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Eine Strae zur Sonne

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Rom, April 1955 Wie die Bienen um die Königin drängen sich in diesen Tagen dichte Menschengruppen um ein neues Automodell, das in den Straßen der italienischen Städte aufgetaucht ist. Dem Wunschtraum aller Italiener, um billiges Geld einen Kleinwagen mit den Attributen eines „großen“ kaufen zu können, kommt der „Fiat 600“ sehr nahe: er kostet weniger als 24.000 Schilling und wird dadurch auch für den Mittelstand erschwinglich. Schon am ersten Tage der Präsentierung sind in Rom allein 6000 Fahrzeuge vorgemerkt worden. Die Fiatwerke haben den Ausbau ihrer Produktion bis zu einer Leistung von tausend Wagen täglich in Aussicht gestellt. Eine weitere Produzentengruppe will die alten und ins Hintertreffen geratenen Bianchiwerke in großzügiger Weise modernisieren und ebenfalls eine ähnliche Leistung erreichen.

Im Jahre 1938 gab es in Italien 538.000 Motorfahrzeuge, 1950 waren es 1,3 Millionen, heute sind es drei Millionen und im Jahre 1962 werden es sechs Millionen sein. Es gibt aber andere Schätzungen, die für jenen Zeitpunkt mindestens neun Millionen Motorfahrzeuge voraussehen. Es erhebt sich, wie von selbst, eine angstvolle Frage: und die Straßen? Wer die Unfallstatistik - 4000 Tote jährlich! -oder die endlosen Wagenkolonnen vor Augen hat, die etwa zwischen Genua und Mailand oder zwischen Mailand und Bologna an gewissen Tagen und Stunden im Schritt hintereinander fahren müssen, weiß, daß die Transportkapazität des italienischen Straßennetzes bereits jetzt vielfach überlastet ist. Will man die zunehmende Motorisierung nicht gewaltsam, durch neue Steuern nämlich, unterdrücken, was eine paradoxe Lösung darstelle würde, bleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder entschließt man sich zum Bau eines neuen, modernen Netzes von Autobahnen, oder man behält seinen Wagen besser in der Garage.

Italien ist das erste europäische Land gewesen, das mit dem Bau von Autobahnen begonnen hat. Aber es blieb in den hoffnungsreichen Anfängen stecken. Dem Automobilisten stehen heute nur einige hundert Kilometer Autobahn zur Verfügung, und . auch diese nehmen sich neben den moderneren in Deutschland und in den Vereinigten Staaten ungefähr so aus wie ein Daimler aus dem Jahre 1910 neben einem Rennwagen aus dem Jahre 1955. Einigermaßen bequem und gefahrlos kann man nur von Turin über Mailand nach Brescia reisen, wenn man von den kurzen Straßenstücken zwischen Mailand und Como, Padua und Mestre, Pisa und Florenz, Rom und Ostia, Neapel und Pompeji absehen will.

Dem Touristen mag aufgefallen sein, daß er in Rom selten einen Wagen aus Mailand und umgekehrt sehen kann. 90 v. H. aller Kraftfahrzeuge des Nordens überschreiten niemals die Apenninen. Das rührt von der „geographischen Ungerechtigkeit“ her, die Italien eine viermal größere Längenausdehnung als Breite beschert hat. Eine leistungsfähige Nordsüdverbindung wäre daher hier notwendiger als in jedem anderen Lande, das im Reiseverkehr eine seiner Haupteinnahmsquellen besitzt.

Die Lösung des Straßenproblems ist dringend, mehr noch, sie ist unaufschiebbar geworden. Dieser Einsicht verschließt sich niemand, am wenigsten die Regierung. Aber da erhebt sich eine zweite, “nicht weniger angstvolle Frage: Wer soll die neuen Straßenbauten bezahlen? Der Minister für öffentliche Arbeiten, Giuseppe R o m i t a, hat ein Programm ausgearbeitet, das für 1700 neue Straßenkilometer eine Ausgabe von 1300 Milliarden Lire vorsieht. Italien würde damit freilich an die Seite der fortgeschrittensten Nationen treten, aber fast zehn Milliarden D-Mark, wenn auch auf zehn Bilanzjahre aufgeteilt, stellen eine fabelhafte Summe dar, die der Staat nicht ohne Auflage neuer Steuern verfügbar machen kann. Der Romita-Plan wendet sich daher an die Privatinitiative, der die Hauptlast der Finanzierung übertragen werden soll, während sich der Staat mit einem Beitrag von 33 v. H. des notwendigen Investitionskapitals begnügen soll. Der Minister hat zunächst 120 Milliarden Lire zur Verfügung gestellt bekommen, praktisch wären es also 360, mit denen das gigantische Werk begonnen werden könnte. Für die Deckung seiner Ausgaben wollte der Staat die Verkehrs- und Benzinsteuer erhöhen (Italien hat jetzt schon den zweifeihaften Rekord, des höchsten Benzinpreises in Europa). Aber das Parlament hat am 20. Jänner nein gesagt. Es meinte, daß dem Steuerzahler nicht neue Opfer zugemutet werden könnten, ohne daß er vorher wenigstens erfahre, wofür er bezahle. Mit anderen Worten: erst soll das Programm beschlossen werden, dann die Steuer. So stehen die Dinge heute: der Staat wird keine neuen Steuergelder erhalten, aber der Automobilist auch keine neuen Straßen.

