Lieferung großer Serummengen eingreifen.

Wenn auch bereits im Jahre 1945 das Institut wieder eine staatliche Einrichtung wurde, so dauerte es doch noch acht Jahre (bis zum 1. Oktober 1953), bis es wieder in kommerzieller und wissenschaftlicher Hinsicht dem Bundesministerium für soziale Verwaltung (Volksgesundheitsamt) unterstellt wurde und damit jene Verhältnisse hergestellt waren, die Paltauf vor sechs Dezennien in emsigster Arbeit geschaffen hatte.

Es ist weit mehr als eine Dankesschuld, welche Dr. Josef Teichmann, der als langjähriger Mitarbeiter, dann auch als Geschäftsführer verdienstvoll wirkte, mit seiner Broschüre ihrem Gründer und seinen Mitarbeitern abstattete und die Anstalt durch die Zusammenstellung seiner Geschichte der Vergessenheit entriß. Die Geschichte des Instituts ist ein Denkmal für eine Schöpfung der österreichischen Medizin, die durch ihre, über den Erdkreis zerstreuten Schüler den Ruhm der Wiener Institution verbreiteten und damit im Kampfe gegen die Seuchen im Frieden, im Krieg und in der größ ten staatlichen Verwirrung Unfaßbares für die Völker der Erde leisteten.

Dieses Instituts und seiner Mitarbeiter zu gedenken und mit seinen Leistungen einen weiteren Leserkreis vertraut zu machen, ist der Zweck der Broschüre Teichmanns. Möchten aber auch diese Zeilen, denen die Teichmann- sche Veröffentlichung zugrunde liegt, dazu beitragen, gelegentlich des 60jährigen Schaffens dieser Anstalt alle maßgeblichen Stellen an diese Leistungen zu erinnern, damit sie sich auch der zwingenden Verpflichtung zur schuldigen Mitarbeit an der Wiederherstellung dieser einzigartigen österreichischen Schöpfung bewußt werden.

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