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Eine Stadt wartet auf Fortschritt

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Die Wiener Gemeindeverwaltung beabsichtigt für Mitte November 1960 gemeinsam mit der Handelskammer eine Enquete über Fragen der Stadtplanung. An den Beratungen sollen Vertreter der zuständigen Bundesministerien, der Kammern, des Städte- und Gemeindebundes, des Instituts für Raumplanung und der Gemeinde Wien selbst teilnehmen. Wenn auch diese Enquete als Beratung über Fragen der Stadtplanung bezeichnet ist, wobei unter anderem die für die Wirtschaftskapazität der Bundeshauptstadt wichtigen Probleme einer Verlagerung alter Betriebe aus dem Stadtkern und die An-siedlung neuer Betriebe in den Randbezirken zur Sprache kommen: mit dieser Stadtplanung ist die Ordnung des Wiener Verkehrs unlösbar verbunden. Weder wird man alte Industrien abziehen und anderwärts neu anlegen können, noch die mit der Industriesiedlung zusammenhängenden Fragen der raschen Zu- und Abfahrt der Arbeiter sowie des wirtschaftlichen Transports der Rohstoffe und der verarbeiteten Güter lösen können, ohne den Wiener Verkehr zu ordnen. Es würde sich allerdings angesichts der Dringlichkeit ein rascheres Tempo empfehlen, als man es bisher gepflogen hat. Im Jahre 1955 war die Wiener Straßenverkehrsenquete; im Jahre 1957 erst wurde die Verkehrsplanungskommission ge-gründet, die im Jahre 1958 ganze zwei Sitzungen abgehalten hat. Zwei Jahre nach diesen Sitzungen haben wir in Wien erst drei Autobuslinien, welche Straßenbahnlinien abgelöst haben. *

Das Wiener Straßenbahnnetz wurde zu einer Zeit gebaut, als der Kraftwagenverkehr keine Rolle spielte. War man nach dem Kriege so weitblickend, daß man deshalb die Straßenbahnlinien M, N, P, V, 3, 4, 15, 18 G, 34 und 51 gänzlich verschwinden ließ? Daß man fünf Linien teilweise stillegte, beziehungsweise verkürzte: H 2, 52, 58, 59 und 80?

Den Ring benutzten im Jahre 1935 insgesamt zwölf Linien (A, B, C, D, F, J, L, M, N, O, P, und V) — davon blieben sechs Linien übrig (A, B, D — diese nur an Werktagen —, J und O sowie T — verkürzte F-Linie). An manchen Punkten ist die Verschlechterung der Verkehrslage auffallend. Bei der Rotundenbrücke sind die Linien H 2, L, M und 4 verschwunden, übrig blieb nur die Linie 78. Das bedeutet eine Verminderung um 75 Prozent. Ähnliches gilt für die Verbindung nach Hütteldorf; von drei Verbindungsmöglichkeiten besteht ungeschmälert nur noch eine.

Sehr verwickelt steht es um den Weg von Döbling (Hohe Warte) nach Floridsdorf: einst hatte man eine gerade Verbindung; jetzt muß man erst mit der Linie G 2 (Intervalle zwölf Minuten) bis zur Markthalle auf der Nußdorfer Straße stadteinwärts fahren, dort aussteigen und eine weitere Straßenbahnlinie benutzen. Aus eins mach zwei: aber in der Minuspotenz. Eine Bahnhofsverbindung, wie sie der D-Wagen vermittelt, wurde praktisch in drei Teile zerlegt. Ein Reisender von auswärts müßte sich deshalb überlegen, an Sonntagen in Wien am Franz-Josefs-Bahnhof anzukommen und zum Südbahnhof weiter zu wollen.

Vor dem ersten Weltkrieg konnte man vom Schwarzenbergplatz mit einer einzigen Linie bis nach Mauer fahren. Heute liegen die Geleise nächst d/m Hochstrahlbrunnen und die Zuführung hinter dem Museum der Stadt Wien unbenutzt; man hat erst eine Haltestelle mit dem 71er oder D zur Zweierlinie zu fahren; muß dann wieder eine Haltestelle bis zur Stadtbahnstation Karlsplatz rollen, dort die Stadtbahn nach Hietzing zu nehmen, und bei der Hietzinger Brücke, das dritte Mal umsteigend, erreicht man den 60er-Wagen. Jede Verbindung von der Felberstraße, der Johnstraße, der Reinigasse südwärts nach Hetzendorf kommt einem Rösselsprung gleich. Erst benützt man die Linie 10, dann („wahlweise“) entweder mit der Linie 58 zur-Linie 63^ von dieser zur Linie 8 und von dieser zur Linie 62 (fünf Linien); oder 10, 60, 62. Wer vofi Schönbrunn in den Prater möchte, muß vier Linien benützen (früher gab es eine direkte, den L-Wagen). Dergleichen Beispiele könnte man noch mehrere nennen.

Verkehrsmittel Nummer 2 ist die Stadtbahn. Man vergißt ganz, daß es sich hier um eine elektrifizierte einstige Vollbahn handelt, die vorher eingebunden war in das System des Wiener Nahverkehrs. Vom Hauptzollamt konnte man direkt nach Neulengbach, von Hütteldorf nach Klosterneuburg und Tulln fahren. Heute glaubt man besonderes Aufsehen zu erregen, verspricht man einen Schnellbahn-Nahverkehr nach Möd-ling, nach Stockerau: alles Dinge, die damals infolge des organischen Zusammenhanges keine Debatte auslösen konnten, fuhr man doch vom Hauptzollamt oder von Hütteldorf (über die Verbindungsbahn) zum Nordbahnhof und konnte am gleichen Bahnsteig, den Zug wechselnd, in die Umgebung Wiens nach Norden fahren.

Von dem einstigen Vollbahnsystem (es konnte auch von Vierachsern befahren werden und wurde es) sind neben der elektrifizierten Stadtbahn die verwahrlosten Linien der Vorortebahn (Hütteldorf—Ottakring—Heiligenstadt), die Verbindungsbahn (Hütteldorf—Meidling—Hauptzollamt—Praterstern—Nordbahnhof) und die Um-fahrungsbahn (Donauländebahn) Hetzendorf— Maxing—Inzersdorf—Oberlaa—Klein-Schwechat— Kaiser - Ebersdorf—Ausstellungsstraße—Heiligenstadt übriggeblieben. Im Jahre 1910 gab es an Eisenbahnen in Wien für den Personenverkehr (ohne Süd-, Ost- und Franz-Josefs-Bahn) insgesamt eine Streckenlänge von 114 Kilometern, heute gibt es 51 Kilometer (davon 26 Kilometer Stadtbahn). Im Jahre 1910 konnte man auf diesem Netz 73 Bahnhöfe erreichen, heute sind 38 übriggeblieben. Man sonnt sich im Vorgenuß der Schnellbahn (Meidling—Hauptzollamt—Praterstern—Floridsdorf), hat den Stummel Hauptzollamt—Praterstern mit Dampfzügen wie vor fünfzig Jahren in Betrieb und verweist Neugierige auf etliche Garnituren Schnellbahn, die jetzt im Nahverkehr auf der Westbahn eingesetzt sind. Die Dampfstadtbahn und die Vorortebahn haben 1914 innerhalb Wiens 45,295.998 Personen befördert, 15 Prozent des damaligen Straßenbahnverkehrs. Trotz der Elektrifizierung ist es nicht gelungen, dieses Prozentverhältnis zwischen Straßenbahn und Stadtbahn wesentlich zu verschieben. Schuld daran ist die Abschnürung dieser Stadtbahn.

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