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Eine Tür auf für Österreich!

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Jeden Herbst hält der britische Premierminister beim Bankett des neugewählten Lord- Mayors der City von London, der mit allen Ehren einer uralten politischen und gesellschaftlichen Tradition in sein Amt als Haupt der Weltstadt London cingeführt wird, eine Rede. Diese Rede gibt einen Ueberblick über die weltpolitischen Verhältnisse in der Sicht des Chefs der Regierung Ihrer Majestät der Königin der Vereinigten Königreiche, des Staatsoberhauptes des britischen Commonwealth, einer Union von Ländern, die immer noch die ganze Erde umspannt: von Kanada über die Bermuda-Inseln nach Hongkong, von den Einfallstoren Asiens über Südafrika nach Gibraltar, von da weiter zu den in Deutschland stationierten britischen Truppen. Der Bljck des britischen Löwen umfaßt notgedrungen die ganze Erde. Winston Churchill hat es mehrfach in seinem Leben verstanden, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Diese Rede am Ehrentag des Lord-Mayors von London wird deshalb seit Jahren viel beachtet: ‘wie ein Wetterbericht, wie ein Barometer zeigt sie das weltpolitische Klima an. Weit hinausblickend über die festliche Tafel, den Blumenschmuck und die Geschmeide der Damen der ersten englischen Gesellschaft, erklärte Churchill:. In der. Kriegstechnik sind in diesen allerletzten Jahren „Umwälzungen von apokalyptischem Ausmaße“ eingetreten. Es würde deshalb „gewiß niemandem schaden“, wenn Ost und West den Versuch unternähmen, in Frieden nebeneinander zu leben. Der britische Premier bekannte sich sodann zu einer gewissen Koexistenz zwischen Ost und West, worunter er aber sichtlich nicht die dauernde Verankerung der russischen Vorherrschaft über Mittel- und Osteuropa verstanden wissen wollte: „Nichts ist endgültig, die Veränderung hört nie auf.“ Grundpfeiler der britischen Politik, ja, der britischen Existenz, bleibe „die brüderliche Allianz mit den Vereinigten Staaten“.

Eine der angesehensten westdeutschen Tageszeitungen bemerkt zu der Debatte über den Tadelsantrag gegen Senator McCarthy im Senat der Vereinigten Staaten von Nordamerika: Der McCarthy-Rummel scheint zu Ende zu gehen. Die Massen des amerikanischen Volkes erwachen aus ihrer Angstpsychose. „So hat, wenn nicht alles täuscht, am Ende die robuste Gesundheit der amerikanischen Demokratie über die McCarthy- Infektion und über den Angstbazillus gesiegt.“

Der Europäer, der in diesen Tagen mit leichtem äußerem Gepäck, aber mit einem großen Pack Sorgen an das Tor von Washington klopfen wird, wird nicht mit dem höfischen Prunk, der soeben die Kalesche des Lord-Mayors durch die festlichen Straßen von London geleitete, empfangen werden. Er wird keine so großen Reden wie der Premierminister des Vereinigten Königreiches halten. Und es werden sich nicht einige hundert Zeitungen und Fernsehstationen um ihn bemühen wie um andere prominente Gäste aus Europa. Oesterreich kann es sich nicht leisten, die größte amerikanische Propagandaagentur für diesen einen Staatsbesuch in Dienst zu stellen, obwohl diese Sache einer Ueberlegung wert ist: diese großen Macher der Publicity, des Aufsehens und Ansehens in der öffentlichen Meinung in der Bevölkerung der Vereinigten Staaten pachten ja nicht nur die besten Schlagseiten und Schlagzeilen, sie stellen auch an Slogans, an Schlagworten bereit, was das amerikanische Publikum gerne hört.