In Wirklichkeit ist das Bild weniger düster und die Hoffnungen auf die neuen Autobahnen weniger unbegründet, als es erscheinen mag. Wo der Staat versagt, vermag die private Initiative einzuspringen. Es liegen verschiedene Vorschläge vor, ein sehr eleganter zum Beispiel ist von der größten Erdölgesellschaft der Welt, von der Standard Oil Co. of New Jersey, gemacht worden. Sie hat sich erbötig gemacht, auf eigene Kosten (175 Milliarden!) die 738 Kilometer lange Autobahn Mailand—Rom—Neapel in nicht mehr als vier Jahren zu erbauen. Dafür behält sie sich das Recht vor, eine Straßengebühr einzuheben und auf der ganzen Strecke nur die eigenen Tankstellen zuzulassen. Nach dreißig Jahren würde die Straße in den Besitz des Staates übergehen. Der Steuerzahler bliebe von neuen Lasten verschont, die Straßengebühr werde durch die Ersparnisse beim Benzinverbrauch, an Reifen- und Wagenabnützung mehr als wettgemacht, und das Benzin müßte er schließlich ohnedies kaufen. Dem Staate fiele aber, ohne daß er dafür einen Pfennig auszugeben brauche, ein einträgliches Unternehmen zu. Die Autobahn Turin—Mailand zum Beispiel, die ebenfalls von einer Privatgesellschaft gebaut worden ist, hat ihr Investierungskapital seit langem amortisiert, und die Aktionäre erfreuen sich eines sicheren jährlichen Gewinnes von sechs Prozent.

Der Vorschlag der Standard Oil zeigt, welche wirtschaftlichen Interessen mit dem „Romita-Plan“ in Bewegung geraten sind. Er hat auch ein wenig polemischen Beigeschmack, denn er steht in Konkurrenz mit einem anderen Projekt, das von den vier größten Wirtschaftsbetrieben Italiens gemeinsam ausgearbeitet wurde: die staatliche Petroleumgesellschaft AGIP, die Fiatwerke 4sie stellen mehr als 80 v. H. aller in Italien erzeugten Automobile her), die PirelK-werke — die praktisch das Monopol der Autoreifenerzeugung besitzen — und die Italcementi, Hauptproduzent von Baumaterialien, haben eine Gesellschaft unter dem Namen S. I. S. I. (Svi-luppo Iniziative Stradali Italiane) gegründet, die sich eben mit dem Bau der Verkehrsader Mailand—Neapel befaßte. Welche Interessen die genannten Betriebe an der motorischen Entwicklung Italiens haben, die mit der des Straßennetzes Hand in Hand geht, braucht nicht erst erläutert zu werden. Zum Unterschied von der Standard Oil verlangte die S. I. S'. I. jedoch einen staatlichen Zuschuß von 45 Prozent der Baukosten. Da das Gesetz jedoch eine Höchstbeteiligung von 40 v. H. gestattet, zerschlugen sich zunächst die Verhandlungen, und die Gesellschaft überließ .dem Staat das bereits ausgearbeitete Projekt, für das sie immerhin 100 Millionen Lire ausgegeben hatte. Der Staat hat nun Auftrag gegeben, den Plan weiterzuentwickeln und zu Studien fortzusetzen. Das Projekt S. I. S. I. inspiriert sich an den Charakteristiken der Autobahnen in Deutschland und in den USA. Es nimmt die Entwicklung des Automobilbaues in den nächsten Jahrzehnten vorweg, indem es höchste Durchschnittsgeschwindigkeiten zugrunde legt. Theoretisch sollte es möglich sein, die Strecke Mailand—Neapel in fünf Stunden und 32 Minuten zurückzulegen, die Hälfte der gegenwärtig von den schnellsten Zügen benötigten Zeit. Der Abschnitt Mailand—Bologna soll für eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 160 km, jener Bologna—Florenz für 100 km, Florenz—Rom für 130 und Rom—Neapel ebenfalls für 130 Stundenkilometer erbaut werden. Getrennte Fahrbahnen, Vermeidung von Steigungen über vier Prozent, Hecken gegen die Blendgefahr, Anpassung der Trassenführung an die Landschaft sind selbstverständlich. 100.000 Arbeiter würden durch drei Jahre und drei Monate beschäftigt werden können. Auch einen Namen hat die Autobahn Mailand—Neapel bereits erhalten: sie heißt „die Straße zur Sonne“.

Daß der Italiener seine Autobahn erhalten wird, steht außer Zweifel, einfach weil er sie haben muß. Zweifelhaft ist nur, wie lange er noch zu warten hat und wer die Kosten tragen wird, die gesamte Nation oder nur der Automobilist, da der Staat bereits jetzt 178 Milliarden Lire jährlich den Besitzern von Motorfahrzeugen unter verschiedenen Titeln an Steuern abknöpft. Anderseits ist der Standpunkt nicht unberechtigt, der die Autobahn wie eine, wenn auch unbewegliche Maschine betrachten will: wer sie benützt, hat eine Gebühr zu entrichten, ähnlich wie der Reisende im Fern-D-Zug einen Zuschlag zu bezahlen hat.

Zunächst ist eine andere Klärung nötig, die der Beziehungen zwischen staatlicher und privater Initiative, um welche die Polemik in vollem Gange ist, eine Klärung auch der Bedingungen, die ausländische Kapitalinvestierungen in Italien finden. Hier drohen alle Projekte in politisches Fahrwasser zu gleiten, dessen Untiefen so leicht zum Scheitern führen können.

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