Wir Oesterreicher wissen nun keineswegs, ob das Volk der Vereinigten Staaten von Nordamerika heute bereits im Angesicht der Freiheitsstatue hören will, was ein kleines Volk ihm zu sagen hat. Deshalb müssen wir mit unseren bescheidenen Mitteln versuchen, uns zu Gehör zu bringen.

Bundeskanzler Raab trifft in dem Moment in Amerika ein, in dem eine relative Entspannung zwischen Ost und West herrscht. Malenkow hat soeben im Kreml sehr freund- .liehe Worte an die Adresse des amerikanischen Volkes gerichtet, und Präsident Eisenhowcr, einigermaßen entlastet von dem Ueberdruck sehr rechtsstehender Parteifreunde, hat sich sehr ruhig und gemessen über den letzten Zwischenfall, den Abschuß eines amerikanischen Flugzeuges durch russische Jäger in der Nähe Japans, geäußert.

Oesterreich ist ein Gefangener des Ringens zwischen der Sowjetunion und den USA. S o sollte es nämlich gesehen werden. So liegen die Dinge -wirklich. Es tut nicht gut, von allen möglichen schönen Dingen zu sprechen, vom „Abendland“, von der „freien Welt“, diesseits des Eisernen Vorhanges natürlich, bevor nicht diese weniger schönen Dinge klar erkannt sind. „Sehen, urteilen, handeln“ — dieser Wahlspruch der katholischen Weltarbeitermission des Kanonikus Cardijn gilt gerade auch für die politische Situation eines kleinen Volkes inmitten der Kraftfelder der Weltmächte. „Oesterreich ist ein Gefangener der USA. Diese verhindern jede Eigenbewegung der österreichischen Regierung.“ — Wir haben oft und oft diese Worte gehört von den Lautsprechern des Ostens und von s.tillen, ruhigen Leuten im Westen. Wer so spricht, schadet Oesterreich — und sagt, was ebenso schlimm ist, nicht die Wahrheit. „Oesterreich ist ein Gefangener Rußlands. Die Sowjetunion hält Wien umklammert und unter ihrem harten Druck. Die Wiener Regierung am Ballhausplatz kann deshalb keine europäische Politik machen.“ Wir haben oft und oft diese Worte gehört von Lautsprechern im Westen, im nahen Westen. Wer so spricht, schadet Oesterreich, schadet Europa, schadet der ganzen freien Welt; und s a g t n i c h t d i e Wahrheit.

Oesterreich ist kein Gefangener der USA und ist kein Gefangener der Sowjetunion; wir sind aber Gefangene der Beziehungen zwischen diesen beiden Giganten. Eben deshalb müssen wir das scheinbar „Unmögliche“ versuchen, diese beiden Weltmächte an einen Tisch zu einer Uebereinkunft über Oesterreich zu bringen. Wobei wir, um die Schwierigkeiten des Bonner Bundeskanzlers Doktor Adenauer in Washington bei seinem letzten Besuch zu vermeiden — er hatte da von einem künftigen Uebereinkommen zwischen Ost und West gesprochen, in der Uebersetzung seiner Rede ins Amerikanische war aus dem „Uebereinkommen“ ein „V e r- trag", fast ein Bündnisvertrag ge-worden — um unsererseits dem Tadel zu entgehen, den die amerikanische Presse und gewisse Stellen des Außenamtes an diesem Worte übten, es uns angelegen sein lassen wollen, schlicht deutsch um eine endliche und endgültige Absprache zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion anzusuchen, Oesterreich so schnell wie möglich, zu einem festen Termin und zu erträg- IichenVertragsbedingungen, die Freiheit und Unabhängigkeit zu geben. Einen Vertrag ohne Fußangeln und Schlingen, eine Freiheit ohne eine Todesfälle.

Die Sowjetunion könnte heute zu einem solchen Vertrag bereit sein; ihre zusehends gebesserten Beziehungen zu Tito-Jugoslawien, zu Griechenland geben ihr die Gewähr, den für sie wichtigen Zugang zum Balkan nicht zu verlieren. Die Strategie des Atomzeitalters, die ja mehr und etwas anderes als eine sporadische Verwendung von Wasserstoffbomben ist, eine Strategie also, die erstmals so global ist, von Pol zu Pol, von Untersee zu Uebcr- see, wie das Raumschach, das an den hohen sowjetischen Militärakademien Pflichtfach ist — diese Strategie des Atomzeitalters, die mit Meerengen, Kontinenten, Weltmeeren und Polen rechnet, kann darauf verzichten, zweihundert Kilometer in einem vorgeschobenen Gebiet besetzt zu halten. Ihr genügen die tausend und aber tausend Quadratkilometer dahinter, die sie besetzt hält, und dazu die Lufträume über Europa, über einem beträchtlichen Teil der einen Erde. Volks-China hat 600 Millionen Menschen — 600 Millionen Verbündete stehen im Fernen Osten, nicht zu rechnen die 15 Millionen italienischer Kommunisten, die 10 Millionen französischer Kommunisten, und die wohlgeschulten Elitegruppen überall in Europa, in Westeuropa. Die Sowjetunion, die von ruhigen Rechenmeistern geführt wird, kann es sich leisten, auf ein kleines Land, auf 6 Millionen Menschen zu verzichten. Der Propagandaerfolg der sowjetischen Friedensoffensive würde ihr zudem in ganz Westeuropa, in beiden Amerika, diplomatische Erfolge einbringen, die ein sehr kleines, sehr bescheidenes Opfer in Oesterreich reichlich einbringen würde.

Eben hier ist der springende Punkt erreicht. Amerika glaubte, sich das kleine Opfer bis jetzt nicht leisten zu können. Amerika? Das amerikanische Volk? Dieses Volk weiß nicht viel von Oesterreich, obwohl an seinen vprnehmsten Flohen Schulen hochqualifizierte Oesterreicher sitzen, die in Princeton und Flarvard für die USA nicht nur die Elektronenrechenmaschinen erdacht haben, ohne die heute der Pentagon, der amerikanische Generalstab, nicht seine täglichen Arbeitsspiele durchführen könnte — das amerikanische Volk besitzt in weiten Kreisen eine gewisse Sympathie für „Austria“, ohne aber allzuviel von diesem Land und seiner weltgeschichtlichen Bedeutung von gestern und heute zu wissen. Amerikanische Staatsmänner, wie ein John Foster Dulles, haben in Wien studiert und nicht selten sehr freundliche und aufrichtig ‘wohlwollende Worte Oesterreich gewidmet. Dichter wie Thornton W’ilder sind erklärte Freunde Oesterreichs, und manch angesehener amerikanischer Intellektueller, ein Mann der Wissenschaft und der Forschung, hat das Wort unterstrichen, das vor wenigen Wochen ein hoher Beamter des englischen Außenamtes öffentlich in London sprach: Jeder gebildete Engländer wisse, was er der österreichischen Kultur zu danken habe. Trotz vieler Sympathiekundgebungen, trotz vieler, bisweilen ergreifender Beweise amerikanischer Hilfstätigkeit für Oesterreichs notleidende Bevölkerung nach dem ersten und zweiten Weltkrieg ist bis heute das Verständnis der führenden Politiker für Oesterreichs eigene Stellung in Europa gering geblieben. Das mag damit Zusammenhängen, daß die österreichischen Angelegenheiten zusammen in einem Ressort mit den deutschen behandelt werden, so daß es leicht verständlich ist, daß „Austria“ rein bürokratisch bereits zu einem Anhängsel von „Germany“ wurde. Als Anhängsel der „German Affairs“, der deutschen Angelegenheiten, kann aber Oesterreich überhaupt nicht verstanden werden. Wir hatten da in den letzten Jahren, rein bürokratisch bereits, oft das Spiel verloren, ehe es noch begann, ehe wir selbst gefragt wurden. Und wir wurden nicht sehr oft gefragt. Es ist kein Zufall, daß der amerikanische Botschafter in Oesterreich in der letzten Zeit neun Monate von Wien abwesend war — er war in London —, um über Triest zu beraten. Oesterreich hat weder in bezug auf Triest noch in bezug auf seine anderer, eigensten Interessen irgendeinen Nutzen von dieser freundlichen Abwesenheit gehabt.

Die Ursachen für dieses merkwürdige Desinteressement der Vereinigten Staaten an Oesterreich — wir werden drüben erst interessant, wenn ein kommunistischer Putschversuch gemacht wird oder wenn wir in anderen „größeren“ Zusammenhängen genannt werden — liegen natürlich tiefer. Wir sind drüben in einer falschen Schublade gelandet, weil die führenden Männer der amerikanischen Politik uns mindestens bereits seit Präsident Wilsons Zeiten dort abgelegt haben. Altösterreich, das war ja für den „Covenanter“ Wilson und für seine sektiererischen Ratgeber und Freunde ebenso wie die Reiche des Zaren und des Sultans ein „Völkerkerker“, aus dem, wie bereits im 19. Jahrhundert mehrfach gefordert worden war von politischen und religiösen Sektierern aller Art die „unterdrückten Völker“ zu „befreien“ waren, für „liberty“, „progress“ (wie „rückständig“ war doch dieses österreichische Empire!) und „democracy“. Führende Kreise in den USA haben in der Zwischenzeit einsehen gelernt, daß die von den Truppen des Generals Pershing mitbefreiten Völker Altösterreichs einem wenig glücklichen Geschick überantwortet wurden. Diese späte Einsicht ist vielen anderen inzwischen zugute gekommen, nur dem ersten Hauptleidtragenden nicht — Oesterreich selbst. Das hat wieder verschiedene Gründe. Der linksliberalen amerikanischen , Intelligenz, die unter Roosevelt in führende Staatsämter auf- stieg, war das Oesterreich am Vorabend der deutschen Besetzung zu „faschistisch“, wobei sie durch eine linksstehende Emigration aus Oesterreich lebhaft in ihren sehr einseitigen Ansichten bestärkt wurde (immer lag das schlechte Gewissen über die verfahrene amerikanische Europapolitik zwischen 1914 und 1939 zugrunde). Fiel diese linksstehende amerikanische Bürokratie und Clique einflußreicher Leute den Kommunisten hinein, so beeilte sich eine weit rechtsstehende amerikanische Bürokratie, die seit zwei Jahren sie ablöste, in die weit geöffneten Arme europäischer Rechtsradikaler hineinzuplumpsen. Diese Nachfolger der amerikanischen Satelliten des Kremls und der kommunistenfreundlichen Fellow-traveller vermochten und vermögen in keiner Weise zu begreifen, daß man (wie alle aufrechten Oesterreicher) weder Hitler noch Stalin hineingefallen ist, und alles tut, um weder der linksradikalen noch der rechtsradikalen Internationale zu erliegen. „Da stimmt doch etwas nicht“: Mit der für amerikanische Mentalität charakteristischen Neigung, die Dinge übereinfach zu sehen, sie zu vereinfachen bis aufs äußerste, entschlossen sich diese Rechtskreise, jenen Berichterstattern und Geldempfängern das Gehör zu schenken, „die offensichtlich einmal gefehlt haben — wenn man diese Jugendsünde des Nazismus überhaupt einen Fehltritt nennen darf — schließlich hatten diese Leute doch ganz recht mit ihrem, Kampf gegen den Bolschewismus “ Das Nachsehen hatte damals wie heute Oesterreich. Ein Land, ein Volk, das sich nur geschichtlich als ein Zusammenspiel äußerster Gegensätze begreifen läßt, dessen Politik deshalb immer wie die englische Weltpolitik war und darauf abgestimmt sein mußte, „fortzuwursteln“, das heißt, unüberbrückbare Gegensätze dennoch auszutragen in einem langen Leben vieler Geschlechter und Generationen. Eine solche „coincidentia oppositorum“, diese österreichische Vereinigung von „Widersprüchen und Gegensätzen“, muß dem amerikanischen Normalbewußtsein ebenso fremd erscheinen wie die concordantia catholica, wie die große katholische Konkordanz der sehr verschiedenen Menschen, Völker, Zeitalter. Was aber unverständlich ist, was sich nicht einfach begreifen läßt, wird abgelegt, eben in eine Schublade, zu anderen, leichter verständlichen Dingen.

Diese für uns schreckliche Vereinfachung ist die letzte Ursache des amerikanischen Miß verständnisses Oesterreichs, seiner Wege in der Vergangenheit. Und nicht zuletzt seiner heutigen Regierungspolitik. „Wie kann nur Bundeskanzler Raab mit den Russen verhandeln?“ Der wohlerzogene Herr aus Boston zieht nur leicht die Brauen hoch Er kennt nur das „End- weder-Oder“ seiner eigenen Ideologie. Daß das Leben, daß jedes geschichtliche Leben aus der Vereinbarung des Unvereinbaren besteht, aus einem schmerz- und leidvollen Austragen vieler Gegensätze, auf dem eigenen Rücken und unter dem eigenen Herzen, wie bei jeder Mutter, das versteht der Durchschnittsamerikaner nicht.

Bundeskanzler Raab kommt nicht als Bettler nach Amerika. Es irren auch, zu ihrem eigenen Schaden, jene amerikanischen Kreise, die meinen: er käme als Bittsteller. Der Chef der österreichischen Regierung hat das Recht und die Pflicht, den heute führenden Politikern der Vereinigten Staaten von Amerika die Leistung Oesterreichs vorzustellen. Deshalb kommt er. Der Pressechef der Bonner Regierung, Herr von Eckhardt, der, wie man hört, als Botschafter nach Paris gehen wird, hat vom „österreichischen Wunder“ gesprochen und gemeint, die Leistung der österreichischen Wirtschaft, das österreichische Sozialprodukt sei in jeder Hinsicht gleichwertig dem vielbesprochenen deutschen Wirtschaftswunder. Wir sind über diese Anerkennung aufrichtig erfieut, wenngleich in unserer Volkssprache das Wort „Wunder“ für wirtschaftliche und technische Leistungen nicht gebräuchlich ist.

Was aber wirklich eine einzigartige und auf der ganzen Welt einzig dastehende Leistung Oesterreichs ist, davon ist jetzt zu sprechen, gerade vor der amerikanischen Weltöffentlichkeit: Das österreichische

Volk, das durch die Mitschuld sämtlicher Westmächte seit dem Ende des ersten Weltkrieges zerschlagen und isoliert und oftmals Im Stich gelassen, in entscheidenden Situationen seine Funktion nie vergessen hat, im Zentrum Europas die Menschenrechte zu bewahren und für alle Völker, die hier beheimatet sind, dieses österreichische Volk hat in einer weltpolitischen Gefahrenzone allerersten Ranges — der Raum zwischen Balkan, Adria, Zugang zum Rhein und Mitteldeutschland ist mindestens ebenso wichtig wie der Raum Koreas — durch seine Besonnenheit, Ruhe und Standhaftigkeit der ganzen freien Welt einen Dienst erwiesen, der noch nicht überall verstanden wird. Während die freie Welt in Angst und Furcht ächzte, sich in Untergangspsychosen wand zwischen Paris und Los Angeles, hat dieses Volk von Oesterreich, ein Volk kleiner Leute, der freien Welt die Chance gezeigt, durchzukommen: keine Angst zu haben, im Angesicht des Ostens. Vieles zu ertragen, viel Leid, manches Böse. Und nicht den Mut zu verlieren und nicht die FIofFnung, wenn auch enttäuscht von manchen Freunden. Die Stunde ist da für eine Begegnung Oesterreichs mit den verantwortlichen Staatsmännern des Westens. Sie kann nur stehen im Lichte der Freiheitsstatue. Die ganze freie Welt wird mit Oesterreich gewinnen, wenn sie sich nunmehr ernstlich entschließt, diesem Lande die Freiheit und Unabhängigkeit erringen zu helfen und, gemeinsam mit der Sowjetunion, das Versprechen einzulösen, das die USA und die UdSSR 1943 mit ihrer Unterschrift besiegelten.

Oesterreich muß heute entschieden darauf hinweisen, daß es nicht einfach nur ein Anhängsel an Deutschland ist. Als solches behandeln es aber offensichtlich einige amerikanische Politiker, die Oesterreichs Schlüsselstellung zwischen Mittel- und Osteuropa nicht kennen und deshalb auch nicht anerkennen; diese wollen über Oesterreich erst sprechen, wenn die deutsche Frage bereinigt ist. Wobei sich in den Couloirs der westlichen Welt herumspricht, daß Oesterreich eventuell als Abschlagszahlung an Deutschland, als Entgelt für die Saar und andere kommende Zugeständnisse bereitgehalten werde. Wir wollen das nicht glauben, erinnern aber unsere westlichen Freunde an den gefährlichen Irrtum der englischen konservativen Regierung von 1938, die Hitler Oesterreich überließ, um ihn damit abzuspeisen. — Im Lichte der Freiheitsstatue wird sich also Oesterreich Klarheit darüber holen müssen, ob wir von amerikanischer Seite als ein eigenständiges Objekt gewertet werden können oder ob diese Aussicht nicht besteht.

Die publizistische Vernebelung der internationalen Situation hat gegenwärtig einen Höhepunkt erreicht. Das zeigt die „Debatte“, wenn man es so nennen darf, um die sowjetische Einladung an 23 europäische Staaten zu einer Sicherheitskonferenz am 29. November in Paris. Ein in der antisowjetischen Polemik führendes Blatt bringt es fertig, auf ein und derselben Titelseite diese Note als „neuen Sowjetbluff“ zu „charakterisieren“ und gleichzeitig festzustellen: „Der Ton des Dokuments ist sachlich, höflich und von einer Art, die allen Möglichkeiten offensteht.“ Hier wird sichtbar, was oft vertuscht wird: der Schwall gelenkter Phrasen und Polemiken steht direkt neben einem Versuch, sachlich sich auseinanderzusetzen. Die Zeit für eine sachliche Auseinandersetzung mit den Sowjets ist heute gekommen. Gerade wenn man, wie führende amerikanische Kreise, auf dem Standpunkt steht, daß die Pariser Verträge zuerst unter Dach und Fach gebracht werden müssen, bevor Absprachen mit der Sowjetunion beginnen können, sollte man doch heute schon alles tun, um durch eigene sachliche Argumentation diese vorzubereiten. Für Oesterreich sind aber die rhetorischen Eskapaden, die den Teufel an die Wand malen, um durch eine Nebelwand von Angst zu verschleiern, daß man nicht gewillt ist, Oesterreich als einen Fall für sich zu behandeln, gefährlich.

Kanzler Raab fährt nach Washington. Oesterreich erhofft von diesem Besuch Aufklärung über seine Einschätzung von seiten der USA. Wir dürfen nicht ablassen, das amerikanische Volk aufzuklären über Oesterreichs Schlüsselstellung in Südosteuropa. Amerika hat 1918 sehr viel verloren durch seine Unkenntnis über diesen Raum. Die USA haben es heute nicht nötig, diesen Fehler zu wiederholen.

Oesterreich wartet auf die Botschaft seines Kanzlers nach seinem Besuche in Washington.

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